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Konrad H. Jarausch / Matthias Middell / Annette Vogt

Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945-2010

Berlin: Akademie Verlag 2012 (Geschichte der Universität Unter den Linden 3); 715 S.; 99,80 €; ISBN 978-3-05-004668-6
Große deutsche Universitäten feiern ihre Jubiläen gern mit voluminösen Studien zu ihrer Geschichte. Die Humboldt‑Universität zu Berlin darf seit 2010 auf 200 Jahre ihres Bestehens zurückblicken und sie tut das in sechs Bänden. Die ersten drei sind der „Biographie einer Institution“ gewidmet, wobei dieser dritte Band der Universität in der Zeit der SBZ/DDR und ihrer allerjüngsten Geschichte gewidmet ist. Für politikwissenschaftliche Leserinnen und Leser ist das Buch in mehrfacher Hinsicht interessant. So ist die Universitätsgeschichte dieser Jahre ein genauer Spiegel der allgemeinen Zeitgeschichte. Gerade die Umwandlung zur sozialistischen Universität in den Jahren nach 1945 zeigt die Struktur der SED‑Herrschaft. Zunächst wurden im Zeichen eines antifaschistischen Konsenses noch „bürgerliche“ Wissenschaftler akzeptiert (und benötigt). Mit der Stalinisierung der Universität unter SED‑Führung wurden diese Hochschullehrer ausgeschaltet, die dritte Hochschulreform im Jahr 1968 führte schließlich zur Beseitigung der letzten Reste der alten Selbstverwaltung. Auf diese Weise wurde die Universität zu einer ideologischen und technisch‑materiellen Stütze der SED‑Herrschaft. Sie war aber auch ein Ort der Dissidenz: Mit Robert Havemann, der als Ordinarius der Chemie oppositionelles Denken verbreitete, und Rudolf Bahro, der hier als Philosoph ausgebildet wurde, kamen zwei der wichtigsten Dissidenten der DDR aus dieser Institution. Schließlich spiegelte sich auch die Zeit der politischen Wende 1989/90 in dem Geschehen an dieser Ost‑Berliner Universität. Das betraf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Allgemeinen, die Frage, inwieweit die Institutionen der DDR zu innerer Erneuerung und Demokratisierung fähig waren, den Umgang mit Spitzenpersonal, das vermeintlich oder tatsächlich für das Ministerium für Staatssicherheit tätig war, die Bewertung der Leistungsfähigkeit ostdeutscher Wissenschaftler, aber auch praktische Fragen der Weiterführung des Universitätsbetriebes. Für eine kritische Disziplingeschichte der Politikwissenschaft stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die bloß formale Umbenennung der Sektion für Marxismus‑Leninismus in eine Sektion für Politikwissenschaft im Jahr 1990 und die anschließende Abwicklung und der komplette Neuaufbau der Politikwissenschaft mit westdeutschem Personal mehr als bloß zwei Seiten derselben Medaille sind.
Sebastian Lasch (LA)
M. A., wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.312.3142.3152.343 Empfohlene Zitierweise: Sebastian Lasch, Rezension zu: Konrad H. Jarausch / Matthias Middell / Annette Vogt: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945-2010 Berlin: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37662-sozialistisches-experiment-und-erneuerung-in-der-demokratie--die-humboldt-universitaet-zu-berlin-1945-2010_43419, veröffentlicht am 16.10.2014. Buch-Nr.: 43419 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken