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Michel Foucault

Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972-1973. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015; 444 S.; 44,- €; ISBN 978-3-518-58621-1
Lange Zeit wurde auf die unveröffentlichten und von Foucault selbst nicht zur Publikation freigegebenen Manuskripte gewartet, die sich noch im Nachlass befinden. „Die Strafgesellschaft“ stellt dabei ein besonders begehrtes Material dar, denn sie enthält nicht weniger als die Vorarbeiten zu Foucaults Epochenwerk „Überwachen und Strafen“, das nicht nur einen bedeutenden Punkt in dessen Schaffen, sondern der jüngsten politischen Theoriegeschichte insgesamt markiert. Die 13 Vorlesungen sind systematisch der Rolle der Strafe für die moderne Gesellschaft gewidmet: Die Strafe entwickelt sich zunehmend von der individuellen Sühne zu einer Korrektur am Gesellschaftskörper und lässt nicht zuletzt dadurch in ihrer Genealogie ein Bild jener Gesellschaften zu, die sich ihrer Techniken bedienen. Die unterschiedlichen Strafformen sieht Foucault historisch in der Praxis des Gefängnisses zusammenlaufen, der sich zunehmend universalisierenden Strafform einer zwischen politischer sowie ökonomischer Macht und aufklärerischem Humanismus angelegten Gesellschaftsordnung. Dabei zeigt das Gefängnis gerade in seiner strafrechtlichen Ineffizienz seine eigentliche Wirksamkeit als eine gesamtgesellschaftliche Disziplinierungsform, die räumliche Trennungen durchsetzt, Normalisierungstechniken individuell internalisieren lässt und somit letztlich politische Kontrolle ermöglicht. In diesen Überlegungen Foucaults scheint eine besondere Klarheit über die Verquickung ökonomischer Anforderungen und – man möchte fast sagen: ideologischer – politischer Regulation kapitalistisch nationalistischer Vergesellschaftung durch. Angedeutet wird ein impliziter Dialog mit marxistischen Analysen, denn Foucault kommt zu dem Ergebnis, dass die Gefängnisform der Strafe eine Gesellschaftsform anzeigt, weil sie das strafrechtliche Korrelat zur ökonomischen Warenform ist. So stellt Foucault den eigentlichen Impuls der Entwicklung des Strafsystems heraus, es gehe dabei um eine „neue Form von Materialität, die der Produktionsapparat annimmt; eine neue Art des Kontakts zwischen diesem Apparat und demjenigen, der ihn Gang hält; neue Anforderungen, die an die Individuen als Produktivkräfte gestellt werden“ (353). Als eine solche Grundlegung enthalten die Vorlesungen Foucaults schon konsequent die Elemente, die in seiner späteren Subjektivierungstheorie entfaltet werden – individuelle (Selbst‑)Disziplinierung als Machtgrundlage einer Gesellschaft, die Physik oder Anatomie der Macht. Die von einigen Seiten beschworenen vollkommen neuen Aspekte, die in der Lage wären, auch die theoretischen Defizite des Foucault’schen Werkes in Hinblick auf politische Herrschaft zu ergänzen, sucht man in letzter Konsequenz jedoch vergebens.
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Rubrizierung: 5.465.42 Empfohlene Zitierweise: Alexander Struwe, Rezension zu: Michel Foucault: Die Strafgesellschaft. Frankfurt a. M.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39649-die-strafgesellschaft_47536, veröffentlicht am 04.05.2016. Buch-Nr.: 47536 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken