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Matthias Lemke: Ausnahmezustände in der V. Französischen Republik. Über die politische Plausibilisierung der Normsuspendierung

21.03.2017
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PD Dr. phil. Matthias Lemke

„Wir wissen um den Wert von Verfassungen! In den letzten einhundertfünfzig Jahren haben wir uns siebzehn davon gegeben. Doch die Natur der Dinge ist stärker als von Politikern erlassene Verfassungstexte.“ Charles de Gaulle1


1. Ausnahmezustand und Rechtsnormen
[...]
Der französische Versuch der Einschreibung des Unbestimmten in das Prinzip des rule of law der Republik hat sich in drei2 nationalen Rechtsnormen3 niedergeschlagen (vgl. Assemblée Nationale 2015; Mbongo 2017). Dieses Ensemble liefert die verfahrenspraktische Grundlage für die Normsuspendierung durch die Exekutive. Für die Anwendung des Ausnahmezustandes sind die Artikel 16 und 36 der Verfassung vom 4.10.1958 und jene des Durchführungsgesetz No55-385 (3) vom 3.4.1955 einschlägig.
(1) Wenn sich die politische Ordnung derart massiv herausgefordert sieht, wie das im Übergang von der IV. zur V. Republik im Hinblick auf den Algerienkrieg der Fall war, dann verwundert die weitreichende Auslegung des État d’urgence in der Verfassung der V. Republik vom 4.10.1958 nicht.4 Hinsichtlich des im Krisenfall „zu mobilisierenden juristischen Arsenals“ (Houillon 2005: 12) heißt es in Artikel 16:

„(1) Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Territoriums oder die Durchsetzung ihrer internationalen Interessen plötzlich und schwerwiegend bedroht sind und die reguläre Funktion der verfassungsmäßigen öffentlichen Institutionen unterbrochen ist, ergreift der Präsident der Republik, nach erfolgter offizieller Absprache mit dem Premierminister, mit den Präsidenten des Parlaments und mit dem Verfassungsgerichtshof, die angesichts der Umstände erforderlichen Maßnahmen. [...]
(3) Diese Maßnahmen müssen von dem Willen getragen sein, den verfassungsmäßigen öffentlichen Institutionen innerhalb kürzester Zeit die Mittel für die Erfüllung ihrer Aufgaben zu sichern. [...].“ (Constitution de la République Française du 4 octobre 1958, Art. 165 )

Dieser Versuch einer législation d’exception (François Saint-Bonnet), die auf ein mögliches Versagen des institutionellen Gefüges der Republik reagieren soll und von ihrer Anlage Ähnlichkeit mit den Regelungen von Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung aufweist (vgl. Le Sénat 2006: 11, Fn.1), ist aus demokratisch-normativer Perspektive in zweierlei Hinsicht problematisch. Auch wenn der Gesetzgeber bemüht war, die Anwendung von Praktiken der Normsuspendierung in Regeln zu fassen, so geschieht das mit einem Vokabular, das hinsichtlich seiner Schlüsselbegriffe (Bedrohung, erforderliche Maßnahmen etc.) interpretationsbedürftig bleibt. Angesichts der infrage stehenden Rechtsgüter – die demokratisch-republikanische Staatsform sowie die jederzeitige Garantie personenbezogener Grund- und Freiheitsrechte – scheint eine so weitläufige, situative Deutungsmacht in den Händen einer letztlich parteipolitisch legitimierten Autorität fragwürdig.6 Dem entgegen steht die Schwierigkeit, das Auftreten einer politisch relevanten Krise in allen ihren Erscheinungsformen a priori definieren zu können, was eine gewisse Offenheit der Definition unumgänglich macht. Wenn der Exekutive mit jenem „mysteriösen und zweifelhaften [...] obskuren und beunruhigenden“ (Voisset 1969: 1) Instrument des État d’urgence angesichts qualitativ nicht näher spezifizierter „Bedrohungen“ möglichst weitreichende Reaktions- und Gestaltungsspielräume eröffnet werden7 , so die implizite Verfahrenslogik des Artikel 16 der Verfassung vom 4.10.1958, dann vergrößert sich damit auch die tatsächliche Chance der Exekutive zur erfolgreichen Aufrechterhaltung der Systemintegrität nach der Überwindung des Krisenfalls. Die Maximierung der Exekutivkapazität in der Spitze der Exekutive ist das Kernanliegen dieses präsidialen Machtvorbehalts.

(2) Ferner sind die Bestimmungen des Artikels 36 einschlägig. Die durch ihn ermöglichten, außerordentlichen Exekutivreaktionen haben eine gänzlich andere Ausrichtung, als jene in Artikel 16. Ihre Anwendung bezieht sich auf Gefährdungen, die aus einem militärischen Angriff von außen oder aber aus einer bewaffneten Erhebung im Inneren resultieren:

„Der Belagerungszustand, vorgesehen von Artikel 36 der Verfassung und im Falle einer ‚unmittelbaren Bedrohungslage, die aus einem äußeren Krieg oder aus einem bewaffneten Aufstand resultiert‘, anzuwenden, zeichnet sich insbesondere durch eine Übertragung von Polizeikompetenzen an das Militär aus. Er wird vom Ministerrat angeordnet, aber seine Verlängerung über eine Dauer von zwölf Tagen hinaus bedarf der Autorisierung durch das Parlament.“ (Le Sénat 2006: 5)

Der auf die historische Situation des Belagerungszustandes zurückreichende État de siège spiegelt die Erfahrung der existenziellen Bedrohung einer belagerten Stadt durch eine äußere militärische Streitmacht wider (vgl. Rossiter 1948: 79–129). Gegen diese Bedrohung galt es die Stadt militärisch zu verteidigen. Im Zuge der Französischen Revolution wurde der Begriff insofern ausgeweitet, als er von einem rein militärischen zu einem politischen Begriff avancierte. Der État de siège bezog sich fortan nicht mehr auf die durch Maßnahmen von außen induzierte existenzielle Bedrohung, sondern auch auf Bedrohungen aus dem Inneren:

„This expansion of the notion of state of siege created the dichotomy between état de siège réel (state of siege in its original sense) and the état de siège fictif (›constructive‹ state of siege).” (Aoláin/Gross 2006: 27)

Der État de siège fictif wurde somit zu einem Rechtsinstrument, das ex ante Maßnahmen zur Krisenreaktion umfasste. Sie wären bei tatsächlichem Eintreten einer existenziellen Bedrohung der Verfassungsordnung mit dem Ziel zu ergreifen, die Gefahr abzuwenden oder die Krise zu beenden und die Geltung der Verfassungsordnung aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen. Der État de siège fictif ist somit eine erste „legal crisis institution“ (ebd.) und damit ein die Exekutive juristisch bindender, historischer Vorläufer des État d’urgence:

„The vital point is that the state of siege is not a condition in which law is temporarily abrogated, and the arbitrary fiat of a ›commander‹ takes its place. It is emphatically a legal institution, expressly authorized by the constitutions and the various bills of rights that succeeded each other in France, and organized under this authority by a specific statute.” (Radin 1942: 634, 637)

Insofern es im Kern um die Übertragung staatlicher Regelungs- und Entscheidungsbefugnisse von der zivilen an die militärische Autorität geht, liegt eine Aufwertung militärischer Befugnisse im Rahmen nationaler Krisenreaktion vor, der beide Artikel der Verfassung substanziell voneinander unterscheidet.

(3) Das Gesetz No 55-385 vom 3.4.19558 ist ein Durchführungsgesetz zum Ausnahmezustand, das im Zuge des Algerienkrieges (1954–62) entstanden ist, der die Entlassung Algeriens aus der kolonialen Abhängigkeit und die politische Erosion der IV. Republik zur Folge hatte. Das aus 17 Artikeln in zwei Kapiteln bestehende Gesetz regelt die konkrete Anwendung des Ausnahmezustandes und die entsprechenden administrativen beziehungsweise exekutiven Zuständigkeiten. Es legt den territorialen9 und temporalen10 Geltungsbereich des État d’urgence fest, es bestimmt, wer über seine Ausrufung entscheidet11 und formuliert – allerdings erst seit den Anschlägen vom 13.11.2015 – eine Informationspflicht der Exekutive gegenüber beiden Kammern des Parlaments12 . Neben diesen grundlegenden Rahmenbestimmungen definiert es die konkreten Befugnisse der Behörden für den Zeitraum der Geltung des Ausnahmezustandes. [...]

Die drei vorstehend erläuterten rechtlichen Bestimmungen zum État d’urgence schaffen einen situationsaffinen Möglichkeitsraum, der die gesteigerte Bereitschaft zur Überschreitung demokratischer Normen, die Cindy Skatch (2005) für den französischen Semipräsidentialismus diagnostiziert hat, rechtlich kodifiziert. Die Exekutive kann auf ihrer Grundlage und im Dienste der Sicherheit Ausgangssperren verhängen, Hausdurchsuchungen anordnen und den Einsatz des Militärs im Inneren veranlassen, ohne dass es für diese Einzelmaßnahmen noch inhaltlicher Begründungen, wie etwa den Nachweis des Erfolgs der jeweiligen Maßnahmen, bedarf (vgl. Agamben 201413 ). Die Summe der rechtlichen Instrumente eröffnet eine Arena reaktiver Eskalation. Trotz aller Versuche ihrer konstitutionellen Kodifizierung ist die Regierung dabei weder rechtlich noch politisch einzuhegen. Ideengeschichtlich hat die starke Exekutive im Sinne der „Diktatur als heroischem Regime der Krise“ (Barthélemy 1931: 111) bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unhinterfragt überdauert – bis heute.


2. Ausnahmezustände und Dekolonisierung

Dieser signifikanten Konzentration von Deutungs- und Handlungsmacht der Exekutive im Krisenfall stehen in der Zeit der späten IV. und der V. Republik eine ganze Reihe von Anwendungen gegenüber. Insgesamt geht es um drei Kontexte:

Tabelle: Ausnahmezustände in der V. Republik (1)

Kontext Zeitraum Gesetzesgrundlage, Geltungsbereich
(geografisch)
Algerien/Algerienkrieg 3.4.1955–1.12.1955*
17.5.1958–1.6.1958*
Loi No 55-385, Algerien
Loi No55-385, Algerien, Frankreich
Unabhängigeits-bestrebungen 12.1.1985–30.6.1985


29.10.1986


24.10.1987
Loi No 55-385, Loi No85-96, Neukaledonien

Loi No 55-385, nicht verlängert, Wallis und Futuna

Loi No 55-385, nicht verlängert, Französisch Polynesien (Gesellschaftsinseln)
Vorstadtunruhen 8.11.2005–4.1.2006 Loi No 55-385, Gebiete in städtischen Ballungsräumen entsprechend des Dekrets No 2005-1387


Eigene Zusammenstellung nach Mbongo (2017) und Assemblée Nationale (2015); * = IV. Republik

Dass es sich bei den Anwendungsfällen um nationale Krisensituationen handelte, ist unbestritten. Die Plausibilisierungen von Ausnahmezuständen, wie sie in Frankreich nach 1955/58 bis 2015 zur Anwendung gekommen sind, stehen in unmittelbarem beziehungsweise mittelbarem Zusammenhang mit seiner kolonialen Vergangenheit.
[...]


3. Ausnahmezustand und Terrorismus

Die folgende Analyse der Plausibilisierung des Ausnahmezustands, wie er nach den Attentaten des 13.11.2015 im Eilverfahren durch den parlamentarischen Prozess geschleust worden ist, soll nicht nur aufzeigen, inwieweit bestimmte Sprachmuster zur Plausibilisierung herangezogen worden sind. Darüber hinaus kann sie veranschaulichen, wie die Spitzen der Exekutive in ihren Plausibilisierungsversuchen am 16. und 19.11.201514 auf zumindest ein gänzlich neues Sprachmuster zurückgegriffen haben, das im Zusammenhang mit Dekolonisierungsprozessen nicht zu beobachten gewesen ist. Seine Verwendung rechtfertigt es, die gegenwärtige, seit November 2015 andauernde Lage als qualitativ neue Erscheinung im Kontext der Legitimierung erweiterter Exekutivkompetenzen zu bezeichnen.

Tabelle: Ausnahmezustände in der V. Republik (2)

Kontext (Erst-) Ausrufung Gesetzesgrundlage, Geltungsbereich
(geografisch)
Anschläge vom 13.11.2015 (Paris und Saint-Denis) und 14.7.2016 (Nizza) 14.11.2015 Loi No 55-385, Frankreich (Festland) und Korsika, sowie: Guadeloupe, Guyana, Martinique, La Réunion, Mayotte, Saint-Barthélémy, Saint-Martin



Eigene Zusammenstellung nach Mbongo (2017) und Assemblée Nationale (2015)

 

3.1 François Hollande vor dem Congrès

Rahmen und Ort der Rede Hollandes am 16.11.2015 zeugen von mehr als nur symbolischer Entschlossenheit: Wenn der französische Congrès, der beide Kammern des Parlaments, die Assemblée Nationale und den Sénat, umfasst, im Schloss von Versailles zusammenkommt, dann ist das ein seltenes Ereignis aus besonderem Anlass. Die Besonderheit hatte Hollande selbst noch vor Beginn seiner Rede auf eine prägnante Formel verdichtet. [...] „Frankreich“, so der erste Satz der Rede, „befindet sich im Krieg“ (Hollande 2015c). Diese ungemein starke Formulierung zur Beschreibung der Situation nach den Anschlägen – Frankreich, angegriffen, durch eine „neue Qualität des Terrorismus“ (ebd.) von seinen „Feinden“15 (ebd.) überrascht, zur Reaktion aus der Defensive heraus genötigt – setzt den Standard für alle weiteren, bloß noch konsekutiven Plausibilisierungen. Der diskursive Möglichkeitsraum des Politischen wird eingeschränkt, Zustimmung zu den Maßnahmen der Exekutive ist obligatorisch.

Wie stark die von Hollande gewählte und von Manuel Valls später aufgegriffene Formulierung ist, lässt sich anhand der beiden erstgenannten Plausibilisierungsmuster – Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit und Freund-Feind-Unterscheidung – illustrieren. Beide sind, wenn, dann nur analytisch, nicht aber hinsichtlich des Bildes, das sie zur Handlungsermöglichung entwerfen, zu trennen. Die Aussage „Frankreich befindet sich im Krieg“ (ebd.) impliziert eine Binnenintegration der Gesamtheit der französischen Nation16 , dem „Land der Freiheit“ (ebd.), als Angegriffene und als die Äußerlichkeit des Angreifers betonende Zuschreibung gleichermaßen. Angesichts einer französischen Nation, die als Werteverbund zum kollektiven Opfer geworden ist,17 entwirft Hollande ein Täterbild von „feigen Mördern“ (ebd.) beziehungsweise von „Barbaren“ (ebd.), das die Frage nach der Anerkennung des anderen als legitimem Kombattanten gar nicht erst aufkommen lässt. Nach der konkreten Zuschreibung einer Gruppenverantwortung an den sogenannten Islamischen Staat – „eine djihadistische Armee, die Gruppe Daesch18, die uns bekämpft [...]“ (ebd.) – folgen zahlreiche, mitunter auch nur implizite Attribuierungen, deren gegenteilige Assoziationen und Entsprechungen die „Terroristen“ (ebd.) qualifizieren. Frankreich ist Freiheit, Demokratie, Republik, es „liebt das Leben, die Kultur, den Sport, das Feiern“ (ebd.), ohne dabei nach Hautfarbe, Herkunft, Bildungsgrad oder religiöser Zugehörigkeit zu unterscheiden. Alle diese Eigenschaften machen die französische Nation in ihrer Gesamtheit aus – und für die Terroristen hassenswert.19 Die Terroristen, auch wenn sie zu Teilen aus Frankreich stammen sollten und damit eigentlich über die Staatsbürgerschaft Anteil an der französischen Nation haben20, repräsentieren das andere, die völlige Negation der vorstehenden Eigenschaften, Werte, Institutionen. Damit ist die Konfliktstellung keinesfalls auf Frankreich beschränkt, sie ist global21: auf der einen Seite die französische Nation und alle, die deren Werte teilen; auf der anderen die Terroristen. Das, worum es in diesem Konflikt geht, ist die existenziell gemeinte Durchsetzung eines Lebensstils gegen einen anderen. Erfolg tritt in dieser Logik genau dann ein, wenn die eine Seite den Lebensstil der anderen vernichtet hat. Und Hollande macht sich diese Logik, die ja eigentlich den radikalen islamistischen Djihadismus ausmacht, gleichsam mit zu eigen, wenn er ebenfalls kompromisslos fordert: „Wir werden den Terrorismus auslöschen.“ (ebd.). Die Plausibilisierungsstrategie der Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit mündet damit in eine globale Dimension, die durch die Freund-Feind-Unterscheidung zudem existenziell aufgeladen wird. Radikaler lässt sich eine Konfliktstellung nicht formulieren, denn sie lässt keinen Raum mehr für eine weitere, über diese Zuspitzung hinausreichende Eskalation.

Auch die Plausibilisierungsstrategie des Effizienzgebotes wird in der Rede deutlich bedient:
„Angesichts der kriegerischen Handlungen, die auf unserem Territorium ausgeübt worden sind – und die sich an die Attentate des 7., 8. und 9. Januar und an so viele andere, im Laufe der vergangenen Jahre im Namen einer und derselben djihadistischen Ideologie begangenen Verbrechen anschließen – müssen wir erbarmungslos reagieren.“ (ebd.)

In seiner Erklärung am Abend der Attentate hatte Hollande noch etwas zurückhaltender geklungen: „Im Angesicht des Terrors muss Frankreich stark sein; es muss groß sein und die staatlichen Autoritäten entschlossen. Das werden wir sein.“ (ebd.). Die rhetorische Zielperspektive bleibt jedoch unverändert: Unter Verweis auf vorgängige Anschläge und Verbrechen22, in deren Ablauf er die Ereignisse des 13.11.2015 einordnet, sodass diese – obschon es sich um grundsätzlich distinkte Akte handelt – wie eine Art maximale Eskalation in einer langen Reihe terroristischer Aktivitäten auf französischem Boden erscheinen, ist die Forderung nach einem harten, effizienten Durchgreifen der Exekutive selbstevident. Frankreich müsse „seine Kräfte mobilisieren“ (ebd.), denn nur hartes, effizientes Durchgreifen, ebenso erbarmungsloses wie entschlossenes Handeln, ohne Rücksicht, ohne Umkehr, ohne Gnade führt zum Erfolg.
[...]
Angesichts dieser Plausibilisierungsstrategie erscheint die Verhängung des Ausnahmezustandes als ebenso folgerichtige wie nicht hinterfragbare Maßnahme, ganz so, wie sie von Hollande bereits in der Nacht vom 13. auf den 14.11.2015 verkündet worden war:
„[...] der Ausnahmezustand wird angeordnet, was bedeutet, dass der Zugang zu bestimmten Orten unterbunden wird; der öffentliche Verkehr kann verboten werden; und es werden zudem Hausdurchsuchungen stattfinden, was den gesamten Pariser Großraum [Île-de-France] betrifft. Der Ausnahmezustand wird für das gesamte Staatsgebiet ausgerufen.“ (ebd.)

Die Sprachmuster zur Plausibilisierung der Notwendigkeit des Ausnahmezustandes erweisen sich – das mag ein erster Befund hinsichtlich der Charakteristik der Rede Hollandes sein – als sehr verdichtet und überaus stark ineinander verschränkt: Weder sind die Situation der Äußerlichkeit und die Freund-Feind-Unterscheidung noch das Effizienzgebot und die Notwendigkeit auch nur ansatzweise voneinander zu trennen. Dichte und Verschränkung der Sprachmuster in der Choreographie der Rede zeigen deutlich, wie sehr sich die Exekutive um die Darstellung entschlossenen, zielgerichteten und letztlich erfolgreichen Handelns bemüht. Bis hierhin bedient die Rede damit alle für die Plausibilisierung von Ausnahmezuständen in repräsentativen Demokratien typischerweise festzustellenden Muster, auch wenn die Akzentuierung – mit Hinblick auf die Ausführlichkeit, die Deutlichkeit und die Positionierung in der Rede – auf dem Paar der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung liegt.

Zudem enthält sie etwas Neues. Denn mit der vorstehend konzedierten Akzentuierung einher geht eine kaum merkliche, dafür aber politisch umso wirkungsmächtigere Verschiebung des Fokus der öffentlichen Debatte: Das ‚Was‘ – nämlich die Bekämpfung der Gruppe Daesch – steht außer Frage. Es geht einzig noch um das ‚Wie‘ – und insbesondere um dessen möglichst optimale Ausgestaltung. Hollande kündigte hierzu einen Gesetzentwurf an, der dieses ‚Wie‘ weiter spezifizieren und das Arsenal der im Ausnahmezustand anwendbaren Maßnahmen signifikant erweitern würde:

„Ich habe entschieden, dass das Parlament ab Mittwoch [18.11.2015] mit einem Gesetzentwurf befasst werden wird, der den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern und seinen Inhalt an die technologischen Entwicklungen sowie die der aktuellen Bedrohungslage anpassen wird.“ (Hollande 2015c23)

Denn aktuell verfüge Frankreich zwar über einschlägige Regime zur rechts- und grundrechtskonformen Reaktion auf manifeste Krisensituationen. Beide jedoch würden jeweils spezifische Unzulänglichkeiten aufweisen:

„Das erste Regime besteht im Rückgriff auf Artikel 16 der Verfassung. Es setzt voraus, dass der Normalvollzug der öffentlichen Gewalten nicht mehr gewährleistet ist. Der Präsident der Republik ergreift daraufhin die notwendigen Maßnahmen und darf dabei von der Verteilung der verfassungsmäßigen Kompetenzen abweichen. Und dann gibt es den Artikel 36 der Verfassung, der den Belagerungszustand regelt. Auch er taugt nicht für die aktuelle Situation. Der Belagerungszustand wird im Falle unmittelbarer Bedrohung in Folge eines Staatenkrieges oder eines bewaffneten Aufstandes verhängt. In diesem Falle werden verschiedene Kompetenzen von der zivilen an die militärische Administration übertragen.“ (ebd.)

Beide Regime, so das Urteil Hollandes, träfen, wie jeder zweifelsohne zugestehen müsse, auf die gegenwärtige Situation nicht zu. Folglich delegiert er an seinen Premierminister die Aufgabe der legislativen Umsetzung erforderlicher Anpassungen der bestehenden rechtlichen Instrumente zur Krisenintervention im Ausnahmezustand.


3.2 Manuel Valls vor der Assemblée Nationale

Das zentrale Anliegen, das Manuel Valls drei Tage nach dem Auftritt Hollandes am 19.11.2015 verfolgt, besteht dementsprechend nicht primär darin, Zustimmung für die ohnehin unstrittige, von der Exekutive vorgegebene Marschroute zu generieren. Dass zwischen seine und die Position des Präsidenten nicht einmal das sprichwörtliche Blatt Papier passt, macht schon die drastische Wortwahl deutlich, mit der er Verlauf und Folgen der Attentate beschreibt: „Einhundertneunundzwanzig Menschenleben24 wurden ausradiert, ohne jedes Mitleid.“ (Valls 2015). Noch viel wichtiger als die Herstellung und Festigung der ohnehin gegebenen nationalen Einheit ist hingegen – entsprechend des präsidialen Auftrages – die Schaffung einer für das Exekutivhandeln möglichst optimalen gesetzlichen Ausgangslage. Dementsprechend lautet die zentrale Aussage in der Rede von Manuel Valls vor der Assemblée Nationale:

„Meine Damen und Herren Abgeordneten, weil die terroristische Bedrohung da ist, weil unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns verlangen, alles zu unternehmen, um sie zu schützen, weil wir unser Handeln effizient weiterführen müssen, deswegen muss der Ausnahmezustand für das gesamte Territorium [...] verlängert werden. Die Dauer, die Ihnen zur Entscheidung vorliegt, beläuft sich auf drei Monate. Sie wird es erlauben, die Ausschaltung und Zerstörung der Terrornetzwerke zu beschleunigen, ganz im Zeichen des Respekts für die juristische Aufarbeitung, die auf mittlere und lange Sicht die einzige Antwort sein kann, um diese Netzwerke zu neutralisieren. Die Verlängerung des Ausnahmezustandes muss einhergehen mit einer Modernisierung der durch das Gesetz von 1955 bereitgestellten Möglichkeiten, denn als dieses verabschiedet wurde, war der Kontext gänzlich anders. Das Gesetz von 1955 wurde für die Bewältigung ziviler Unruhen geschaffen und nicht, um dem Terror des 21. Jahrhunderts die Stirn zu bieten! Es sieht sich nun mit einem rechtlichen wie auch technologischen Umfeld konfrontiert, das mit jenem seiner Entstehungszeit nichts mehr zu tun hat: Die Terroristen wissen das sehr wohl.“ (ebd.)

Die für Valls durch den „totalitären“ (ebd.) Terrorismus massiv veränderten Umfeldbedingungen machen für ein effektives Krisenmanagements die Modernisierung des Gesetzes unumgänglich. Das forderten schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger: „Sie erwarten von uns allen harte, schnelle und effektive Antworten.“ (ebd.). Und er lässt keinen Zweifel daran, dass sie diese harten, schnellen und effektiven Reaktionen von Exekutive und Legislative auch geliefert bekommen werden: „Frankreich kämpft“ (ebd.), aber es kämpft, vereint, entschlossen, auf dem Boden des Rechts. Das Recht zum Ausnahmezustand selbst wird so zur Waffe.25 Es muss dementsprechend, wenn es in diesem „neuen terroristischen Krieg“ (ebd.) effektiv funktionieren und entscheidend dazu beitragen soll, dass Frankreich die Herausforderung übersteht, angepasst – um nicht zu sagen: verschärft – werden. Die im Schnellverfahren behandelte Modifikation des Gesetzes No55-385 unter dem Titel Projet de Loi, prorogeant l’application de la loi No55-385 du 3 avril 1955 relative à l’état d’urgence et renforçant l’efficacité de ses dispositions26 enthält drei Kernelemente, die zusammen die „schnelle und starke“ (ebd.) Reaktion ermöglichen, die jetzt erforderlich sei:

(1) Tatbestandserweiterung: Die bisherige Formulierung des Anwendungsbereiches, wonach sich Maßnahmen lediglich auf „[jede Person,] deren Aktivität sich als gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erweist“27 (Valls/Cazeneuve 2015), erstrecken dürfen, soll, weil sie aus Sicht der Exekutive als zu restriktiv erscheint, gestrichen werden. An ihrer Stelle soll folgender Teilsatz eingefügt werden: „[jede Person,] in Anbetracht derer ernstzunehmende Gründe vorliegen, die darauf schließen lassen, dass sein/ihr Verhalten eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt“28 (ebd.). Diese Umformulierung des Tatbestandes kommt einer Ausweitung durch Aufweichung gleich. Indem nun nachrichtendienstlich oder sonst wie gewonnene Erkenntnisse über Verhalten, Bewegungsprofile, Absichten in die Beurteilung der Gefährdungslage nicht nur einfließen, sondern in ihrer Potenzialität auch verfolgbar werden, wächst der Bereich justiziablen Verhaltens signifikant an – und zwar ohne dass es einer Tat im Sinne eines Verbrechens bedarf.

(2) Verschärfung individueller und kollektiver Grundrechtseinschränkungen: Die Rechte auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit einzelner Personen werden ebenso eingeschränkt wie das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Bürgerinnen und Bürger können von den Exekutivbehörden aufgefordert werden, sich an einen bestimmten Ort zu begeben, dort zu verbleiben oder aber sich regelmäßig bei den Polizei- oder Meldebehörden zwecks Überprüfung des Aufenthaltsortes vorzustellen. Einzig die Bildung von Camps zum Zwecke der Internierung von Bürgerinnen und Bürgern bleibt – nach den einschlägigen Erfahrungen im Kontext des Algerienkrieges – verboten. Auf kollektiver Ebene wird zudem das Recht auf Zusammenschluss, gleich welcher Natur er sein mag, verdachtsabhängig eingeschränkt. Von der Intention dieser Bestimmung her29 erweitern sich auch hier die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten der Exekutive. Terroristische, oder in der gegenwärtigen Situation: islamistische und/oder djihadistische Gruppierungen oder religiöse Zusammenschlüsse oder solche, die unter entsprechendem Verdacht stehen, sollen auf Grundlage dieser Bestimmung aufgelöst werden können.

(3) Informationspflicht: Die Exekutive soll, entsprechend der Bestimmung von Artikel 4-1, der ebenfalls neu eingefügt wird, beide Kammern der Legislative „ohne jeden Vollzug“ (vgl. ebd.) von ihren Beschlüssen zum Ausnahmezustand unterrichten.30 Valls argumentiert vor der Assemblée Nationale, dass es gerade in der Krise gelte, verstärkt „aufeinander zu hören“ (ebd.) und Informationen auszutauschen. In der einschlägigen Passage seiner Rede31 bleibt indes eine inhaltliche Begründung aus, was, wenn man die Exekutive und die Legislative als distinkte Akteure der politischen Öffentlichkeit begreift, die Interpretation zulässt, dass durch derlei Vorabstimmungen der diskursiv-offene Charakter öffentlicher Debatten zumindest herabgesetzt wird. Denn informieren ist nicht diskutieren, und die Informationspflicht der Exekutive gegenüber der Legislative muss nicht notwendigerweise in der Öffentlichkeit vollzogen werden.
[...]


4. Ausnahmezustand 2.0

„Les impératifs de la lutte antiterroriste allant récemment jusqu’à faire accepter au pays le glissement vers des formes d’État d’excepion laissant apparaître une tendance à l’illimitation de l’exécutif dans certains domaines.“ Pierre Rosanvallon32

„Die Demokratie hat die Fähigkeit zu reagieren.“ (Hollande 2015c). Dieser eine Satz François Hollandes spiegelt zweifellos all die Entschlusskraft wider, die auch in den beiden hier analysierten Reden zum Ausdruck kommt. Was aber, so gilt es trotz aller situativen Dynamik gouvernementalitätskritisch zu fragen, folgt mittel- bis langfristig aus den Reaktionen auf die Attentate? Für die Freiheit, für die politische Kultur der Republik, für die Demokratie selbst? Die inhaltsanalytische Aufbereitung der Interventionen von François Hollande und Manuel Valls mündet in drei zentrale Befunde, die Strategie, institutionelles Setting und grundlegende Plausibilisierungspraktiken im hier vorliegenden Ausnahmezustand tangieren und die ihm in der Summe eine neue Qualität verleihen:

(1) Strategisch: Die Plausibilisierungsmuster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung sind in beiden Reden überaus eng miteinander verwoben. Analytisch sind sie schlechterdings nicht zu trennen. Das sagt viel aus über den Schock, den Frankreich und seine Regierung erlitten hat, ein Schock, der in eine Vernichtungskriegsrhetorik mündet, die jeden Plausibilisierungsversuch des État d’urgence dominiert. Derart unbedingt gewollt und existenziell gemeint, wird der Ausnahmezustand in seiner instrumentellen Dimension zu einem totalen Ausnahmezustand. Die Exekutive treibt die kriseninduzierte Expansion ihrer Kompetenzen nicht nur bis an deren rechtliche Grenzen – sie meint, noch weiter zu müssen, weil sie sich im Krieg wähnt. Der sogenannte Krieg gegen den Terror war indes schon nach 9/11 nicht zu gewinnen, und nach 11/13 sieht das kaum anders aus: „Weltweit dem Terrorismus den Krieg zu erklären, war ein schrecklicher Fehler und er ist zum Scheitern verdammt“ (Richardson 2007: 22), hat Louise Richardson einmal hinsichtlich der versuchten und mittlerweile gescheiterten Krisenbewältigung durch die Bush-Administration geschrieben. Denn:

„Etwas einen Krieg zu erklären, das letztlich nur eine Strategie ist, ergibt [...] wenig Sinn. Niemand käme auf die Idee, beispielsweise Präzisionslenkwaffen den Krieg zu erklären. [...] Terror ist wie Angst eine Emotion, und einer Emotion einen Krieg zu erklären, ist kaum eine zum Erfolg führende Strategie.“ (ebd.: 228)

Auch wenn mit dem sogenannten Islamischen Staat hier eine Konfliktpartei bereitsteht, der sich von Seiten der französischen Regierung durchaus der Krieg erklären ließe, so ist doch nicht zuletzt angesichts der Erfahrungen nach 9/11 sehr fraglich, ob mit militärischen Maßnahmen alleine der terroristischen Bedrohung, noch dazu wenn sie auch in den banlieues auf ein vielfach fruchtbares Umfeld trifft, angemessen beizukommen ist.

(2) Institutionell: Bemerkenswert ist darüber hinaus die institutionelle Aufteilung der Plausibilisierung. Zu beobachten ist eine Orientierung der Akzentsetzungen bei den Plausibilisierungsmustern an den Funktionsposten in der Exekutive. Während Hollande in seiner Rede primär die Muster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung bedient und damit – entsprechend seiner Funktion als Staatspräsident – die grundsätzliche Richtung der Politik vorgibt, ist Valls als Premierminister auf das Muster der Effizienz ausgerichtet, in dessen Rahmen er das Klein-Klein der als erforderlich erachteten gesetzlichen ‚Modernisierungen‘ abhandelt. Ob und inwiefern sich eine solche Arbeits- und Plausibilisierungsteilung auch in anderen Ausnahmesituationen nachweisen lässt (vgl. Lemke 2013: 195), bliebe zu untersuchen.
(3) Grundlegend: Ein von Hollande und Valls im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Reform der einschlägigen Ausnahmegesetze und Verfassungsbestimmungen verbundener Topos ist das der weitestmöglichen Legalisierung der Normsuspendierung, genauer: ihrer nachhaltigen Modernisierung. Hierin liegt – in Sachen Plausibilisierung – das Neue der Situation nach dem 13.11.2015. Im Zuge der von Hollande beauftragten und von Valls betriebenen politischen Vorbereitung möglichst optimaler Bedingungen für ein in diesem Sinne befreites Exekutivhandeln tritt ein neues Plausibilisierungsmuster auf, das zur Expansion des Ausnahmezustandes drängt. Im Kern handelt es sich dabei um einen Erzählzusammenhang, der aus drei Schritten besteht: In einem paradox anmutenden, zwischen situativer politischer Erfordernis und geltendem Verfassungsrecht angesiedelten Spannungsbogen wird die situative Notwendigkeit des Ausnahmezustandes bekräftigt, gleichsam seine eigentliche Unwirksamkeit beklagt und daraus die Erfordernis abgeleitet, ihn zu ›modernisieren‹, sprich ihn zu verschärfen. Damit enthält die Plausibilisierung von Ausnahmezuständen erstmals eine Art Beobachtung zweiter Ordnung, die nicht jenseits, sondern unmittelbar in der auslösenden Krise anhebt.
Was folgt aus diesen Befunden? Mit Blick auf die Aussage Carl Schmitts ließe sich die begründete Befürchtung formulieren, die repräsentative Demokratie – und zwar nicht nur die Frankreichs – könnte mit dem Ausnahmezustand ihr blaues Wunder erleben. Das kann passieren, wenn sie sich zu sehr auf die Expansion der Exekutivbefugnisse kapriziert, und dabei das vernachlässigt, was auch und in noch viel wesentlicherem Maße seit der Aufklärung ihr Erbe ausmacht: das Recht und die durch das Recht ermöglichten Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. An deren Stelle tritt jedoch immer häufiger das, was Dirk Kurbjuweit Politik der Leere genannt hat. Statt Leere und Rückzug seien jedoch, so Kurbjuweit weiter, Mut und Präsenz vonnöten, die im Kern zur demokratischen politischen Kultur und ihrem Gestaltungswillen gehören. Im Sinne dieser politischen Kultur, und nur in diesem Sinne, sollte auch nach den Anschlägen des 13.11.2015 gelten, was Charlie Hebdo in seiner Ausgabe vom 25.2.2015 ebenso trotzig wie entschlossen getitelt hat: „...es geht wieder los!“ – Knapp eineinhalb Jahre später, am 14.7.2016, ereignete sich der Anschlag von Nizza.


1 de Gaulle (1960: 246); vgl. auch Léon Noël: »Das Verfassungsgericht legt diese Waffe in Ihre Hände; es wünscht, dass Sie von ihr nur dann Gebrauch machen, wenn Sie nicht anders können.« Léon Noël gegenüber Charles de Gaulle anlässlich der Erkennung auf Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 16 durch den Conseil constitutionnel am 23.4.1961, zit. nach Hamon (1994: 12).
2 Vgl. die Étude d’impact in Valls/Cazeneuve (2015: 3–7).
3 Auch inter- oder transnationale Rechtsnormen sind hier von belang, etwa die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die als ursprüngliche Europaratsinitiative mittlerweile Bestandteil des Unionsrechts ist und die Frankreich am 3.5.1974 ratifiziert hat. Sie erlegt den Regierungen der Unterzeichnerstaaten auf, grundsätzlich solche Praktiken zu unterlassen, die von ihrer Anlage her geeignet sein könnten, die jederzeitige Geltung der Schutzansprüche der Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen durch den Staat zu unterminieren. Allerdings sieht Artikel 15 der Konvention (»Abweichen im Notstandsfall«) zwei Einschränkungen vor, den »Kriegsfall« und den »anderen öffentlichen Notstand«: »Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.« (Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 15, Abs. 1). Nach Ratifikation der Konvention hat Frankreich diese in die nationalen gesetzlichen Bestimmungen für den État d’urgence integriert; vgl. Houillon (2005: 23); Zwitter/Fister/Groeneweg (2017); Mbongo (2017).
4 Zum Entstehungskontext und zur Begriffsbestimmung des État d’urgence nach Art. 16 der Verfassung vgl. Voisset (1969: 1–4).
5 Ferner wird in Art. 16 bestimmt, dass die französische Nation von der Verhängung des Ausnahmezustandes zu informieren und dass die Auflösung der Nationalversammlung während der Dauer des Ausnahmezustandes unzulässig ist.
6 Vgl. Saint-Bonnet (2001: 24): »Wie auch immer die konkrete Beschaffenheit einer Krise aussehen mag, ein Ausnahmezustand wird von der Autorität ausgerufen, die eine Situation als Krise definiert.«
7 Vgl. Voisset (1969: 14): »Der Anwendungsbereich von Ausnahmekompetenzen ist folglich extrem breit und man muss sofort unterstreichen, dass das zur Zeit der Ausarbeitung der Verfassung weit weniger der Fall war.«
8 Die Änderung nach den Attentaten vom 13.11.2015 ist eine Woche später, auf Basis des Gesetzes No2015-1501 vom 20.11.2015, umgesetzt worden.
9 Vgl. Gesetz No55-385 vom 3.4.1955, Art. 1: »L’état d’urgence peut être déclaré sur tout ou partie du territoire métropolitain, des départements d’outre-mer, des collectivités d’outre-mer régies par l’article 74 de la Constitution et en Nouvelle-Calédonie, soit en cas de péril imminent résultant d’atteintes graves à l’ordre public, soit en cas d’événe-ments présentant [...] le caractère de calamité publique.«
10 Vgl. ebd., Art. 2 und 3: »[2] La prorogation de l’état d’urgence au-delà de douze jours ne peut être autorisée que par la loi. [...] [3] La loi autorisant la prorogation au-delà de douze jours de l’état d’urgence fixe sa durée définitive.« Eine unbestimmte Dauer wäre durch die permanente Erneuerung der entsprechenden gesetzlichen Grundlage möglich.
11 Vgl. ebd., Art. 2: »L’état d’urgence est déclaré par décret en Conseil des ministres.«
12 Vgl. ebd., Art. 4-1: »L’Assemblée Nationale et le Sénat sont informés sans délai des mesures prises par le Gouvernement pendant l’état d’urgence. Ils peuvent requérir toute information complémentaire dans le cadre du contrôle et de l’évaluation de ces mesu-res.« Neueinfügung auf Grundlage des Gesetzes No2015-1501 vom 20.11.2015.
13 »As you know, the formula ›for security reasons‹ functions today in any domain, from everyday life to international conflicts, as a password in order to impose measures that the people have no reason to accept.«
14 Die beiden Texte wurden nach politisch-institutionellen sowie zeitlichen Erwägungen für die Analyse ausgewählt. Es handelt sich – entsprechend des Institutionengefüges des französischen Semipräsidentialismus, wie Maurice Duverger (1980) es beschrieben hat – um die ersten Einlassungen der höchsten Spitzen der Exekutive (des Präsidenten und des Premierministers) nach den Anschlägen vor der höchsten Repräsentativkörperschaft der politischen Öffentlichkeit Frankreichs.
15 »Cependant, avec les actes de guerre du 13 novembre, l’ennemi a franchi une nouvelle étape.« (ebd.)
16 »Vendredi, c’est la France tout entière qui était la cible des terroristes.« (ebd.)
17 »Les actes commis vendredi soir à Paris [...], sont des actes de guerre. Ils ont fait au moins 129 morts et de nombreux blessés. Ils constituent une agression contre notre pays, contre ses valeurs, contre sa jeunesse, contre son mode de vie.« (ebd.)
18 In Frankreich wird zur Bezeichnung des sogenannten Islamischen Staats von ›Daesh‹ (deutsche Schreibweise: ›Daesch‹) gesprochen. Diese Abkürzung gilt bei Mitgliedern der Terrororganisation als beleidigend.
19 Vgl. ganz in diesem Sinne auch Valls (2015): »Ne nous y trompons pas : le terrorisme a frappé la France, non pas pour ce qu’elle fait en Irak, en Syrie ou au Sahel, mais pour ce qu’elle est.«
20 Die Trennlinie, die Hollande zieht, verläuft nicht zwischen Franzosen und Nichtfranzosen, sondern zwischen Franzosen (und all jenen, die deren Werte teilen) und den Terroristen als Verkörperung der Negation dieser Werte. Die Zuschreibung der Kombattantenrollen erfolgt damit postnational im globalisierten Raum: »Nous le savons, et c’est cruel que de le dire, ce sont des Français qui ont tué vendredi d’autres Français. Il y a, vivant sur notre sol, des individus qui, de la délinquance passent à la radicalisation puis à la criminalité terroriste. Parfois, ils sont allés combattre en Syrie ou en Irak. Parfois ils forment des réseaux qui s’entraînent en fonction des circonstances, ou qui s’entraident pour mener à un moment que leurs commanditaires ont choisi des actes terroristes.« (Hollande 2015c)
21 Vgl. ebd.: »Ce qui a été visé par les terroristes, c’était la France ouverte au monde. Plusieurs dizaines d’amis étrangers font partie des victimes, représentant 19 nationalités différentes. [...] la nécessité de détruire Daech constitue un sujet qui concerne toute la communauté internationale.«
22 Gemeint sind die Überfälle auf die Redaktion von Charlie Hebdo sowie auf einen jüdischen Supermarkt.
23 Und er fährt fort: » [...] la loi qui régit l’état d’urgence, la loi du 3 avril 1955 ne pouvait pas être conforme à l’état des technologies et des menaces que nous rencontrons aujourd’hui. Mais elle comporte deux mesures exceptionnelles: l’assignation à résidence et les perquisitions administratives. Ces deux mesures offrent des moyens utiles pour prévenir la commission de nouveaux actes terroristes. Je veux leur donner immédiatement toute leur portée et les consolider. Le Premier ministre proposera donc au Parlement d’adopter un régime juridique complet pour chacune de ces dispositions. Et mesdames, messieurs les parlementaires, je vous invite à le voter d’ici la fin de la semaine.«
24 Laut abschließender polizeilicher Angaben sind in Folge der Attentate 130 Menschen ums Leben gekommen.
25 Vgl. Valls (2015): »Nous devons être unis, et parce que nous sommes une grande démocratie, nous appuyer sur la force de notre droit. Or, la force de notre droit, c’est notamment l’état d’urgence.«
26 Vgl. Valls/Cazeneuve (2015) und La Commission des Lois Constitutionnelles, de la Législation et de l’Administration générale de la République (2015).
27 Im Original: »[de toute personne] dont l’activité s’avère dangereuse pour la sécurité et l’ordre publics«.
28 Im Original: »[de toute personne] à l’égard de laquelle il existe des raisons sérieuses de penser que son comportement constitue une menace pour la sécurité et l’ordre publics«.
29 Der neu eingefügte Art. 6-1 im Wortlaut: »Sans préjudice de l’application de l’article L. 212-1 du code de la sécurité intérieure, sont dissous par décret en conseil des ministres les associations ou groupements de fait qui participent à la commission d’actes portant une atteinte grave à l’ordre public ou dont les activités facilitent cette commission ou y incitent.«
30 Vgl. Art. 4-1: »L’Assemblée Nationale et le Sénat sont informés sans délai des mesures prises par le Gouvernement pendant l’état d’urgence. Ils peuvent requérir toute information complémentaire dans le cadre du contrôle et de l’évaluation de ces mesures.«
31 Vgl. Valls (2015): »Moderniser la loi de 1955, c’est aussi mieux informer le Parlement. Depuis ce week-end, celui-ci est associé très étroitement. Dimanche, le Président de la République a reçu les présidents des assemblées, les présidents de tous les groupes parlementaires et les présidents des commissions concernées. Lundi, le chef de l’État s’est exprimé devant le Parlement réuni en Congrès. À l’initiative de Jean-Jacques Urvoas, avec le soutien de tous les groupes, un amendement important a été adopté prévoyant l’information du Parlement s’agissant des mesures prises pendant l’état d’urgence. Le Gouvernement y est bien évidemment favorable, et je vous proposerai par ailleurs des rendez-vous réguliers pour faire le point sur sa mise en œuvre et, avec les ministres concernés, vous fournir toutes les informations nécessaires et possibles, sur la lutte antiterroriste sur notre sol et nos opérations militaires au Levant.«
32 2015: 12.

 

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