Sebastian H. Schneider: Bürgerhaushalte in Deutschland
Mit dem Instrument des Bürgerhaushalts wird den Bürger*innen die Möglichkeit eröffnet, sich an der Ausgabenplanung ihrer Kommune und damit an einem zentralen und konflikthaften Politikbereich zu beteiligen. Für Sebastian H. Schneider ist dies „die womöglich populärste demokratische Innovation in Deutschland“. Die bisherigen Erfahrungen zeigen jedoch eine geringe und sozial unausgewogene Beteiligung. Schneider untersucht umfassend und auf breiter Quellenbasis, was Menschen dazu bewegt, sich an Bürgerhaushalten zu beteiligen, und ermittelt individuelle sowie kontextuelle Einflussfaktoren.
Im Zuge der in den 1990er-Jahren vollzogenen Verwaltungsreform wurden zahlreiche neue Elemente der Bürgerbeteiligung erprobt und eingeführt, die unter dem Eindruck einer allgemeinen Krise der repräsentativen Demokratie einen Wandel auf der kommunalen Ebene einleiten sollten. Der Bürgerhaushalt ist eines dieser Verfahren. Entwickelt wurde er im brasilianischen Porto Alegre, unter anderem mit dem Ziel, auch ärmere und politisch weniger gut vertretene Bevölkerungsgruppen an der Entscheidung über die Verwendung kommunaler Finanzmittel zu beteiligen. Von dort aus hat sich die Idee weltweit verbreitet. In Deutschland wird sie in verschiedenen Varianten, auch unter der Bezeichnung Beteiligungshaushalt oder partizipativer Haushalt, umgesetzt – in kleinen Gemeinden ebenso wie in Großstädten. Bürgerhaushalte werden dabei top-down von den administrativen Institutionen initiiert. Im Wesentlichen dienen sie dazu, über die Haushaltslage zu informieren, seitens der Bürger*innen Vorschläge einzuholen, diese zu diskutieren sowie anschließend über deren Berücksichtigung im Haushalt Rechenschaft abzulegen.
Die bisherigen Erfahrungen mit diesem Instrument werden insgesamt eher als ernüchternd eingeschätzt. Auffallend ist unter anderem die geringe Beteiligung, und es sind – im Gegenteil zu der ursprünglichen Absicht in Porto Alegre – in Deutschland vorwiegend die besser gestellten Bevölkerungsgruppen, die sich beteiligen. Diesen Befund nimmt Sebastian H. Schneider zum Anlass, die Gründe und Einflussfaktoren für eine Beteiligung an Bürgerhaushalten – als zentraler Indikator für das Funktionieren des Verfahrens – näher zu untersuchen. Zwar gibt es Studien und Evaluationen über einzelne Bürgerhaushalte oder auch vergleichende Betrachtungen ausgewählter Praxisfälle, die diese Befunde belegen. Bislang existiert jedoch keine umfassende systematische Analyse zum Aspekt der Beteiligung. Diese Lücke füllt der Autor mit seiner Dissertation.
Den Begriff der demokratischen Innovation aufgreifend, erfolgt zunächst eine theoretische Einordnung des Bürgerhaushalts, der aufgrund seiner fehlenden Entscheidungsbefugnis als konsultativ-dialogisches Verfahren definiert wird. Zum besseren Verständnis des Wirkungsbereiches des Bürgerhaushalts und der möglichen Entscheidungsanreize folgen eine kompakte Darstellung der kommunalen Rahmenbedingungen und ein Einblick in die zum Teil angespannte Finanzlage der Kommunen. Aufgrund der Querschnittsfunktion des Haushalts über nahezu alle kommunalpolitischen Bereiche ist die Haushaltspolitik äußerst komplex und konflikthaft. Da mit dem Bürgerhaushalt der wichtigste Entscheidungsbereich für die Beteiligung geöffnet wird, sieht Schneider in diesem Verfahren „die womöglich populärste demokratische Innovation in Deutschland“ (107).
Was Bürger*innen dazu bewegt, sich an der Aufstellung des Haushaltes in ihrer Stadt oder Gemeinde zu beteiligen (oder auch nicht), lässt sich einerseits an individuellen soziopsychologischen Faktoren festmachen, andererseits lassen sich die jeweiligen kommunalen ökonomischen und politischen Gegebenheiten sowie das konkrete Design des Bürgerhaushalts als mögliche Erklärungsfaktoren heranziehen. Diese beiden Einflussbereiche und ihre Wirkungszusammenhänge stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Schneider hat seine empirische Analyse auf eine breite Datenbasis gestellt. Dazu zählen erstens die Individualdaten einer vom Autor durchgeführten Evaluation des Bürgerhaushalts in Oldenburg aus dem Jahr 2011, die insofern besonders ist, als sie sowohl die Beteiligten als auch die allgemeine Stadtbevölkerung berücksichtigt. Zweitens kommt ein selbsterstellter Aggregatdatensatz, der unter anderem auf die regelmäßig erhobenen Daten des „Netzwerk Bürgerhaushalt“ auf der Internetplattform „buergerhaushalt.org“ (siehe unter „Digirama“) für die Jahre 2006 bis 2013 basiert, zum Einsatz. Drittens wird ein Umfragedatensatz einer Mehrebenenanalyse der Bertelmann Stiftung von 2013 berücksichtigt.
Von den verschiedenen Erklärungsansätzen der Partizipationsforschung wählt Schneider den Rational-Choice- (sich beteiligen wollen) sowie den Ressourcen-Ansatz (sich beteiligen können) aus, um daraus verschiedene Hypothesen und Einflussfaktoren für die drei abhängigen Variablen Beteiligung, Beteiligungsabsicht und -quote herzuleiten. Neben demografischen Faktoren zählen dazu auf der individuellen Ebene die Zufriedenheit mit der Haushaltspolitik, eine internalisierte Partizipationsnorm und eine gewisse politische Befähigung, die Mitgliedschaft in Parteien oder Vereinen sowie das Vertrauen in politische Institutionen. Auf der kontextuellen Ebene werden unter anderem die Größe und Zusammensetzung der Kommune, die Fragmentierung des Gemeinderates, die Finanzlage oder die Nutzung des Internets für das Bürgerhaushaltsverfahren betrachtet.
Auf dieser Basis kommt Schneider zu differenzierten Aussagen und praxisrelevanten Erkenntnissen. Während auf der kommunalen Ebene der sozioökonomische und politische Kontext für die Erklärung der Beteiligung kaum bedeutsam ist, lassen sich eher Effekte der parteipolitischen Fragmentierung im Gemeinderat sowie der Nutzung des Internets im Bürgerhaushaltsverfahren herleiten. Zudem verweist der Autor auf Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die in künftigen Forschungen eingehender beachtet werden sollten. Auf der individuellen Ebene zeigen sich das Institutionenvertrauen und die Vereinsmitgliedschaft als bedeutsame Faktoren, während interessanterweise das Geschlecht keine Rolle für die Beteiligung spielt. Insgesamt bestätigen die Befunde die „dem Bürgerhaushalt entgegengebrachte Kritik, er sei ein Instrument für eine politisch aktive Minderheit“ (253).
Hieraus leitet Schneider abschließend praktische Implikationen für Politik und Verwaltung ab, wie beispielsweise eine höhere Transparenz im Umgang mit den Haushaltsvorschlägen der Bürger*innen zur Stärkung des Vertrauens in die politischen Institutionen sowie vermehrte Angebote der politischen Bildung, um die „civic skills“ der Bürger*innen auszubauen und diese dadurch zu mobilisieren. Eine weitere Möglichkeit sieht er in der Schaffung von Anreizen für die Teilnahme an Bürgerhaushalten.
Dass nach einer Phase großer Popularität die Entwicklung des Bürgerhaushalts in Deutschland derzeit stagniert, führt der Autor insgesamt auf „Enttäuschungen hinsichtlich der enormen Erwartungen an die möglichen Effekte des Verfahrens auf Bürger, Politik und Verwaltung […, aber auch auf] halbherziger Implementation der Verfahren durch die verantwortlichen Akteure“ (262) zurück. Mit seiner Analyse liefert Schneider wichtige Ansatzpunkte für eine verbesserte kommunale Praxis ebenso wie für die weitergehende Forschung zu diesem an sich bedeutsamen Beteiligungsinstrument.
Repräsentation und Parlamentarismus
Digirama
buergerhaushalt.org
Das Internetportal ist die zentrale Anlaufstelle zum Thema Bürgerhaushalt. Es wurde 2007 vom bundesweiten Netzwerk Bürgerhaushalt ins Leben gerufen und bietet neben umfangreichen Informationen und Debattenbeiträgen Hilfestellungen für die Einrichtung von Bürgerhaushalten an. Das Netzwerk Bürgerhaushalt wurde 2003 von der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt gegründet und wird mittlerweile gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) betrieben.
Bundeszentrale für politische Bildung / Servicestelle Kommunen in der Einen Welt
8. Statusbericht Bürgerhaushalte in Deutschland von 2015
Die Statusberichte geben einen detaillierten Überblick über die aktuelle Landschaft der Bürgerhaushalte in Deutschland. Sie geben Auskunft darüber gibt, in welchen Kommunen ein Bürgerhaushalt diskutiert, beschlossen, eingeführt, fortgesetzt oder abgeschafft wurde. Gegenüber dem Bericht aus dem Jahr 2014 ist demnach die Zahl der Kommunen gestiegen, die über die Einführung eines Bürgerhaushaltes diskutieren.
Literaturschau
Bürgerhaushalte als innovatives Beteiligungselement? Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
In den 1990er-Jahren setzte im Kontext von New Public Management und Neuem Steuerungsmodell auf der kommunalen Ebene eine Welle der Bürgerbeteiligung ein. Neben Zukunftswerkstätten, Planungszellen und ähnlichem gehörte auch der Bürgerhaushalt zu einer vielversprechenden, legitimationsstiftenden Reformoption. Die in dieser Zusammenstellung aufgeführten Studien und in Kurzrezensionen vorgestellten Bücher geben einen Einblick in die Rahmenbedingungen und den teils unterschiedlichen Erfahrungen mit diesem Instrument.
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zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation