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Urs Marti-Brander

Rousseaus Schuld. Essays über die Entstehung philosophischer Feindbilder

Basel: Schwabe Verlag 2015 (Schwabe reflexe 44); 207 S.; 17,50 €; ISBN 978-3-7965-3445-4
War der Genfer Philosoph Jean‑Jacques Rousseau der „düsterste, furchterregendste Feind der Freiheit“ (11) oder als Kultur‑ und Zivilisationskritiker ein „vorausschauender Mahner“ (52) und Vordenker von Emanzipation und politischer Souveränität des Individuums? Urs Marti‑Brander beansprucht, ihn als Paradoxon zu beschreiben und schließt damit an die aktuelle Rousseau‑Forschung an. Der Autor wehrt sich dagegen, diesen als „Sündenbock“ für die politischen und sozialen Krisen seit dem 18. Jahrhundert zu zeichnen und liest seine Texte als Vorausschau der Moderne. Schließlich ergeben die politischen, pädagogischen und autobiografischen Schriften einen reichen Fundus. Die kurzen Stränge seiner Lektüre reichen von Rousseaus Streit mit Voltaire, den Friedrich Nietzsche aufgreift, über die politische Rezeption durch Alexis de Tocqueville, Edmund Burke, Isaiah Berlin bis hin zu Wilhelm Röpke. Er streift auch eine feministische Lesart, die zwar Rousseaus konservatives Frauenbild und die Verneinung weiblicher Emanzipation kritisiert, aber – wie bei Mary Wollstonecraft – seine Kritik an der feudalen Sozialordnung für das 19. Jahrhundert übernimmt. Seine Stichworte deuten die gemeinsamen Konfliktlinien an: Es sind die Gegenüberstellung von Individuum und Staat beziehungsweise Gesellschaft, von Privatem und Politischem; es sind zugleich Rousseaus Deutungen historischer Prozesse wie sozialer Machtverhältnisse und politischer Institutionen, die seine Leser zu emotionalen wie rational begründeten Kritiken motivierten. Dem Autor gelingt es, anhand ausgewählter Zitate die sprachliche Aufladung der „Schuld“ zu belegen, allerdings verlieren dabei die analytischen Rezeptionsstränge an argumentativem Gewicht. Ebenso fehlt eine methodische Diskussion jener Fahrt durch die Ideengeschichte, die politische Philosophen mit den an sie gerichteten, späteren „Anklagen“ konfrontiert und zugleich eine eigene Deutung entwickelt. Über diese knappen Streifzüge hinaus liegt in einer vertieften Rezeption selbst ein analytischer Schatz, der noch mit anderen Instrumenten gesichtet und geborgen werden muss.
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Rubrizierung: 5.335.42 Empfohlene Zitierweise: Ellen Thümmler, Rezension zu: Urs Marti-Brander: Rousseaus Schuld. Basel: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39354-rousseaus-schuld_47867, veröffentlicht am 04.02.2016. Buch-Nr.: 47867 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken