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Das strategische Langfrist-Problem der NATO. Stolpersteine und Perspektiven

22.07.2019
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Dr. Karl-Heinz Kamp

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Zu ihrem siebzigsten Jubiläum präsentiert sich die so oft totgesagte Nordatlantische Allianz in erstaunlich guter Verfassung. Durch eine ständige Anpassung an neue sicherheitspolitische Anforderungen hat sie auf die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte reagiert und stets ihre eigene Relevanz bewahrt. Sie hat zum Ende des Ost-West-Konflikts ebenso beigetragen wie zum Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Als diese 2014 von einem revanchistischen Russland eingerissen wurde, fand die NATO rasch zu ihrer klassischen Rolle als Garant der Sicherheit und territorialen Integrität ihrer Mitglieder gerade in Osteuropa zurück. Darüber hinaus widmet sie sich den Gefahren, denen sich die südlichen Mitgliedsstaaten ausgesetzt sehen. Selbst das merkwürdige Agieren eines bündnisfeindlichen Präsidenten im Weißen Haus hat die NATO bislang heil überstanden, auch, weil die überwiegende Mehrheit amerikanischer Entscheidungsträger von der Relevanz des Bündnisses überzeugt ist.

So weit, so gut. Langfristig sieht sich die NATO allerdings einem existenziellen Problem gegenüber, das weder in den aktuellen transatlantischen Spannungen noch in der Sprunghaftigkeit von Präsident Donald Trump begründet ist. Es erwächst stattdessen aus den grundlegenden geostrategischen Veränderungen der kommenden Jahre. Mit einer stetig zunehmenden Rolle Chinas bei einer gleichzeitig abnehmenden Bedeutung Russlands werden sich die USA weit stärker als bisher dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden und Europa trotz aller Treueschwüre eher hinten anstellen. Will die NATO nicht einen großen Teil ihrer Existenzberechtigung verlieren, wird sie ihre geografische Orientierung ebenfalls deutlich ändern und ausweiten müssen.


Die erfolgreichste Sicherheitsallianz in der Geschichte

Bis zum „Wendejahr“ 2014 haben Beobachter der NATO deren Geschichte gerne in drei Phasen eingeteilt.1 In ihrer ersten Phase, die von ihrer Gründung im Jahr 1949 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 reichte, war das Bündnis vor allem ein Instrument westlicher Selbstbestimmung und Verteidigung. In ihrer zweiten Phase, die sich bis über die Jahrtausendwende erstreckte, füllte die NATO das Machtvakuum der untergegangenen Sowjetunion aus und leistete Hilfe bei der Demokratisierung Osteuropas. In ihrer dritten Phase, die am 11. September 2001 mit dem Zusammenbruch der Twin Towers in New York einsetzte, entwickelte sich die Allianz zu einem globalen Sicherheitsakteur, der sich um die Stabilisierung von Krisenregionen weitab der eigenen Bündnisgrenzen bemühte. Der Ausspruch des damaligen Verteidigungsministers Struck, dass deutsche Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde, war prägend für diese Epoche. Mit Moskaus Annexion der Krim und den russischen Truppen in der Ostukraine im Jahr 2014 begann die vierte und derzeitige Phase. Seither befindet sich die NATO abermals in der Artikel-5-Welt, in einem sicherheitspolitischen Umfeld also, in dem das Sicherheitsversprechen des Artikels 5 des Washingtoner Vertrages wieder mit glaubwürdigen militärischen Fähigkeiten untermauert sein muss. Im Zentrum der Allianz steht nicht mehr das internationale Krisenmanagement außerhalb ihrer Grenzen, sondern vor allem die Landes- und Bündnisverteidigung zum Schutz des Bündnisgebiets.

Die NATO reagierte außergewöhnlich rasch auf die russische Aggressionspolitik – vermutlich durchgreifender, als Präsident Putin dies erwartet hatte. Mit den Entscheidungen der Gipfeltreffen in Wales 2014 und Warschau 2016 stellte sich das Bündnis auf die neuen Erfordernisse der Artikel-5-Welt ein und erhöhte die Schlagkraft ihrer militärischen Fähigkeiten. Die bereits 2002 aufgestellte NATO Response Force (NRF) wurde auf fast 40.000 Soldaten erweitert und um eine 5.000 Mann starke schnelle Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force) ergänzt. Diese Task Force, kurz VJTF, deren Kernbestandteil im laufenden Jahr durch die Bundeswehr gestellt wird, ist in ständiger Bereitschaft und kann in wenigen Tagen in Marsch gesetzt werden. Unter dem Schlagwort Enhanced Forward Presence (EFP) stehen seit 2017 vier gefechtsbereite Bataillone in Estland, Lettland, Litauen und Polen zur Verfügung – jedes von einem der vier großen NATO-Mitglieder USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland bereitgestellt und in die Truppen der Gastländer integriert. Zusätzlich zu den Truppenstationierungen hat die NATO die Zahl der militärischen Übungen erhöht und an realistische Szenarien angepasst sowie neue Verteidigungspläne entwickelt. Auch wurden die Entscheidungsprozesse in der NATO gestrafft, sodass ein Bündnisbeschluss zum Einsatz der Schnellen Eingreiftruppe innerhalb von acht bis zwölf Stunden getroffen werden kann.2

Selbst bei der nuklearen Abschreckung, einem Teil des NATO-Dispositivs, das in vielen Mitgliedsländern der Kritik ausgesetzt ist, wurden wesentliche Verbesserungen realisiert. Dies zeigte sich zunächst in einem neuen nuklearen „Mindset“ in allen NATO-Ländern: Man erzielte Einigkeit über die von Russland ausgehenden nuklearen Gefahren und vergegenwärtigte sich, dass die NATO eine „nukleare Allianz“ ist und bleibt. Das war keinesfalls selbstverständlich, wenn man überlegt, dass vor einem knappen Jahrzehnt der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle den Abzug aller amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden gefordert und dies sogar in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP eingebracht hatte.

Im Bereich der nuklearen Waffen und Trägersysteme wurden die Reaktionszeiten der nuklearfähigen Flugzeuge, die im Extremfall die in Europa stationierten amerikanischen Kernwaffen transportieren würden, erheblich verkürzt. Das dient vor allem dazu, den nuklearen Bereitschaftsgrad der NATO dem ihrer konventionellen Eingreiftruppen zumindest anzunähern, um so eine schlüssige Gesamtabschreckung zu schaffen. Die US-Kernwaffen selbst unterliegen einem bereits unter Präsident Obama begonnenen grundlegenden Modernisierungsprozess, der in einigen Jahren abgeschlossen sein wird. Auch im nuklearen Bereich wurden die Übungen deutlich erhöht, um durch die Demonstration militärischer Bereitschaft ein starkes politisches Abschreckungssignal an Russland zu senden. Schließlich tragen mehr nicht-nukleare NATO-Staaten zur glaubwürdigen nuklearen Abschreckung bei, indem sie einen (hypothetischen) Einsatz von Kernwaffen mit konventionellen Maßnahmen (Luftbetankung, Bekämpfung gegnerischer Luftabwehr) unterstützen würden. Auch diese im NATO-Jargon „SNOWCAT“ (Support for Nuclear Operations with Conventional Air Tactics) genannten Maßnahmen verdeutlichen die Einigkeit der Allianz in der Nuklearfrage und verstärken damit die Abschreckung insgesamt.

Darüber hinaus kommt die NATO dem Drängen der südlichen Mitgliedsländer nach und kümmert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um die Sicherheitsgefährdungen aus südlicher und südöstlicher Richtung. Wenn auch der von der Allianz gebrauchte Begriff des „360 Grad-Ansatzes“ etwas übertrieben scheint, so hat die NATO dennoch ihr Präsenz im Schwarzen Meer ausgebaut und unternimmt Schritte gegenüber der globalen Gefahr des Terrorismus.
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______________________

Fußnoten:

1 Rühle 2006
2 Zu weiteren Einzelheiten siehe Brauss 2018


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Der vollständige Beitrag ist erschienen in SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 3, Heft 2, Seiten 129-135, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2019-2003 (online erschienen am 30.05.2019)

 

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