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Wolf J. Schünemann: In Vielfalt verneint. Referenden in und über Europa von Maastricht bis Brexit

13.06.2017
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Autorenprofil
PD Dr. phil. Matthias Lemke
Wiesbaden, Springer VS 2017

Das einzig Negative, das man über Wolf J. Schünemanns Buch sagen muss, betrifft das Vorwort. Der Band, so ist da zu lesen, sei der „Verschnitt“ aus der Dissertation des Autors, die er 2014 unter dem Titel „Subversive Souveräne“ veröffentlicht hat. Für das hier nun veröffentlichte Material sei dort kein Platz mehr gewesen und als eigenständige, „konzise wissenschaftliche Studie“ (V) tauge das Ganze auch nicht. Das ist – gelinde gesagt – Understatement, noch dazu ein unglückliches, weil der Band das überhaupt nicht nötig hat. Denn jenseits dieser übertriebenen Bescheidenheit überzeugt das Buch durch eine ausgewogene Balance zwischen Theorie und Empirie und ist noch dazu von bestechender politischer Aktualität. Angesichts der zentralen Fragestellung des Autors nach der Funktion und Legitimität von Referenden zeichnen sich zwei große Themenblöcke ab – zum einen jener, der nach den demokratietheoretischen Hintergründen direktdemokratischer Entscheidungsformate und nach ihrer Legitimität in Konkurrenz zu repräsentativ-demokratischen Verfahren fragt; und zum anderen jener, der anhand konkreter Fallanalysen die Spezifika einzelner Referenden zu erfassen und einer Typologisierung zugänglich zu machen versucht.

Was zunächst den demokratietheoretischen Themenblock anbelangt, so macht Schünemann dort nicht nur deutlich, dass die politisch-prozedurale Integration von Referenden in repräsentativ-demokratische politische Systeme höchst problematisch ist. Referendum und Repräsentation seien einander, darauf hatte bereits Ernst Fraenkel hingewiesen, wesensfremd. Das liegt am Problem sich ausschließender Letztentscheidungsbefugnis. Wenn ein Referendum das letzte Wort in einem politischen Entscheidungsverfahren ist, dann schwächt es die gewählten Repräsentanten. Können diese allerdings am Tag nach einem Volkentscheid diesen wieder aufheben, dann stellt sich die Frage nach dessen Sinnhaftigkeit. Beispiele dafür hat es gegeben, erst unlängst in Griechenland im Kontext der Staats- und Finanzkrise, wie Schünemann zeigt.

Zudem ist Referendum nicht gleich Referendum. Grundsätzlich handelt es sich bei einem Referendum nicht, wie das bei Volksentscheiden der Fall sei, um einen Initiativakt zur Gesetzgebung. Vielmehr sei ihnen, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Einbringung mit Blick auf den Entscheidungsgegenstand, der Effekt gemein, dass sie mit der Befragung der Bevölkerung einen weiteren Vetospieler im Entscheidungsprozess des politischen Systems etablieren. Die insgesamt 53 Referenden, die Schünemann mit Blick auf europäische Integrationspolitiken von In- und Outsider-Staaten seit 1972 gesammelt hat, erlauben eine Unterscheidung in Beitrittsreferenden und Vertragsreferenden, bei denen wiederum drei Phasen zu unterscheiden sind: (1) konstitutive Findungsreferenden, die ab 1972 zu beobachten waren und denen gemeinsam war, dass sie – außer im Falle Norwegens – in eine Kräftigung und Bejahung der Binnenintegration mündeten; (2) defensive Blockadereferenden, die seit 1992 mit dem dänischen Nein zum Maastricht-Vertrag vermehrt aufgetreten sind und deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie – wie etwa im Falle der Nein-Entscheidungen zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden 2005 – das Vetoplayer-Potenzial der nationalen europäischen Bevölkerungen offenbart haben, ohne dass dies von den Referenden selbst intendiert war; und schließlich (3) offene Misstrauensreferenden seit 2014, deren „großes Verstörungspotenzial“ (12) darin besteht, dass sie erfolgreich europäische Integrationsschritte aufheben, wie das besonders deutlich beim Brexit der Fall war.

Vom Typus des Vertragsreferendums, das naturgemäß in den Insiderstaaten angesiedelt ist und das historisch in drei Phasen unterteilt werden kann, sind die Beitrittsreferenden zu unterscheiden. Schünemann führt sie deswegen als separate Kategorie, weil hier die Auswirkungen auf das Institutionengefüge der Europäischen Union anders sind. Zwar könne es zu politischem oder öffentlichem Bedauern führen, wenn durch den negativen Ausgang eines Referendums ein Beitritt nicht vollzogen werde. Allerdings habe das Ausbleiben eines Beitritts keine retardierenden Folgen für die Binnenintegration der Mitgliedstaaten selbst.

In Kapitel fünf, das zweifelsohne den Schwerpunkt des Buches bildet, geht es um konkrete Fallstudien, die ob ihrer jeweils spezifischen nationalen Ausgangsbedingungen nur schwer miteinander zu vergleichen sind. Der Paradefall, der wie kein anderer für die Retardierung, wenn nicht gar für die Zerstörung von Integration steht, ist jener des Brexits. In analoger Systematik wie für mehrere andere Misstrauensreferenden auch zeigt Schünemann, wie die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler in Großbritannien zustande kam, die Europäische Union zu verlassen. Dem Referendumsprozess, dessen Beginn er auf den Januar 2013 datiert, lag ein parteitaktisches Kalkül David Camerons zugrunde, der so das europaskeptische Lager der Tories disziplinieren wollte. Hinzu kam der zunehmende politische Druck durch die UK Independence Party (UKIP), die das konservative Lager zusätzliche Stimmenanteile gekostet hat. Mit anderen Worten: Das Referendum über den Brexit schien den Verantwortlichen aus innenpolitischen und parteitaktischen Überlegungen opportun, ohne dass es jemals einen manifesten, sprich rechtlich eindeutigen Grund gegeben hätte, es überhaupt durchführen zu müssen. Das Ergebnis wiederum ist bekannt. In einem langen und hart geführten Wahlkampf, in dem die Anhänger der Leave-Option den Ausstieg aus der Europäischen Union als „letzte Chance dar[stellten], die Kontrolle über die nationalen Belange zu erhalten, anstatt sie weiterhin nicht-gewählten Bürokraten in Brüssel zu übertragen“ (149), kam es letztlich zum Bruch Großbritanniens mit der Union. Was das für die Politik der europäischen Integration wie auch für die Binnenintegration Großbritanniens bedeuten wird, ist derzeit noch offen.

Was also bleibt? Zum einen, so Schünemanns skeptische Einschätzung, werde die Luft für proeuropäische Stimmen zunehmend dünner, der „proeuropäische Mainstream wird in den meisten Staaten unter Druck geraten“ (201). Zum anderen werden, trotz oder gerade auch wegen der Brexit-Entscheidung, direktdemokratische Verfahren künftig noch intensiver genutzt werden. Andererseits bestehe jedoch auch Grund zur Hoffnung. Denn direktdemokratische Verfahren oder Partizipationsprozesse, die eine hohe Integrationsbereitschaft zum Ausdruck bringen, gibt es – man denke etwa an die Bewegung Pulse of Europe – auch. Und vielleicht birgt gerade die aktuelle Situation nach dem Beginn der Brexit-Verhandlungen eine Chance für eine Erneuerung der europäischen Integration. Denn die Europäische Union „ist fortan von ihrem größten Störenfried befreit“ (202).

 

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