John Armour / Horst Eidenmüller: Negotiating Brexit
An der University of Oxford haben sich englische und deutsche Experten getroffen, um über den Brexit zu diskutieren: Was ist von den Verhandlungen zu erwarten? Welche Vereinbarungen sollte Großbritannien anstreben? Wie ist es um die Zukunft des Finanzplatzes London bestellt? Besteht die Gefahr, dass das Land zur Steueroase wird? Insgesamt wurde bei diesem Workshop dem Brexit eher gelassen entgegengeblickt oder sogar angenommen, dass es nur pro forma dazu kommt. Auch wurde der Gedanke formuliert, dass der Brexit ein Zukunftsmodell sein könnte für künftige Assoziierungsabkommen der EU mit anderen Staaten.
Den Brexit verhandeln. In der zweiten Runde geht es um Details
Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident der Europäischen Union (EU), erzielte Anfang Dezember 2017 den Durchbruch: Nach dem Motto „Erst die Scheidung, dann die Neuordnung der Beziehung“ vereinbarte er zusammen mit der britischen Premierministerin Theresa May drei Vorbedingungen für den zweiten Teil der Brexitverhandlungen. May akzeptierte, dass die Briten eine Abschlussrechnung für den Brexit bezahlen, wobei sie von 40 bis 45 Milliarden Euro ausgeht, die EU von 60 Milliarden Euro. Außerdem wird für die Rechte und die Pflichten der EU-Bürger in
Sektor für Sektor aushandeln
Im zweiten Teil der Brexitverhandlungen beginnt die wirkliche Arbeit: Sektor für Sektor des zukünftigen Abkommens muss ausgehandelt werden. Der Sammelband „Negotiating Brexit“ befasst sich eben mit diesem Teil der Verhandlungen. Analysiert wird, was für die einzelnen Politik- und Wirtschaftsfelder auf dem Spiel steht, mit welchen Strategien die EU und GB verhandeln werden und wie ein neuer Vertrag zwischen den beiden aussehen könnte. Entstanden ist das Buch aus einem Workshop im März 2017 an St. Hugh‘s College an der Universität Oxford, auf dem Ökonomen, Juristen und Unternehmensberater ihre Diskussionsbeiträge präsentierten.
Gelassen dem Brexit entgegen
Insgesamt blicken die Wissenschaftler dem Brexit gelassen entgegen, auch wenn sie wissen, dass sich dieser negativ auf die Volkswirtschaften auswirkt – auch dann, wenn ein Freihandelsabkommen abgeschlossen würde. Entsprechende Zahlen legte Clemens Fuest, Präsident des Münchener ifo-Instituts, vor: „[…] the losses caused by a switch to a regime with a comprehensive free trade agreement would be 0.4 per cent of GDP for the UK and 0.1 per cent for the EU“ (4). Falls kein Freihandelsabkommen zwischen EU und GB zustande kommt, würden die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) Anwendung finden, was zu größeren Verlusten beim Bruttosozialprodukt (BSP) führt: 1,7 Prozent des BSP für GB und 0,4 Prozent für die EU.
Unterschiedliche Einschätzungen
Wie stark die Verluste in den einzelnen Wirtschaftssektoren ausfallen, wird von den Wissenschaftlern unterschiedlich bewertet. Ein Beispiel sind die Finanzdienstleistungen, die für GB und insbesondere für den Finanzplatz London eine herausragende Rolle spielen. So führt John Armour von der Universität Oxford an, dass die Finanzdienstleistungen am britischen BSP einen Anteil von 7 bis 12 Prozent haben, für 11 Prozent der Steuereinnahmen sorgen und 7 bis 12 Prozent der Beschäftigung ausmachen. Grund zur Sorge für die britischen Finanzdienstleister sei der Verlust des Europäischen Finanzpasses. Er ist eine pauschale Genehmigung für Kreditinstitut und Wertpapierhändler im Europäischen Wirtschaftsraum, um tätig werden zu können. „The loss of this ability to ‚passport‘ services throughout the EU is at the centre of the financial sector’s concerns over Brexit.“ (24) Allerdings rechnet Armour damit, dass die EU und GB ein Abkommen über Finanzdienstleistungen finden werden.
Finanzplatz London
Als europäisches Zentrum für Finanzdienstleistungen würde London besonders vom Verlust des Europäischen Finanzpasses betroffen sein. 20 Prozent der Einkünfte der Stadt London würden durch den Verkauf von Finanzdienstleistungen innerhalb der EU erzielt, sagt Thierry Philipponnat, Direktor des Friedland-Instituts. Ohne einen Europäischen Finanzpass wären die Londoner Finanzdienstleister gezwungen, ein Finanzinstitut in der EU zu eröffnen, was zu teuren Doppelstrukturen führe. Allerdings vermutet Philipponnat, dass die EU und GB einen Weg finden, damit Londoner Finanzdienstleister weiter in der EU tätig sein können. Er kommt zu dem Schluss: „As a general conclusion, it’s argued that London will remain without doubt Europe’s main financial centre post-Brexit, but the previous trend towards the concentration of the European financial industry in a single centre will be reversed.“ (20)
Brexit nur pro forma
Wolf-Georg Ringe von der Universität Hamburg ist sich sicher, dass die EU und GB ein Freihandelsabkommen abschließen werden. Für die Finanzdienstleister heißt das: „I argue that different from the public perception, the impact of Brexit for financial services will be minimal, if not irrelevant.“ (45) Er meint, dass der Brexit nur pro forma durchgeführt wird und ein gemeinsames Abkommen den Freihandel zwischen EU und GB fast auf heutigem Niveau wieder herstellt. „The result would be a bespoke agreement between the UK and the EU, not entirely dissimilar from the relationship between Switzerland and the EU.“ (46)
Brexit als Zukunftsmodell
Diesen Gedanken nimmt Felix Steffek von der Universität Cambridge auf und geht einen Schritt weiter. Das neue Abkommen zwischen EU und GB könnte eine Erfolgsgeschichte werden und ein Modell für die Einbindung anderer Staaten sein, mit denen die EU bisher Assoziierungsabkommen hat. „Once established, further countries could join – for example, those that are currently linked to the EU by association agreements.“ (101) Mit einen solchen positiven Brexitabkommen könnte man die Interessen der Brexitbefürworter und -gegner erfüllen, so Steffeks Überlegung.
Großbritannien wird keine Steueroase
Insofern wird GB in Zukunft keine Steueroase mit niedrigen Unternehmenssteuern und Deregulierung werden. Zu einem, so Luca Enriques von der Universität Oxford, ist das Vertrauen der ausländischen Firmen angesichts des politischen Umfelds in GB gering. „The problem is that the UK is not currently in a position to credibly commit to such a stable business-friendly environment.“ (86) Zudem sei der ökonomische und politische Nutzen eines Abkommens mit der EU für das Land größer als die Umsetzung der Drohung, sich in eine Steueroase zu verwandeln. Die Vereinbarung zwischen Juncker und May über die Abschlussrechnung, die Sicherung der Rechte von EU-Bürgern in GB und eine weiche Regelung an der EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland weise in die Richtung eines großen Brexitdeals oder mit den Worten von Wolf-Georg Ringe: „Brexit will inevitably come, but more in form than in substance.“ (50)
Demokratie und Frieden
Aus den Medien
Alex Hunt / Brian Wheeler
Brexit: All you need to know about the UK leaving the EU
BBC News, 15. August 2017
Kurz und verständlich werden die wichtigsten Fragen rund um den Brexit erklärt, Fristen und Optionen genannt sowie die Haltung wichtiger politischer Akteure aufgezeigt.
Aus den Denkfabriken
Edward Burke
Brexit’s threat to Northern Ireland
Chatham House, The World Today, August & September 2017
Edward Burke, Dozent für strategische Studien an der University of Portsmouth, zeigt auf, dass der der Frieden in Nordirland durch den Brexit gefährdet wird. Bereits jetzt sei das dortige Machtgefüge verschoben, weil die nationalistische nordirische Partei DUP in die Regierung in London eingetreten sei und so Umsetzung des Brexits befördere – obwohl in Nordirland mehrheitlich gegen einen Austritt aus der EU gestimmt worden sei. Vor allem aber würden mit dem Brexit Grenzkontrollen unumgänglich. Gerade ihre Abschaffung auf Grundlage des Karfreitagsabkommen sei aber eine zentrale Voraussetzung für den Frieden gewesen. Der Autor betont außerdem die negativen Folgen einer erneuten sichtbaren und kontrollierten Grenze für die nordirische Wirtschaft. Daher sollte das Vereinigte Königreich wenigstens so schnell wie möglich mit der EU ein Freihandelsabkommen abschließen.
Robin Niblett
Finding a Sensible Brexit
Chatham House, 12. Dezember 2017
Nach den jüngsten Gesprächen mit der EU deute sich für Großbritannien ein weicher Brexit an, schreibt Robin Niblett. Dieser wäre ökonomisch eine nachvollziehbare Entscheidung, politisch allerdings nicht anzustreben: Die Souveränität des Landes wäre damit deutlich eingeschränkter als sie es jemals durch eine EU-Mitgliedschaft gewesen ist.
Matthias Matthijs
Theresa May's Brexit Dilemma. It Comes Down to Party vs. Country
Foreign Affairs, Snapshot, 19. Dezember 2017
Zunächst wundert sich der Autor über das politische Überleben von Premierministerin Theresa May nach dem für sie eher missglückten Wahlergebnis in Juni 2017. Die Verhandlungen mit der EU über den Brexit hätten sie und die zuständigen Unterhändler dann auch noch schlecht geführt, besonders die Frage nach der Zukunft der irisch-nordirischen Grenze habe nicht geklärt werden können. Nach wie vor sei zudem nicht ersichtlich, welchen Brexit May überhaupt wolle. Diskutiert würden derzeit die Varianten Norway-Minus („soft Brexit“) – von der EU als Rosinenpickerei bewertet und daher nicht gewollt – und Canada-Plus („hard Brexit“), also ein erweitertes Freihandelsabkommen. Keine der beiden Varianten verspreche für Großbritannien – im Gegensatz zur bisherigen EU-Mitgliedschaft – Vorteile: „The United Kingdom will never again have the sweetheart deal it enjoyed between 1973 and 2016.”
zum Thema
Brexit – Großbritannien zwischen Re-Nationalisierung und Globalisierung