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Christian Waldhoff (Hrsg.)

Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?

Berlin: Duncker & Humblot 2014 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte 81); 161 S.; 39,90 €; ISBN 978-3-428-14385-6
Bedarf eine Republik, die immer mehr Bereiche gesellschaftlichen Seins verrechtlicht, überhaupt der Gnade, die, wie der Herausgeber in seiner Einführung unter Rückgriff auf Montesquieu konstatiert, wie ein monarchistisches Relikt daherkommt? Während der Gnadenakt in der politischen Öffentlichkeit kaum thematisiert wird und nur dann punktuell im Diskurs aufflackert, wenn es etwa um die Gnadengesuche ehemaliger RAF‑Terroristinnen und ‑Terroristen geht, steht doch außer Frage, dass in der europäischen Rechtsphilosophie Recht und Gnade kaum ohne einander gedacht werden können: „Recht ohne Gnade ist Unrecht“ (8). Insofern Recht und Gnade über eine theologische Brücke miteinander verbunden sind – man denke an den Begriff der Barmherzigkeit –, ist es nur folgerichtig, dass der Band zu seinem Auftakt eine theologische Perspektive einnimmt. Ulrich Berges geht der Frage nach, welchen Beitrag die christliche Religion, genauer die alttestamentlichen Bücher der Bibel, zur Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Recht zu leisten vermag. Im Zuge einer detaillierten semantischen Analyse gelingt es ihm zu zeigen, dass Recht und Gnade aufeinander verwiesen bleiben. Es besteht eine ständige Spannung zwischen kodifiziertem Recht und der Hoffnung auf Gerechtigkeit, auf Barmherzigkeit, die situativ aufzulösen Gott vorbehalten bleibt: „In dieser absolut freien Entscheidung zur Gnade liegt die Größe Gottes [...]. Dieses Entscheidungsterrain zwischen Recht und Gnade in Gott heißt biblischerseits ‚Reue’, die nicht zu den Eigenschaften Gottes gehört, sondern zwischen den Polen von Recht und Gnade den Ausschlag gibt“ (31). Christian Waldhoff selbst ist es vorbehalten, im abschließenden Beitrag den Bogen vom Alten Testament zurück in den demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart zu schlagen: „Gnade“, so stellt er gleich zu Anfang sehr deutlich fest, „kann in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes nur ein Fremdkörper sein. Sie reibt sich mit der Idee des lückenlosen Rechtsschutzes, der für Herrschaftsausübung verfassungsrechtlich fundamental ist.“ (131) Und dennoch ist sie fester Bestandteil der deutschen Rechtsordnung, in Form der Befugnis bestimmter Amtsträger, rechtskräftig gewordene Strafen ganz oder teilweise zu erlassen. Damit haftet ihr etwas Willkürliches, gar Irrationales an, wie Waldhoff betont – weswegen er sich froh zeigt, dass die Gewährung der Gnade heute nur noch ein randständiges Phänomen im demokratischen Rechtsstaat sei. – Indes: Der Mensch und mithin menschliches Zusammensein ist nicht nur Rationalität, Systematik, Rechtsdogmatik, es ist mehr – Altruismus, Liebe, Opferbereitschaft – und vielleicht deckt die Gewährung von Gnade genau dieses Mehr ab. Ohne sie wäre Recht bloßer Vollzug, aber kaum mehr Gerechtigkeit.
{LEM}
Rubrizierung: 5.442.322.325 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Christian Waldhoff (Hrsg.): Gnade vor Recht – Gnade durch Recht? Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38327-gnade-vor-recht--gnade-durch-recht_46396, veröffentlicht am 23.04.2015. Buch-Nr.: 46396 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken