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Paul Sörensen

Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik. Eine Systematisierung im Ausgang von Karl Marx, Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2016 (Zeitgenössische Diskurse des Politischen 10); 478 S.; 86,- €; ISBN 978-3-8487-2535-9
Diss. Jena; Begutachtung: H. Rosa, M. Llanque. – Mit der Entfremdung will Paul Sörensen einen traditionellen Begriff des Marxismus für die moderneren Demokratietheorien nutzbar machen. Implizit wird dabei aber auch eine interne Debatte des Marxismus verhandelt: die Frage nämlich, ob der Lehre von den aufeinanderfolgenden Gesellschaftsformen – laut der die Demokratie nur eine Form unter vielen ist und abgelöst werden wird – ein Primat zukommt oder ob bereits mit der Idee der Demokratie prinzipiell das richtige Grundmuster eines menschenwürdigen Lebens ausgesprochen ist, das nur noch zur Blüte, sprich zur ‚echten‘ Demokratie gebracht werden muss. Sörensen schlägt sich auf letztere Seite und thematisiert Entfremdungserfahrungen „als in besonderer Weise mit Zuständen der Schließung bzw. des Entzugs des Politischen verkoppelt“ (19). Die Untersuchung basiert etwas verklausuliert auf dem Grundgerüst eines solchen „Verweisungszusammenhangs von Entfremdungserfahrungen, verweigerter bzw. verunmöglichter Teilhabe und den […] Schließungen des Politischen“ (29). Durch die Hoffnung auf ein zumindest potenziell nicht‑entfremdetes und damit weniger leidensbehaftetes Leben durch formale soziale Teilhabe wird versucht, „essentialisierende und in der Konsequenz paternalistische“ (36) Bestimmungen des guten Lebens zu vermeiden. Sörensen benennt aber keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Affirmation einer vorgeblichen „Grundlosigkeit des menschlichen Miteinanders“ (27) und die damit verbundene Zumutung, selbst das Elementarste des guten Lebens ständig im Politischen verhandeln zu müssen, sei strukturell weniger monströs als eine essentialisierende Bestimmung, was denn nun menschenwürdiges Leben sei. Arendts Beschreibung von Entfremdung als individuelle Welt‑, Sinn‑ und Heimatlosigkeit sowie Castoriadis‘ Ontologie der Unbestimmtheit stehen Pate für den Versuch, die Kontingenz und Kreativität menschlichen Handelns in diesem Sinne anti‑essentialistisch in Stellung zu bringen. Dieses „Dringen auf Anerkennung der Indeterminiertheit des menschlichen Handelns“ (271) kommt letztlich aber nicht über die eigene Assertion hinaus, Entfremdung sei eben eine „Schlüsselbegrifflichkeit für eine kritische Theorie des Politischen“ (413). Sörensen verhält sich nicht explizit zu der akuten Formkonstellation von Demokratie und Kapitalismus, sondern plädiert vage für eine demokratische Erziehung, die sich, nichts Weiteres vorausgesetzt, offenbar in dieser gegebenen Konstellation abspielen soll. Die Frage, ob Entfremdung und Leid damit gerade in dieser Konstellation ihre gemeinsame Wurzel haben, ist damit immer schon beantwortet, der Kern der gegenwärtigen Herausforderungen damit verfehlt.
{FG}
Rubrizierung: 5.425.462.23 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Paul Sörensen: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik. Baden-Baden: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/40021-entfremdung-als-schluesselbegriff-einer-kritischen-theorie-der-politik_48332, veröffentlicht am 25.08.2016. Buch-Nr.: 48332 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken