Alexander Thiele: Defekte Visionen: Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union
Wie geht es weiter mit der EU, fragt der Staatsrechtler Alexander Thiele. Gründlich seziert er fünf prominente Reformvorschläge zu ihrer Zukunft und kommt zum Schluss, dass es allen an einem normativen Leitbild mangele. Die Zukunft der EU liege stattdessen nicht im großen Wurf, sondern in einer Politisierung und schrittweisen Reformen, so Thiele. Rezensentin Gabriele Abels, Professorin für Europäische Integration in Tübingen, lobt das Buch für seine unaufgeregte Art, hat aber auch Kritik: Diese betrifft sowohl Thieles Fallauswahl der untersuchten Visionen als auch seine Bewertung der Rolle des Europäischen Parlaments.
Eine Rezension von Gabriele Abels
Auch nach den Wahlen zum Europäischen Parlament wird die Frage danach, was die Europäische Union eigentlich ist und – ebenso – was sie sein sollte, wieder dringlicher diskutiert. Abermals wurden diese Wahlen zur Schicksalswahl für die Union erklärt. Ob dieses Narrativ auch nach der Wahl noch trägt, nachdem es schon die Wahlen 2014 und 2019 bestimmt hat, ist zumindest fraglich. Zugleich ist die Bedeutung der Wahlen für den weiteren Integrationsprozess zweifelsohne nicht zu unterschätzen. Denn die Krisen der letzten Jahre – nicht zuletzt seit der 2019er-Wahl die Covid-19-Pandemie und nun der Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine – stellen in der Tat eine wichtige Bewährungsprobe für die Union dar.
Vor diesem Hintergrund widmet sich das Buch des Staats- und Europarechtlers Alexander Thiele der Finalitätsfrage. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass es den Visionen zur Zukunft der EU „an einem normativen Leitbild mangelt“ (9), dass es aber eines solchen normativen Leitbildes bedürfe, um stringente Visionen entwickeln zu können. Das Buch wendet sich explizit an ein breites, interessiertes Publikum. Entsprechend kurz ist es mit 116 Seiten Text gehalten.
Das Buch gliedert sich in vier Teile. Nach einer längeren Einführung zu den Anforderungen an demokratische Herrschaftssysteme und Kritiken am politischen System der EU als „europäischem Monstrum“ widmet sich Teil 1 den fünf ausgewählten Visionen. In Teil 2 diskutiert Thiele Kriterien guter Herrschaft, die er im abschließenden Teil 3 dann mit Bezug auf die Legitimität der EU ausbreitet. Im knappen Ausblick werden die Überlegungen zusammengefasst.
Ausgangspunkt der theoretischen Einführung ist, dass die EU staatstheoretisch „nie zu fassen“ (11) war, was in der Einordnung des Bundesverfassungsgerichts als Staatenverbund zum Ausdruck komme. Maßstab für die Bewertung müsse, so Thiele, die Funktionsfähigkeit und Anerkennungswürdigkeit des Systems sein. Konkret müsse es bei den Entwicklungsperspektiven für die EU um die Frage gehen, „welches konkrete Problem durch die europäische Integration wie gelöst werden soll“ (16). Diese Frage trete aber zu sehr in den Hintergrund, wenn Integration zum Selbstzweck werde und Vorschläge eher zur „Verunklarung“ denn zur Klärung beitragen würden, wie etwa zuletzt das Juncker-Weißbuch zu den Entwicklungsszenarien. De facto sei die EU eine „politische Herrschaftsorganisation“ (24) und eine „politische Rechtsgemeinschaft“ (26). Da Recht also nie unpolitisch oder rein funktional sei, müsse – Thiele bezieht sich hier auf Chantal Mouffes agonistisches Demokratie-Modell – auch um die normative Idee gestritten werden. Für Thiele müsse das Ziel darin bestehen darzulegen, wie im Mehrebenensystem nationale und EU-Ebene zusammen „zur Maximierung der erforderlichen Verbundlegitimität zusammenwirken können“ (27).
Im ersten Teil diskutiert Thiele fünf Reformvorschläge zur Zukunft der EU und befragt diese in Bezug auf ihre normative Leitidee. Er charakterisiert alle Vorschläge als „defekte Visionen“, weil es ihnen – trotz im Einzelnen kluger und interessanter Vorschläge zur attestierten Reformbedürftigkeit der Union – an einer normativen Leitidee mangele. Konkret widmet er sich der Humboldt-Rede Joschka Fischers (2000), der Sorbonne-Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron (2017) sowie der Prager Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (2022) und schließlich den Vorschlägen der EU-Aktivisten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer (2021) und der EU-Zukunftskonferenz (2022). Thiele räumt ein, dass die Auswahl der fünf Vorschläge willkürlich sei. Was sie eint, ist, dass sie alle aus dem politischen Betrieb oder aus dessen unmittelbarer Umgebung stammen. Insofern ist es zumindest fraglich, ob die Erwartung, dass hier politiktheoretisch eine normative Leitidee, die staatsrechtlichen und politiktheoretischen Ansprüchen auch nur im Ansatz genügen würde, entwickelt werden kann. Man fragt sich, warum nicht auch Vorschläge berücksichtigt wurden, die eine breitere Diskussion entzündet haben, aber gleichwohl stärker theoretisch verankert sind, wie etwa die Interventionen von Ulrike Guérot („Warum Europa eine Republik werden muss“, 2016)?
Im zweiten Teil entwickelt Thiele die Idee, dass ein starker „Legitimitätsglaube“ (Max Weber) in die Union das zentrale Ziel sein müsse. Hierfür bedürfe es eines Dreiklangs aus „ausreichender Teilhabe“ der Bürgerinnen und Bürger an der Herrschaft sowie eine „ausreichende Begrenzung“ und „ausreichende Leistungsfähigkeit“ der Herrschaft (67). In Bezug auf alle drei Dimensionen konstatiert Thiele Defizite, die auch in der einschlägigen Literatur breit diskutiert werden. Dieser Analyse ist grundsätzlich zuzustimmen. Ärgerlich ist es aber, wenn Thiele den Mythos vom schwachen Europäischen Parlament reproduziert, „das nichts (oder wenig) zu entscheiden hat“ und „das Wahlrecht zu einem symbolischen Akt ohne Wert“ (73) reduziert wird. Das Defizit des Europäischen Parlaments in Bezug auf die Kommunikationsfunktion mit der Wählerschaft, verdeutlicht in der niedrigeren Wahlbeteiligung“ (dem sog. Nebenwahl-Charakter), soll hier ebenso wenig in Abrede gestellt werden wie das Problem fehlender Wahlrechtsgleichheit. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass das Parlament heutzutage in der Regel (im sog. „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“) als Mitgesetzgeber mit den nationalen Regierungen im Rat agiert. Gerade die Gesetzgebungsfunktion des Parlaments ist seit den 1990er-Jahren massiv gestärkt worden. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments macht sehr wohl einen Unterschied für spätere Politiken. Zur Begrenzung der Herrschaft ist anzumerken, dass Versuche einer konsequenteren Abgrenzung von Kompetenzen nach Ebenen wiederholt gescheitert sind bzw. sich gerade im Kontext von Krisenmanagement die Notwendigkeit nach einer Neusortierung von Kompetenzen stellte. Kritisch anzumerken ist zudem, dass bei aller notwendigen Komplexitätsreduktion eines Buchs die subnationale Ebene der Regionen zumindest kurz angerissen werden sollte. Denn die Debatte um das „Europa der Regionen“ und die Rückwirkungen der europäischen Integration auf den deutschen Föderalismus ist immer wieder intensiv geführt worden. Schließlich ist auch die Frage nach der Leistungsfähigkeit des politischen Systems hoch relevant. Ob man aber angesichts der sich dramatisch ändernden sicherheitspolitischen Herausforderungen so einfach, wie Thiele dies postuliert, das Ende des „Friedensnarrativs“ erklären sollte, scheint mir zumindest fraglich, wenngleich das Friedensversprechen als alleinige Begründung nicht ausreicht.
Der dritte und letzte Teil beginnt mit der überraschenden und optimistischen Feststellung, dass – bei allen nationalen Differenzen – die Zustimmungswerte zur Europäischen Union insgesamt weiterhin relativ hoch sind, wie Eurobarometer-Umfragen regelmäßig belegen. Thiele entwickelt hier einige Ideen weiter. So könnten neben den Formen formaler Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger auch informelle, eher zivilgesellschaftliche und verständigungsorientierte Strukturen ausgebaut werden. Er plädiert für eine umfassendere Politisierung der EU-Politik, inklusive der Entscheidungen für die Wirtschaftsgemeinschaft. In Bezug auf die Begrenzung der Herrschaft begrüßt Thiele ebenso ausdrücklich die Weiterentwicklung der Grundrechte, wie er den Gerichtshof der Europäischen Union vor der verbreiteten Kritik einer Kompetenzanmaßung in Schutz nimmt. Probleme kompetenzieller Abgrenzung seien vielmehr in der Natur der Entwicklung der Kompetenzordnung und der vertraglich fixierten Vision einer „immer engeren Union“ begründet, welche durchaus auf eine Ausweitung durch die Gerichte abziele. Mittelfristig hält Thiele allerdings eine Neujustierung der Kompetenzordnung für geboten, beispielsweise auch durch eine Nachschärfung des Subsidiaritätsprinzips.
Unklare Verantwortlichkeiten sieht Thiele als problematisch, damit Bürgerinnen und Bürger politische Verantwortlichkeit zurechnen und die Leistungsfähigkeit der Union bewerten können. Er räumt ein, dass diese Verantwortungszurechnung aber auch in den Mitgliedstaaten komplex und problematisch ist. Eine weitere Ausweitung des Mehrheitsprinzips könnte ebenso wie eine Verkleinerung – oder zumindest weitere interne Hierarchisierung – der Kommission etwas Abhilfe schaffen.
In seinem knappen Ausblick warnt Thiele vor „fatalistischen Untergangsszenarien“ (113) und verweist auf die hohe Stabilität und insgesamt breite Anerkennung der politischen Ordnung der EU. Er betont den genuin politischen Charakter der Union, die jedoch kein Selbstzweck sein könne, sondern leistungsfähig sein müsse. Die Union müsse sich vielmehr an den „tradierten demokratischen Legitimitätsanforderungen“ (114) messen lassen mit dem Ziel, die „Verbundlegitimität“ des Mehrebenensystems weiterzuentwickeln.
Thieles Buch ist in vielerlei Hinsicht anregend, insofern er auf radikale Zuspitzungen verzichtet und stattdessen inkrementelle Reformnotwendigkeiten betont. Wohltuend ist dabei seine vorbehaltlose Anerkennung der Union als politische Gemeinschaft, die aber diesen politischen Charakter nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern stärker berücksichtigen müsse. Einer funktionalistischen Strategie der Entpolitisierung von Sachpolitiken erteilt Thiele eine Absage. Anregend sind auch seine Überlegungen zur Systematisierung der normativen Leitideen. Im Hinblick auf die herangezogenen Visionen wäre gleichwohl eine Begründung der Auswahl statt des knappen Eingeständnisses der Willkür sinnvoll gewesen. Das demokratische Potential etwa der EU-Zukunftskonferenz, dessen Abschlussbericht als defizitär kritisiert wird, lag im partizipativ-deliberativen und experimentellen Charakter – konkret: in der erstmaligen direkten Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern aus allen 27 Mitgliedstaaten an einer Reformdebatte. Anforderungen politiktheoretischer Art zu formulieren, wäre ebenso eine Überfrachtung des partizipativen Instruments wie eine Überforderung der beteiligten Bürgerinnen und Bürgern.
Um im Sinne des Autors über die Zukunft der Union zu streiten, wäre dem Buch auch nach der Europawahl eine große Leserschaft zu wünschen. Denn die Zeiten um Wahlen sind nun mal Zeiten intensiver politischer Kommunikation, die sowohl an die Wählerschaft als auch an die politischen Parteien und europäischen Akteure hohe Anforderungen stellen.
Demokratie und Frieden