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Rezension / 16.07.2024

Melanie Altanian: The Epistemic Injustice of Genocide Denialism

New York/London, Routledge 2024

Die Philosophin Melanie Altanian verfolgt in „The Epistemic Injustice of Genocide Denialism“ das Ziel, den Begriff der epistemischen Ungerechtigkeit konzeptionell zu schärfen, indem sie ihn als Folie auf den Fall der Genozidleugnung des türkischen Staates in Bezug auf den Genozid an den Armenier*innen anwendet. Rezensentin Christina Pauls, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg, lobt das Buch als wichtige Studie, die zeige, dass die Aufarbeitung von Genoziden nicht nur materieller und relationaler, sondern auch epistemischer Reparaturen bedürfe.

In den letzten Jahren hat das Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit, das insbesondere auf feministische und herrschaftskritische Theorieperspektiven zurückgeht, im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend an Bedeutung gewonnen. Damit einher geht ein wachsendes Bewusstsein für die Dynamiken, durch die marginalisierte Gruppen zum Schweigen gebracht werden, etwa durch die Infragestellung ihrer epistemischen Handlungsmacht oder die Diskreditierung und gar die vollkommene oder teilweise Auslöschung ihrer Wissenssysteme. Die Beschäftigung mit epistemischer Ungerechtigkeit ermöglicht es, die Facetten von Ungerechtigkeit zu beleuchten, die im Zusammenhang mit Wissen, seiner Produktion, Verbreitung und Anerkennung ausgeübt werden.

Daraus lassen sich nicht nur theoretische Beiträge ableiten, etwa für die Erkenntnistheorie oder die Politikwissenschaften, sondern auf Grundlage eines besseren Verständnisses lassen sich auch praktische Wege aufzeigen, um gegen diese Ungerechtigkeit vorzugehen. Insbesondere die Betrachtung institutioneller und struktureller Kontexte kann Aufschluss darüber geben, dass nicht jede Infragestellung von Glaubwürdigkeit automatisch eine epistemische Ungerechtigkeit darstellt. Zudem muss die Verschränkung epistemischer Ungerechtigkeit mit sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen anhand konkreter empirischer Fallstudien deutlicher untersucht werden.

Eine konzeptionelle Schärfung des Begriffs der „epistemischen Ungerechtigkeit“

Hier knüpft Melanie Altanian’s kürzlich erschienenes Buch „The Epistemic Injustice of Genocide Denialism“ an. Darin verfolgt die Autorin zwei ineinander verschränkte Ziele: (a) Sie geht einer konzeptionellen Schärfung von epistemischer Ungerechtigkeit nach, indem sie (b) diese Folie am empirischen Fall der Genozidleugnung durch den türkischen Staat hinsichtlich des Genozids an den Armenier*innen (1915-1917) anlegt. Dabei hebt sie die besondere Ungerechtigkeit epistemischer Unterdrückung hervor, die aus miteinander verbundenen und sich wechselseitig verstärkenden Unterdrückungspraktiken besteht (173).

Das erlaubt einerseits eine konzeptionelle Abgrenzung von epistemischer Unterdrückung zu anderen Formen epistemischer Benachteiligung, die nicht notwendigerweise mit einer institutionellen und strukturellen Ausgrenzung epistemischer Akteur*innen einhergehen. Andererseits richtet Altanian den Blick auf die epistemischen Dimensionen sozialer Unterdrückung, die der anhaltenden Leugnung des Genozides eingeschrieben sind. So zeigt sie konkrete Auswirkungen auf Überlebende und ihre Nachfahren auf und problematisiert, wie diese systematisch zum Schweigen gebracht werden und durch die Verzerrung kollektiver Wissensbestände eine Kultur der Fehlinformation und der Straflosigkeit möglich wird.

Das Buch basiert auf Altanians Dissertation (2015-2019) und führt zentrale Gedanken ihrer bisherigen Publikationen (etwa Altanian 2018; 2021; 2022) in einem überschaubaren Werk zusammen. Es betrachtet einen Fall, der bisher in Forschungen zu epistemischer Ungerechtigkeit und Unterdrückung – mit einigen wenigen Ausnahmen (z.B. Oranlı 2018) – weitestgehend unbeachtet blieb: die Leugnung des Genozids an den Armenier*innen durch den türkischen Staat.

Altanian bringt eine interdisziplinäre, philosophisch fundierte Perspektive ein, die mit einem umfangreichen Wissen zu historischen und politischen Kontexten des Genozids an den Armenier*innen unterfüttert ist. Durch das abwechslungsreiche Pendeln zwischen philosophischer Abstraktion und der Analyse des empirischen Falles mit historischen und politischen Kontextualisierungen gelingt es der Autorin darzulegen, warum die Bekämpfung von Genozidleugnung aus ethischen und epistemischen Gründen unerlässlich ist. Aufgrund der Thematik an der Schnittstelle von (Un-)Gerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt und Genozid kann das Buch für eine Vielzahl an Disziplinen relevante und interessante Einsichten liefern, etwa für die Politik- und Sozialwissenschaften, aber auch für Philosophie, Genozidforschung und die Friedens- und Konfliktforschung, in der ich mich als Rezensentin selbst verorte.

Die Epistemologie von Genozidleugnung

Das Buch ist sehr strukturiert aufgebaut, was einen guten Lesefluss ermöglicht. Im ersten Teil führt die Autorin in zentrale Definitionen und Begriffsbestimmungen rund um Genozid und Genozidleugnung ein. Dabei betont sie die Rolle von Leugnung im gesamten genozidalen Prozess und nicht erst als „letzte Stufe“ des Genozids, die auf die Vernichtung der Zielgruppe folgt, wie dies in einigen „Stufenmodellen“ vertreten wird (vgl. beispielsweise Genocide Watch n.d.). Altanian stellt eine solche Linearität und zeitliche Abfolge der Bedeutung von Leugnung infrage und zeigt auf, dass Leugnung den gesamten Prozess von Genozid durchzieht und mit weitreichenden ethischen und normativen Folgen, insbesondere für die Überlebenden und ihre Nachfahren einhergeht.

Um eine Epistemologie von Genozidleugnung zu entwickeln, unterscheidet sie zwischen punktueller (denial) und systematischer (denialism) Leugnung, indem sie „denial als psycho-soziales Phänomen […] und denialism als kollektive Errungenschaft“ (55, eigene Übersetzung) versteht. Denialism stellt sich demnach als das größere politische, kulturelle oder ideologische Muster von Leugnung dar, was wiederum den Titel ihres Buches begründet. Altanian leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung von Leugnungsmustern, indem punktuelle Formen der Leugnung (in Form von diskursivem silencing oder epistemischer Diskreditierung, 175) abgegrenzt werden von einer systematischen Struktur epistemischer Unterdrückung, die in weitere, oftmals auch historisch gewachsene Unterdrückungsmechanismen eingebettet ist.

Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf diese Unterdrückungsstrukturen, insbesondere auf die strukturell verankerte Genozidleugnung (denialism), aber auch auf die epistemischen Dynamiken innerhalb dieser Unterdrückungsstrukturen, die mitunter an Identitätskonstruktionen und soziale Verortungen geknüpft sind.

Die epistemische Ungerechtigkeit von Genozidleugnung

Im zweiten Teil des Buches geht es konkreter um die epistemische Ungerechtigkeit von Genozidleugnung. Hier werden zunächst einige begriffliche Differenzierungen vorgenommen, um Altanians Zugang im wissenschaftlichen Feld der Forschung zu epistemischer Ungerechtigkeit zu verorten. Das von Fricker (2017) entwickelte Verständnis epistemischer Ungerechtigkeit, wonach Menschen in ihrem Status als Wissende verletzt werden, manifestiert sich auf zwei wesentliche Arten: Hermeneutische Ungerechtigkeit (hermeneutical injustice) liege vor, wenn aufgrund einer Lücke in den kollektiven Interpretationsressourcen Menschen nicht in der Lage seien, ihre Erfahrungen zu begreifen und zu vermitteln. Testimoniale Ungerechtigkeit (testimonial injustice) liege dann vor, wenn Menschen aufgrund von identitätsbasierten Vorurteilen weniger Glauben geschenkt werde.

In diesem begrifflichen Feld erarbeitet Altanian ein Verständnis für epistemische Unterdrückung (epistemic oppression), das ihrer Ansicht nach geeignet sei, um die epistemischen Schäden zu untersuchen, die durch Genozidleugnung entstehen. Das Konzept epistemischer Unterdrückung zentriert die strukturellen und institutionellen Kontexte, in denen epistemische Handlungsmacht eingebettet ist. Die Bedingungen für Unterdrückung umfassen laut Altanian das Vorhandensein sozialer Gruppen, von denen eine privilegiert (Türk*innen) und die andere deprivilegiert (Armenier*innen) werde, wie auch die institutionelle Verankerung von Praktiken, die durch Zwang und Bestrafung (coercion) durchgesetzt würden.

Dieses Verständnis von Unterdrückung verbindet Altanian mit den von Fricker entwickelten Konzeptionen und führt auf diese Weise die Konzepte der hermeneutischen Unterdrückung (hermeneutical oppression) und testimonialen Unterdrückung (testimonial oppression) in ihre Analyse ein. Im Zentrum ihrer nachfolgenden Untersuchungen stehen die negativen Auswirkungen auf epistemische Verhaltensmuster, die sie auf verschiedenen, ineinander verschränkten Ebenen untersucht, nämlich denen der institutionellen, strukturellen, interpersonellen und intrapersonellen. Dabei sind diese beiden Praktiken – hermeneutische und testimoniale Unterdrückung – eng miteinander verflochten und wirken wechselseitig verstärkend: Durch die diskursive Kontrolle über Genozidverständnisse und die Verzerrung der Geschichte werden Armenier*innen ihre eigenen Erfahrungen und Überlieferungen abgesprochen und damit ihre epistemische Handlungsmacht in Frage gestellt.

Konzeptionelle Verzerrungen des Genozidbegriffs

Zunächst betrachtet Altanian Genozidleugnung als hermeneutische Unterdrückung, die sich dadurch kennzeichne, dass die epistemische Handlungsmacht von Betroffenen durch ihren Ausschluss von der Wissensproduktion eingeschränkt sei. Dies zeige sich im Feld der Erinnerung, also der Sinnstiftung über die Vergangenheit, in besonderem Maße. Erinnerungspraktiken könnten vor allem in Bezug auf massive Gewalterfahrungen reparative Wirkungen für Überlebende und ihre Nachfahren entfalten. Doch die strukturelle Leugnung in der Türkei führe dazu, dass diese Erinnerung an den Genozid als solche aberkannt werde und die Betroffenen in ihrem Status als Erinnernde verletze. Altanian zieht drei Beispiele von Verzerrungen hermeneutischer Ressourcen heran, nämlich (a) problematische Definitionen von Genozid, (b) das Konzept von „just memory“, wie es von der türkischen Regierung vertreten werde, und (c) geschichtliche Fehlkonzeptionen.

So werde der Genozidbegriff konzeptionell verzerrt, wenn etwa der historische Kontext ausgeblendet wird, in dem Raphael Lemkin den Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg erstmalig geprägt habe. Denn tatsächlich habe er sich auf den Genozid an den Armenier*innen als ein wesentliches Beispiel für dieses Verbrechen bezogen (122). Weitere konzeptionelle Verzerrungen entstehen durch die Infragestellung der Intention, einem zentralen Bestandteil der Genoziddefinition, und der Verkürzung von Genozid auf die physische Vernichtung einer Gruppe. In der UN-Genozidkonvention heißt es in Artikel 2, dass Genozid verstanden wird als „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (UN, 1948, eigene Übersetzung).

Anschließend werden eine Reihe von Handlungen aufgezählt, die nicht bloß zur physischen, sondern auch zur psychischen, sozialen und kulturellen Vernichtung einer Gruppe führen können. Die Infragestellung der Absicht gehe nicht selten mit dem Hinweis einher, dass es vonseiten der Täter*innen keine schriftliche oder mündliche Bekundung zur geplanten Vernichtung einer Gruppe gebe. Doch in der Tat lasse sich Intention über die Vielzahl an Handlungen erschließen, die auf eine solche Vernichtung abzielten, wie etwa Deportationen und Beschlagnahmungen von Eigentum der Armenier*innen. Solche Verzerrungen hinderten die Betroffenen an der Nutzung des Genozidbegriffes als Ressource für ihre Erfahrungen.

Altanian zeigt außerdem auf, wie die türkische Regierung mit dem Konzept der „just memory“ (126) versuche, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg als abstraktes, von allen geteiltes Leid zu homogenisieren. Zugleich werde jegliche Erinnerung oder Einforderung der Anerkennung an den Genozid als „Armenische Geschichtsperspektive“ (126), als Provokation und als Gefahr für die nationale Sicherheit ausgewiesen. Im Jahr 2017 wurde gar die Nutzung des Begriffes „Armenischer Genozid“ gesetzlich verboten. Zusammengenommen stellten diese Strategien Beispiele für hermeneutische Unterdrückung der Armenier*innen dar: Sie verunmöglichten es ihnen, ihre eigenen historischen Erfahrungen zu verstehen und in das kollektive Wissenssystem der türkischen Gesellschaft einzubringen.

Genozidleugnung als testimoniale und epistemische Unterdrückung

Im nächsten Schritt betrachtet Altanian Genozidleugnung als testimoniale Unterdrückung (testimonial oppression) und untersucht, wie die institutionellen und strukturellen Kontexte sich auf zwischenmenschliche Kommunikation auswirken. Um testimoniale Unterdrückung zu konkretisieren, greift Altanian auf den Begriff testimonial smothering (Dotson 2011) zurück. Damit ist gemeint, das Menschen, die entsprechende Zeug*innenaussagen hören, oft unfähig sind, sie zu begreifen, weil auf gesellschaftlicher Ebene aufgrund der strukturellen Genozidleugnung eine weitverbreitete Ignoranz vorherrschend sei.

Diese Unfähigkeit sei eng mit sozialen Privilegien verbunden, die wiederum mit Vorurteilen gegenüber Armenier*innen einhergehen. Um aber wirksam zu sein, müssen Zeug*innenaussagen von anderen anerkannt werden. Da die Betroffenen wissen, dass ihre Aussagen verhängnisvolle Folgen haben könnten, seien sie gezwungen, diese nicht zu äußern. Sie wollten vermeiden, als nationale Sicherheitsbedrohung negative Stereotype über Armenier*innen zu reproduzieren oder sich gar selbst in Lebensgefahr zu bringen.

Eine der zentralen Thesen des Buches ist, dass strukturelle Genozidleugnung die Überlebenden und ihre Nachfahren epistemisch unterdrücke und außerdem eine Praxis darstelle, die allen Mitgliedern einer postgenozidalen Gesellschaft schade (147), denn sie bringe auch gesamtgesellschaftlich aktiv unwissende Menschen (ignorant agents) hervor, die zahlreiche epistemische Laster (epistemic vices) tragen würden. Altanian wendet sich also auch der Frage nach individueller Verantwortung zu, indem sie untersucht, auf welche Weisen jemand ignorant ist. Sie argumentiert, dass es zu einfach wäre, anzunehmen, Leugner*innen seien durch die staatlichen Institutionen manipuliert, denn das würde sie von einer Verantwortungsübernahme entledigen.

Spannend ist hier die Einsicht, dass Leugnung tendenziell eher auf emotionalen Bedürfnissen beruhe als auf epistemischen, wie etwa der Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes oder der Annahme der eigenen Schuldlosigkeit. Damit wird deutlich, dass auf individueller Ebene sowohl die Bewusstwerdung als auch eine affektive Transformation notwendig seien, um der epistemischen Ungerechtigkeit von Genozidleugnung zu begegnen. Zugleich sei Leugnung mit sozialen und politischen Anreizen verbunden und trage dazu bei, Privilegien zu schützen und zugleich die Kompliz*innenschaft mit Unterdrückungsstrukturen zu verbergen. Leugner*innen haben also tiefsitzende Gründe, ihre Privilegien zu erhalten, weshalb das Thema Genozid und der epistemische Widerstand von Überlebenden dethematisiert werde.

Eine "strukturierte Beschäftigung mit zentralen Begriffen und Definitionen"

Altanian gibt Leser*innen mit The Epistemic Injustice of Genocide Denialism ein wertvolles Kompositum an relevantem Vokabular mit, um die epistemischen Dimensionen von Genozidleugnung besprechbar zu machen. Damit knüpft sie an bisherige Arbeiten zu epistemischer Ungerechtigkeit und epistemischer Unterdrückung an und erweitert diese um den spezifischen Fall von Genozidleugnung am Beispiel des Genozids an den Armenier*innen. Dies stellt eine besondere Perspektive epistemischer Ungerechtigkeit dar, da diese in wechselseitiger Wirkung mit sozialen und politischen Unterdrückungsstrukturen und ihrer institutionellen Stabilisierung (hier: durch den türkischen Staat) hervorgehoben wird. Ihre Studie zeigt auf, wie die Normalisierung von Genozidleugnung in der Türkei Unterdrückungsverhältnisse in ihrer Mehrdimensionalität reproduziert und die sozialen und politischen Bedingungen aufrechterhält, die solche Gräueltaten ermöglichen.

Zwar können die Vielfalt an Begriffen und ihre wechselseitigen Zusammenhänge an manchen Stellen erdrückend erscheinen, dennoch gelingt es Altanian, eine sehr strukturierte Beschäftigung mit zentralen Begriffen und Definitionen vorzunehmen. Teilweise offen bleiben die Verhältnisse zwischen epistemischer Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Schaden und Gewalt, wie auch dem – in diesem Buch nicht thematisierten – Konzept des Epistemizids und seiner Rolle in der Auseinandersetzung mit Genozid(-leugnung).

In der Friedens- und Konfliktforschung spielt spätestens seit Johan Galtung der Gewaltbegriff eine übergeordnete – wenn auch hinsichtlich seiner Enge oder Weite umstrittene – Rolle. Galtung hatte ein erweitertes Gewaltverständnis vorgeschlagen, demzufolge Gewalt dann vorliegt, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1971, 57). Welchen Unterschied macht es dann, wenn entweder epistemische Ungerechtigkeit oder epistemische Gewalt als Überbegriff zentriert wird? Lässt sich Unterdrückung als Unterkategorie von Ungerechtigkeit fassen, oder als strukturelle Gewaltform (oder beides)?

Es wäre bereichernd, die wertvollen Erkenntnisse verschiedener disziplinärer und theoretischer Zugänge zusammenzuführen und zueinander in Bezug zu setzen, um Synergien in der Bekämpfung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Gewalt zu schaffen. Nichtsdestotrotz stellt Altanian sehr deutlich und nachvollziehbar dar, warum für ihre Arbeit die Konzeption epistemischer Unterdrückung geeignet ist und weshalb sie damit operiert.

Wie können "epistemische Reparaturen" aussehen?

Auch für die Genozidforschung stellt die Arbeit wichtige Erkenntnisse dar. Insbesondere die Verwendung von problematischen reduktionistischen Konzeptionen wie ‚Massaker‘ oder ‚Säuberungen‘ anstelle von Genozid, oder ‚Vergessen‘ und ‚Amnesie‘ anstelle von Leugnung, führen zu konzeptionellen Verzerrungen des Genozid- und des Genozidleugnungsbegriffes. Vielmehr sind die Praktiken genozidaler Dynamiken vielfältig und umfassen neben materiellen, ökonomischen und kulturellen Sphären auch epistemischen Schaden (epistemic harm).

Aus Altanians Analyse geht hervor, dass die Verweigerung der Anerkennung historischer Unrechtserfahrungen – in diesem Fall Genozid – eine anhaltende epistemische Ungerechtigkeit darstellt. Mit dem Aufzeigen der epistemischen Dimensionen von Genozidleugnung geht die Einsicht einher, dass die Aufarbeitung von Genozid nicht nur materielle und relationale, sondern auch epistemische Reparaturen erforderlich macht.

Ein wenig kurz kommt jedoch, wie konkret diese epistemischen Reparaturen aussehen können, auch wenn sich einiges von der Analyse epistemischer Unterdrückung ableiten ließe. So bleibt auch der Ausblick auf eine mögliche Transformation der Unterdrückungsstrukturen etwas bescheiden, nämlich mit der Schlussfolgerung, dass einerseits die Transformation individueller Selbstverständnisse und Haltungen und andererseits institutionelle Transformation und sozialer Wandel erforderlich seien (175). Wohlgemerkt, es geht Altanian primär um die Analyse dieser Unterdrückungsstrukturen – konkrete Ableitungen, wie auch die Auswertung anderer Fälle von Genozidleugnung, werden in Zukunft vertiefter und insbesondere transdisziplinärer Aufmerksamkeit bedürfen.


Literatur:

  • Altanian, Melanie (2018): Der Genozid an den ArmenierInnen. Beiträge zur wissenschaftlichen Aufarbeitung eines historischen Verbrechend gegen die Menschlichkeit. Wiesbaden: Springer.
  • Altanian, Melanie (2021): Remembrance and Denial of Genocide: On the Interrelations of Testimonial and Hermeneutical Injustice, in: International Journal of Philosophical Studies 29: 4, S. 595–612.
  • Altanian, Melanie (2022): Rethinking the right to know and the case for restorative epistemic reparation, in: Journal of Social Philosophy [online first]
  • Brunner, Claudia (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.
  • Dotson, Kristie (2011): Tracking Epistemic Violence, Tracking Practices of Silencing, in: Hypatia, 26:2, S. 236-257.
  • Dotson, Kristie (2014): Conceptualizing Epistemic Oppression, in: Social Epistemology, 26:2, S. 253-261.
  • Fricker, Miranda (2007): Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford: Oxford University Press.
  • Galtung, Johan (1971): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, Dieter (Hrsg.) Kritische Friedensforschung, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 55-104.
  • Genocide Watch (n.D.): The Ten Stages of Genocide, in: Genocide Watch Website, online unter https://www.genocidewatch.com/tenstages [letzter Zugriff 29.05.2024]
  • Kidd, Ian; José Medina; Gaile Pohlhaus (2019): The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. New York: Routledge.
  • Medina, José (2013): The Epistemology of Resistance: Gender and Racial Oppression, Epistemic Injustice, and the Social Imagination. Oxford: Oxford University Press.
  • Oranlı, Imge (2018): Genocide Denial: A Form of Evil or a Type of Epistemic Injustice?, in: European Journal of Interdisciplinary Studies, 4:2, S. 45-51.
  • UN (1948): Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, online unter https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.1_Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Genocide.pdf  [letzter Zugriff 17.06.2024]

DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.8
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