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Burkhard Liebsch / Michael Staudigl / Philipp Stoellger (Hrsg.)

Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik

Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2016; 786 S.; 49,90 €; ISBN 978-3-95832-070-3
Gastlichkeit in europäischer Perspektive in einer Zeit zu thematisieren, in der es auf politischem Parkett eher um die Höhe von Zäunen und Aufnahmequoten geht, ist ein ebenso wichtiges wie mutiges Unterfangen. Wanderung und Fluktuation waren seit jeher Bestandteil menschlicher Gesellschaft. Müssen diese, nur weil die soziopolitischen Rahmenbedingungen heute andere sind als in etlichen tausend Jahren vorher, gleich als ein „bedrohliches Überforderungspotenzial“ (9) verstanden werden? Ist Gastlichkeit, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung fragen, vielleicht bloß ein „ideologieverdächtiger Euphemismus“ (10), dessen Verheißung mit den ökonomischen Erfordernissen Europas nicht in Deckung zu bringen ist? Diese und viele andere Fragen rund um unseren Umgang mit den zunächst Fremden, mit den Zuwanderern in unsere Gesellschaft, sind Gegenstand dieses Bandes. Sie provozieren eine denkbar breite Palette von Antworten, die sich gleich an die einleitende Dokumentation von vier grundlegenden Theorietexten anschließen. Georg Cavallar geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie weit das Recht auf Freizügigkeit, das mit „völkerrechtlichen Konzeptionen des Rechts auf Hospitalität“ (145) in engem Zusammenhang steht, reiche. Im Unterschied zur Meinung des US‑Supreme Courts, die dieser in den 1980er‑Jahren vertreten hat und wonach es der Regierung eines souveränen Staates freisteht zu entscheiden, wem sie den Grenzübertritt gestatten will und wem nicht, argumentiert er – unter Bezugnahme auf Francisco de Vitoria und Immanuel Kant – zugunsten eines weiten, nicht instrumentellen Hospitalitätsverständnisses. Jedem stehe es frei, mit anderen Menschen, ungeachtet dessen, wo sie sich aufhielten, in Beziehung zu treten und sich niederzulassen. Gastrecht ist hier eindeutig mehr als bloß Besuchsrecht. Ruud Welten zeigt im Rahmen einer Analyse einer Szene von Melvilles „Moby Dick“, dass Begriffe wie Gast und Gastgeber, wie Freund und Feind und wie schließlich Gastlichkeit und Freundschaft nahe beieinanderliegen und mitunter schwer zu entscheiden sind: „Die radikale Differenz zwischen uns und ihnen“, so Welten, münde in eine Form „metaphorischer Gastlichkeit“ (521), die zwar Offenheit gegenüber dem anderen gebiete, aber das nur bis zu einem gewissen Maße. Wie genau dieses Maß beschaffen sein sollte – ob es in der unbedingten Offenheit zu finden ist, wie sie Jacques Derrida gegenüber dem Fremden propagiert, oder ob es letztlich doch der Zaun ist, wie in Europa derzeit allerorten zu besichtigen – ist am Ende eine politische Frage. Und die kann auch ganz anders ansetzen, wie Burkhard Liebsch aufzeigt: Die Welt „sollte es schließlich unnötig machen, sich mit seinem nackten Leben anderswohin retten zu müssen, um eine unbedingte Notfallgastlichkeit in Anspruch zu nehmen“ (768). Davon jedoch sind wir, nicht nur in Europa, derzeit weit entfernt.
{LEM}
Rubrizierung: 2.613.12.232.25.15.42 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Burkhard Liebsch / Michael Staudigl / Philipp Stoellger (Hrsg.): Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Weilerswist: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/40165-perspektiven-europaeischer-gastlichkeit_48144, veröffentlicht am 17.11.2016. Buch-Nr.: 48144 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken