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Angela Marquardt, mit Miriam Hollstein

Vater, Mutter, Stasi. Mein Leben im Netz des Überwachungsstaates

Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015; 233 S.; 14,99 €; ISBN 978-3-462-04723-3
In der Rückschau ist Angela Marquardt natürlich klar, wie deutlich aus diesem qualvollen Lebensbericht herauszulesen ist, dass andere 15‑Jährige in der DDR sehr wohl eine Ahnung davon hatten, was es mit dem Ministerium für Staatssicherheit auf sich hatte und es sich davon besser fernzuhalten galt. Aber ihr fehlte dieser Überblick und heute kann sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, fast noch als Kind eine Verpflichtungserklärung als Inoffizielle Mitarbeiterin ge‑ und unterschrieben zu haben – die Männer, die sie erst sehr viel später bei der Einsicht in ihre Akte als Führungsoffiziere erkannte, waren Freunde ihrer Mutter und ihres Stiefvaters, sie gingen in ihrem Zuhause ein und aus. Aber nicht nur diese Vertrautheit allein und ein stramm auf SED‑Linie stehendes Elternhaus – Mutter, Stiefvater und Großvater waren als IM aktiv, wie sich nach 1989 zeigte – verursachten diese (kindliche!) Blindheit. Marquardt vermutet wohl leider völlig zu Recht, dass die Stasi sich auch deshalb in ihr Leben schleichen konnte, weil diese Männer ihr als erste männliche Bezugspersonen erschienen, die ihr (vermeintlich) nicht schaden wollten: Erst hatte der leibliche Vater sie misshandelt und mit dem Tode bedroht, dann begann der Stiefvater, sie vom Alter von neun Jahren an über Jahre zu missbrauchen. Hilfe erfuhr Marquardt, so schildert sie es, von niemandem, auch nicht von der Mutter. Im Gegenteil: Sie verkaufte ihr Kind geradezu als Spitzel, wie Marquardt aus den noch vorhandenen Aktenbeständen rekonstruiert hat – und das, obwohl sie eher schüchtern war, wie sie schreibt, und zu keiner Jugendszene gehörte; „selbst der Schuldisco blieb ich fern“ (53). Ihre Führungsoffiziere planten dennoch ihren weiteren Lebensweg vor, um sie langfristig als IM zu etablieren. Mit dieser Vergangenheit wurde Marquardt erst wieder konfrontiert, als sie eine bekannte Politikerin in der PDS und Bundestagsabgeordnete geworden war – mittlerweile ist sie, die mit der Rückwärtsgewandtheit der Partei nicht fertig wurde, nach dem Studium der Politikwissenschaft Mitglied in der SPD und Mitarbeiterin von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Marquardt schildert ihr politisches Engagement seit 1990 als ihren Weg, um ihrer Vergangenheit und ihrer Familie zu entkommen und eine Struktur für sich selbst zu finden. Die Verdrängung sollte ihre Überlebensstrategie sein. Das Buch nun hat Marquardt mit Unterstützung der Journalistin Miriam Hollstein und der Stasi‑Unterlagen‑Behörde dennoch geschrieben, um der versuchten Kumpanei ihrer ehemaligen „Freunde“ zu entgehen und laut und deutlich eine wichtige Frage zu stellen: Was ist von einem System zu halten, dass sogar Minderjährige als Spitzel aufeinander ansetzt?
{NW}
Rubrizierung: 2.32.3142.3152.352.331 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Angela Marquardt, mit Miriam Hollstein: Vater, Mutter, Stasi. Köln: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38796-vater-mutter-stasi_47054, veröffentlicht am 27.08.2015. Buch-Nr.: 47054 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken