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Norman Bock

Zwischen Verdrängung und Verklärung. Die "junge Welt" in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des europäischen Kommunismus

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014 (Extremismus und Demokratie 29); 313 S.; brosch., 56,- €; ISBN 978-3-8487-1111-6
Diss. TU Chemnitz; Begutachtung: E. Jesse, M. Steinbach. – Dass die Position des politischen Revisionismus in Deutschland nicht nur politisch, sondern auch historisch und moralisch inakzeptabel ist, ist ebenso unstrittig wie die Tatsache, dass der Totalitarismus der Rechten nicht ohne den der Linken kritisiert werden kann. Die autobiografischen Berichte von Primo Levi und Alexander Solschenizyn belegen dies eindrucksvoll. Mit der Übertragung eines Begriffs – dem des Revisionismus – von der Leugnung des Holocaust auf die politische Linke und ihren Umgang mit dem europäischen Kommunismus ist das daher so eine Sache. Wenn Norman Bock in seiner Dissertation – über zwei Jahrzehnte nach dem Untergang des sogenannten real existierenden Sozialismus – der Frage nachgeht, „wie kritisch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des europäischen Kommunismus in einem traditionell marxistischen Publikationsorgan [der jungen Welt] betrieben wird“ (21), dann begibt er sich damit auf einen im doppelten Sinne schmalen Grat. Zum einen insinuieren Fragestellung und Anlage der Arbeit, dass das, was auf der Rechten an Holocaustleugnung betrieben wurde und wird, auf der Linken ihr Äquivalent findet. Eine solche Übertragung ist problematisch, weil sie sich an historischen Parallelisierungen versucht, die die Einzigartigkeit der Verbrechen auf der einen wie auf der anderen Seite tendenziell nivellieren, anstatt jeweils eigene Begrifflichkeiten zu entwickeln. Zudem ist fraglich, woher der Bewertungsmaßstab für eine im Sinne der Fragestellung hinreichend kritische Haltung kommen soll. Wird er extern formuliert, ist die Frage keine Frage mehr, denn ihr Ergebnis ist vorhersagbar: Die Auseinandersetzung ist im Sinne des Fragenden nicht hinreichend kritisch, also ist es die diskursive Praxis des Untersuchungsgegenstandes auch nicht. Damit impliziert die Frage einen analytischen Kurzschluss, der vermeidbar gewesen wäre, wäre genereller nach der Haltung oder der Einstellung gegenüber den Verbrechen kommunistischer Politik in verschiedenen Ländern oder Epochen gefragt und diese Haltung dann konzeptuell aufgeschlüsselt und operationalisiert worden. Zudem scheint die Auswahl „aussagekräftiger Beispiele“ (27) von Artikeln zur Verdeutlichung der Argumentation der jeweiligen Autor_innen in einer qualitativen Längsschnittanalyse angesichts der jüngsten methodologischen Innovationen im Bereich Text Mining fragwürdig. Dass die Verfälschung historischer Tatsachen, wie Bock sie für die junge Welt als eine der Grundlagen ihrer retrospektiven Amnesie herausgestellt hat, weiterer und vertiefter Auseinandersetzungen bedarf, das ist sicher unstrittig.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.37 | 2.333 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Norman Bock: Zwischen Verdrängung und Verklärung. Baden-Baden: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37705-zwischen-verdraengung-und-verklaerung_46062, veröffentlicht am 23.10.2014. Buch-Nr.: 46062 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken