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Rainer Öhlschläger / Hartmut Sangmeister (Hrsg.): Krisenhilfe oder Hilfe in Krisen? Entwicklungszusammenarbeit mit Krisenländern

03.04.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Baden-Baden, Nomos 2016 (Weltwirtschaft und internationale Zusammenarbeit)

Die sogenannte Flüchtlingskrise hat deutlich gemacht, dass lokale und regionale Kriege und Krisen globale Auswirkungen haben können. Vor allem im Nahen Osten und in Afrika steigt die Zahl der Länder, in denen Bürgerkriege, Terrorismus und Willkürherrschaft der jeweils Stärkeren zu Failed States geführt haben. Vor diesem Hintergrund sieht sich die internationale Staatengemeinschaft mit immer mehr Krisen konfrontiert, in denen schnelle Hilfe und militärisches Eingreifen notwendig erscheinen, um humanitäre Katastrophen zu vermeiden und weitere Flüchtlingsbewegungen zu verhindern. Welche Maßnahmen und Vorhaben sind unter den unsicheren, oft lebensgefährlichen Bedingungen in solchen fragilen Staaten von der Entwicklungszusammenarbeit zu erwarten? Können mit ihr substanzielle Beiträge zur Krisenbewältigung geleistet werden oder verschärft die Intervention externer Akteure eventuell die Situation? An diesen Fragen setzt der Sammelband der Herausgeber Hartmut Sangmeister und Rainer Öhlschläger an, mit dem sowohl die wissenschaftliche Perspektive als auch die praktischen Erfahrungen in den Blick genommen werden. Entsprechend stammen die Beiträge sowohl von Forscher*innen als auch von Praktiker*innen und bilden das Spektrum der Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Kontexten ab.

Hartmut Sangmeister widmet sich im ersten Beitrag der grundsätzlichen Frage nach dem tatsächlichen Auftrag der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Handelt es sich dabei tatsächlich um ein „normatives Projekt des Westens“ (10), wie Kritiker immer wieder betonen? Er geht davon aus, dass EZ implizit auf die „Schaffung einer globalen Zivilgesellschaft mit universellen Werten“ (14) ausgerichtet ist, die bereits während der Französischen Revolution formuliert wurden und deren Inhalte in Deutschland für die staatliche EZ in den letzten 60 Jahren „weitgehend unverändert“ (15) geblieben sind. Dabei verortet Sangmeister auch die heutige EZ historisch in der (aus dem Kalten Krieg geborenen) Entwicklungshilfe, die in erster Linie die Ratio verfolgte, ehemalige Kolonien als „Gegenentwurf zum Sowjetmodell“ (15) zu entwickeln. Ebenso wichtig ist sein Hinweis, dass die Glaubwürdigkeit des westlichen Wertekanons daran krankt, dass der Westen sich nicht immer selbst an diese Werte hält. Entsprechend mehren sich die Stimmen, die gegen einen „Imperialismus des Universellen“ (17) sprechen und die Frage bleibt offen, welche Folgen dies für eine westliche EZ hätte.

Während die Zahl der als „fragil“ kategorisierten Staaten zunimmt, tut sich die Weltgemeinschaft schwer, konsistente und kohärente Strategien für eine auf Fragilität ausgerichtete EZ zu finden. Vera Dicke macht in ihrem Artikel deutlich, dass die Erkenntnis, wonach „EZ in fragilen Staaten nicht nach Blaupausen funktioniere, sondern kontextsensibel geplant werden muss“ (26), vorhanden ist, beschreibt aber auch den schwierigen Weg zu neuen Paradigmen.

Einen ersten Ansatz bildete die Formulierung der Fragile States Principles, die jedoch in der Folge kaum umgesetzt wurden. Häufig standen die Millennium Development Goals (MDG) – die eher auf Armutsbekämpfung denn auf Staatsaufbau oder Stabilisierung fokussiert waren – ihnen entgegen und wurden eher beachtet. Aufgrund der Rechenschaftspflicht der staatlichen EZ wurden zudem häufig einfach quantifizierbare Projekte vor schwerer Messbaren bevorzugt. Mit dem New Deal und der Formulierung der PSGs (Peace and Statebuilding Goals) hat inzwischen eine Lernkurve eingesetzt. Gleichzeitig beteiligen sich auch die fragilen Staaten selbst an der Diskussion und entwerfen eigene Strategien, die jedoch, so Dicke, bisher seitens der Geberländer kaum Gehör finden.

Mit der „Sehnsucht Europa“ (47) beschäftigt sich Rolf Steltemeier. In der Analyse der aktuellen Fluchtbewegungen konstatiert er, dass eine Lösung nur als gesamteuropäische Aufgabe verstanden werden kann. Dabei müsse die EU eine pragmatische Herangehensweise an die Fluchtursachenbekämpfung in Ländern ohne bewaffnete Konflikte finden und gleichzeitig klare Regelungen für eine Zuwanderung in die EU formulieren. „Die allzu allgemeine Begründung, auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu hoffen, muss dezidiert ausgeschlossen werden.“ (52) Wesentliches Element einer EU-Strategie sei eine faire Lastenteilung, die auch nicht davor zurückschrecke, Staaten, die sich komplett verweigerten, zu sanktionieren.

Colin Gleichmann wirft die Frage auf, inwieweit großangelegte Operationen mit der Beteiligung vieler Staaten und internationaler Organisationen und zudem dem Mix aus militärischem und zivilem Engagement überhaupt noch steuerbar sind. Die Vernetzung der Ansätze sei zwar von allen Regierungen gewünscht, das Ziel indes noch lange nicht erreicht. Dies liege auch daran, dass die Ziele einzelner Akteure oft unrealistisch und häufig widersprüchlich seien. „Die Formulierung ehrlich interessengeleiteter Ziele passt oft nicht zur Sprache humanitär begründeter UN Mandate. Aber damit können vielleicht realistische Schritte geplant und ‚Interventionsruinen‘ vermieden werden.“ (66)

Im Beitrag der KfW-Bankengruppe (Kreditanstalt für Wiederaufbau) heißt es bescheiden: „Selbst wenn nur [S]chlimmeres verhindert wurde, ist es ein Erfolg.“ Ein fragiler Kontext bedeute nicht die Unmöglichkeit entwicklungspolitischer Maßnahmen, gefordert seien aber angepasste Konzepte und das Eingeständnis, dass die EZ gegenüber anderen „Mächten, die über Krieg und Frieden entscheiden“ (84), nur eine kleine Rolle spiele. Selbst wenn lediglich Armut verringert werden könne, sei dies als Erfolg zu werten. Christian Hülshörster plädiert bei seiner Betrachtung der Arbeit des DAAD in fragilen Staaten dafür, das Erreichte zu sichern und vor allem einen langen Atem zu bewahren.

Unter der Überschrift „Krisen und Glaube“ nimmt Sebastian Müller die islamischen religiösen Akteure in den Blick. Da viele der fragilen Staaten mehrheitlich islamische Bevölkerungen haben, gewinnt die Frage zunehmend an Relevanz. Müller beschreibt die große Vielfalt der islamischen Akteure, die eine Folge der Umstrukturierung klassischer islamischer Modelle wie religiöse Stiftungen oder Almosensteuer hin zu GOs und NGOs ist. Für ihn ist eine Verknüpfung mit langfristiger EZ möglich und zielführend.

Tilman Wörtz, Beatrix Waldenhof und Maria Kruse stellen einzelne Aspekte beziehungsweise Projekte in den Vordergrund. Kruse beschreibt die Friedensarbeit in Kolumbien, die über lange Jahre ihre Ziele erreichen konnte und Wörtz betrachtet die Herausforderungen beim Strukturaufbau der Medienbranche. Dabei gebe es zwar hohe Finanzierungsrisiken, aber Anspruch und Wirklichkeit würden näher beisammen liegen und so könne eine nachhaltige Stärkung der Zivilgesellschaft erreicht werden. Schließlich analysiert Waldenhof die Rolle der Sozialen Arbeit in der internationalen EZ. Sie zieht das Fazit, dass sinnvolle Tätigkeitsfelder vor allem im Bereich der humanitären Hilfe und der Friedensarbeit möglich seien, internationale Soziale Arbeit und nationale Soziale Arbeit jedoch eines verstärkten Austausches bedürften.

Der Sammelband eignet sich gut als Einstiegslektüre und für einen allgemeinen Überblick zu den Herausforderungen internationalen Engagements in Krisenkontexten.

 

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