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Kaevan Gazdar

Zwischen Dichtern und Denkern, Richtern und Henkern. Auf der Suche nach deutscher Identität

München: Olzog 2010; 252 S.; hardc., 24,90 €; ISBN 978-3-7892-8315-4
Der Sozialwissenschaftler Gazdar beschäftigt sich mit der Wahrnehmung nationaler Identität in Deutschland aus zweierlei Perspektive. Zunächst widmet er sich der Überhöhung deutscher Identität, die als ein „Höhenflug der vermeintlichen Überlegenheit des Deutschtums“ (29) gekennzeichnet sei, so der Autor. Demnach sei in Deutschland vor 1949 eine starke anti-demokratische Wahrnehmung des Politischen zu beobachten gewesen. Diese Sichtweise beruhe auf einem deutlich empfundenen Gegensatz zwischen dem mythisch aufgeladenen Reich der Deutschen und der einfachen Bevölkerung. Er zeige sich insbesondere in der Hervorhebung einzelner nationaler Vorbilder (Dichter und Denker) und Leitfiguren (Führerpersonen Bismarck, Hindenburg, Hitler u. a.), die dem Volk so überlegen scheinen. Der „genialen Ausnahmeerscheinung“ (53) würden somit größere politische Fähigkeiten zugesprochen als einer sich demokratisch regierenden Bevölkerung. Eine so auf Heilsvorstellungen basierende Kulturgemeinschaft habe eine zunehmende Diskrepanz zur Moderne vom 18. bis zum 20. Jahrhundert entwickelt. Dadurch erscheine der Erfolg der Demokratisierung in der Bundesrepublik für viele Beobachter als überraschend, da sie den zuvor genannten Traditionen oberflächlich widerspricht. Diese Skizzierung einer speziellen, anti-demokratischen deutschen Entwicklung werde in zahlreichen Darstellungen verwendet. In der zweiten Hälfte des Buches zeigt Gazdar jedoch Aspekte auf, in denen Charaktereigenschaften der Zivilgesellschaft auch eine starke deutsche Traditionslinie aufweisen können: Liberalität, Zivilcourage, Emanzipation und Nachhaltigkeit. Repräsentanten dieser Entwicklungen seien beispielsweise Johann Jacoby, Gustav Heinemann und Elisabeth Selbert, wie Gazdar deutlich betont. Und auch das Kaiserreich sei nicht allein ein Symbol für deutsche Rückwärtsgewandtheit, sondern durchaus Vorreiter eines sozialen Rechtsstaates. Diese positiven Entwicklungen der eigenen Geschichte zu würdigen, erscheine vielen Deutschen in Anbetracht der Verbrechen des Nationalsozialismus unmöglich, ja sogar unanständig. Gazdar spricht von einer „Unfähigkeit zur Freude“ (232). Eine verstärkte Betonung der eigenen liberalen Traditionen könne das demokratische Selbstbewusstsein der Deutschen jedoch verbessern.
Arne Arps (AA)
M. A., Doktorand der Politikwissenschaft, Universität Vechta.
Rubrizierung: 2.35 | 2.31 Empfohlene Zitierweise: Arne Arps, Rezension zu: Kaevan Gazdar: Zwischen Dichtern und Denkern, Richtern und Henkern. München: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/32780-zwischen-dichtern-und-denkern-richtern-und-henkern_39151, veröffentlicht am 21.09.2010. Buch-Nr.: 39151 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken