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Harald Welzer: Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft

02.05.2017
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Frankfurt am Main, Fischer Verlag 2017

Die „offene Gesellschaft“ steht unter Druck. Nicht erst seit dem als Krisenjahr wahrgenommenen Jahr 2016 hat sich der Eindruck im gesellschaftlichen Bewusstsein festgesetzt, dass unser Lebensmodell von inneren und äußeren Feinden, von Krisen und Kriegen bedroht wird. Nicht zuletzt trugen die Terroranschläge in Europa der vergangenen Monate dazu bei, ein Krisen- und Gefahrenbewusstsein zu wecken, dass an so verschiedene wie gegensätzliche Auffassungen von Demokratie und Gesellschaft anschlussfähig ist. Auf der einen Seite sehen rechtskonservative beziehungsweise populistische Strömungen und Parteien wie PEGIDA, AfD oder auch die CSU die Gesellschaft in Gefahr – ebenso wie auf der anderen Seite linksliberale Gruppen und Parteien eben in diesem Lager die eigentliche – nationalistische – Gefahr für die liberale Gesellschaft und die Demokratie erblicken. Nicht erst seit der Wahl Trumps, dem Brexit, der Flüchtlingskrise oder den neuen politischen Tönen aus Polen wird die Gefahr eines neuen Autoritarismus und eines gesellschaftlichen Rechtsruckes diagnostiziert. Doch was kann und soll dagegen getan werden?

In seinem neuen Buch „Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“ geht der Wissenschaftler, Publizist und Initiator der Stiftung „FuturZwei“ Harald Welzer genau dieser Frage nach. Sein Text ist dabei zu verstehen als Manifest für die Verteidigung der offenen Gesellschaft, gegen Autoritarismus, Populismus und Politikverdrossenheit. Gleichzeitig lässt sich das Buch als Programmschrift der von Welzer mitbegründeten Initiative „Die offene Gesellschaft“ lesen, die hervorgegangen ist aus der Diskussionsreihe „Welche Gesellschaft wollen wir sein“ und nun als Plattform möglichst viele „Freunde“ der offenen Gesellschaft zu gemeinsamen Aktionen und Veranstaltungen zu vereinen versucht – in Kooperation mit politischen Stiftungen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Ziel ist es, das Bewusstsein für die Errungenschaften einer demokratischen Gesellschaftsform zu schärfen und zu einer positiven Zukunftsgestaltung zu motivieren.

Welzer schreibt: „Wir [leben] in einer Gesellschaft [...], die uns allen die Freiheit eröffnet, sie nach unseren Bedürfnissen und Wünschen mitzugestalten, die uns aber auch die persönliche Verantwortung auferlegt, aktiv für diese Gesellschaft einzutreten und sie zu schützen, wenn sie angegriffen wird. [...] im Augenblick wird sie so massiv angegriffen wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte“ (10 f.). Für diese Auffassung steht die Idee von Karl Popper Pate, der in Abgrenzung zu totalitären Utopien eine ideologisch neutrale, aber liberale Gesellschaft postuliert, deren einzige Staatsform nur die gelebte Demokratie sein kann. Im Anschluss an Popper beschreibt der Autor mit deutlichen Worten und klarer Meinung einige gesellschaftliche-politische Entwicklungen, die dieses Modell der „offenen Gesellschaft“ deutlich unter Druck setzen. Hier ist nicht nur der politische Rechtsruck und die Intoleranz gegenüber geflüchteten Menschen zu nennen, dessen verbale Entgleisungen inzwischen salonfähig geworden sind; sondern auch die zunehmende Gewöhnung und gefährliche Normalisierung dieser Zustände – die auf dem von Welzer ausgiebig erforschten Phänomen der shifting baselines basiert. Er nennt hier aber auch die durch Neoliberalismus und Individualismus herbeigeführte Entpolitisierung, die basierend auf einem aggressiven Egoismus zum Ideal einer entsoldiarisierten Konsumkultur wurde. Versinnbildlicht wird all dies durch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, was für Welzer den demokratischen „Ernstfall“ (52) darstellt.

Dennoch ist der Autor überzeugt, „dass es uns noch nie so gut ging wie jetzt“ (29). Dass also die offene Gesellschaft einen materiellen Wohlstand gebracht hat, der zugleich mit nie dagewesenen Freiheits- und Minderheitsrechten einhergeht, von denen Generationen seit dem Zweiten Weltkrieg profitiert haben. Doch dies heißt noch nicht, dass das westliche Modell der liberalen Wohlstandsdemokratie die perfekte Gesellschaft wäre: „Natürlich ist die offene Gesellschaft keine perfekte Gesellschaft. In ihr gibt es Ungleichheit, Ungerechtigkeit, häusliche Gewalt, Kriminalität, Leiden, Depressionen, Selbstmorde. Der Grund: Es gibt einfach keine perfekte Gesellschaft. Es kann auch keine geben, weil Leben darin besteht, dass alle physischen und sozialen Umwelten sich permanent verändern. Nur was tot ist, verändert sich nicht mehr“ (24). Daher fordert Welzer auch konsequenterweise ein „Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt“ (105), dass aus einer Abkehr vom Neoliberalismus, der Überwindung sozialer (Bildungs-)Ungleichheit, gesellschaftlicher Integration, Nachhaltigkeit und Klimaschutz sowie einer Bewahrung von Grundrechten und Privatsphäre besteht.

Welzers Text ist ein flammender Appell für mehr Demokratie und den Mut zu einer zukunftsfähigen, optimistischen, gesellschaftlichen Gestaltung. Doch bei allem lobenswerten Enthusiasmus, den Welzer (und seine Mitstreiter) für die offene Gesellschaft aufbringen, bleibt ein zwiespältiger Eindruck: So wichtig das Eintreten für Demokratie und Offenheit ist, so sehr bleibt der Text an der Oberfläche. Es entsteht der Eindruck, dass die „Anderen“, gegen die sich dieser Essay richtet – die die hier vertretenen Werte nicht (mehr) ohne Weiteres Teilen – pauschalisiert werden, sind hier doch Rechtsradikale ebenso gemeint wie populistische Stimmenfänger in allen Parteien oder Protestwähler. Indem also diese Gruppen vermischt werden, findet eine unzulässige Vereinfachung statt, denn Fakt ist, dass viele Sympathisanten sich gerade aus Protest gegen ihre Deklassierung, aus Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit von der offenen Gesellschaft abwenden – in der sie offenbar keinen Platz mehr finden. Zu schreiben, dass es uns aktuell so gut wie nie gehen würde, ist in Anbetracht der sich seit vielen Jahren dramatisch verschärfenden sozialen Ungleichheit in Deutschland kurzsichtig und unsensibel. Unberücksichtigt bleibt, dass der Wohlstand der einen immer schon auf dem Mangel der anderen basiert hat – wie Stefan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ hellsichtig erläutert. Offen gelassen wird, wem es denn konkret so gut geht und wem eigentlich nicht – und aus welchen Gründen. Welzers Aufruf erscheint also vor allem als eine zivilgesellschaftliche Selbstvergewisserung, dem – so wichtig und dringend sein Anliegen ist – dennoch eine differenzierte Perspektive auf die soziale Lage vieler Menschen und die Gründe ihrer Befürchtungen gut getan hätte, um gerade hier anschlussfähig sein zu können.

 

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