Philipp Adorf / Ursula Bitzegeio / Frank Decker (Hrsg.): Ausstieg, Souveränität, Isolation. Der Brexit und seine Folgen für die Zukunft Europas
Die Absicht der Herausgeber dieses Sammelbandes ist es, den Brexit aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Die Ursachen und Triebkräfte der Austrittsentscheidung werden noch einmal rekapituliert und als das Produkt mehrerer zusammenhängender und sich gegenseitig verstärkender Krisen dargestellt: „einer allgemeinen Vertrauenskrise der repräsentativen Institutionen in den westlichen Demokratien […], einer Krise des europäischen Integrationsprozesses und einer Krise des britischen Nationsverständnisses und Regierungsmodells“.
Mehr als dreieinhalb Jahre sind seit dem knappen Brexit-Votum am 23. Juni 2016 vergangen. Knapp 52 Prozent der Abstimmenden entschieden sich an diesem Tag für einen EU-Austritt, mehrheitlich vor allem in Wales und England, während Nordirland und Schottland deutlich für einen Verbleib in der EU votierten. Zum 31. Januar 2020 ist Großbritannien nunmehr aus der Europäischen Union ausgetreten. Nach einigen eher persönlich gehaltenen beziehungsweise journalistisch geprägten Werken zum Thema sind inzwischen auch (politik)wissenschaftliche Publikationen zu dieser Entscheidung erschienen. Die zuletzt nahezu wöchentlich stattfindenden Volten im Ringen um einen Brexit-Deal unter Boris Johnson, der nach David Cameron mit Theresa May inzwischen sein zweites personelles Opfer im Amt des Premierministers gefunden hat, illustrieren die Kontroversität des Themas.
Umso wichtiger scheint die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Brexit zu sein, und der von Philipp Adorf, Ursula Bitzegeio und Frank Decker herausgegebene Band, mit dem der Untersuchungsgegenstand Brexit aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und in einen größeren systematischen Kontext verortet werden soll, könnte passender nicht kommen.
Der Band beruht auf einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Tagung, einige Aufsätze sind darüber hinaus eigens für dieses Werk entstanden. Dabei sind fünf der zwölf Beiträge in englischer Sprache gehalten. In ihrer Einführung beschreiben die drei Herausgeber „Symptom und Folge politischer Krisen“. Zugleich begründen sie, ausgehend vom Verweis auf aktuelle Meinungsumfragen, die nahelegen, dass ein neuerliches Referendum heute vermutlich nicht anders ausgehen würde als im Jahre 2016, das Grundanliegen des Bandes: „Umso wichtiger ist es, sich die längerfristigen Ursachen und Triebkräfte der Austrittsentscheidung noch einmal vor Augen zu halten, die das Produkt mehrerer zusammenhängender und sich gegenseitig verstärkender Krisen darstellen: einer allgemeinen Vertrauenskrise der repräsentativen Institutionen in den westlichen Demokratien – festzumachen am Aufstieg des Rechtspopulismus –, einer Krise des europäischen Integrationsprozesses und einer Krise des britischen Nationsverständnisses und Regierungsmodells“ (11). Diese drei grundlegenden Aspekte – der Brexit als Teil der (rechts)populistischen Revolte in den westlichen Demokratien, der Brexit als Teil der Krise der europäischen Integration (im Sinne einer „Polykrise“, die es nicht erlaubt, die Krisenphänomene getrennt zu betrachten, sondern als ein zusammenhängendes Ganzes zu interpretieren ist) sowie der Brexit als Teil der Krise des Vereinigten Königreichs – werden im Folgenden näher spezifiziert und legen damit die Grundlage für die weiteren Beiträge des Bandes. Zusammen liefern die Texte „Mosaiksteine, die sich zu einem größeren Bild der Ursachen, der Umstände und der Folgen des Brexit zusammenfügen“ (20 f.).
Der Schöpfer des Begriffs der „Postdemokratie“, der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch, leitet den Band mit einigen „Anmerkungen“ zum Themenkomplex „Europa jenseits des Neoliberalismus“ ein. Dieser Beitrag leistet zweierlei: Zum einen kritisiert Crouch die neoliberalen Schattenseiten europäischer Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, zum anderen streicht er die positiven Errungenschaften des bisherigen europäischen Einigungsprozesses heraus und warnt in deutlichen Worten vor einer Renationalisierung europäischer Politik.
Philip Warncke bietet unter der Überschrift „Populistische Paukenschläge mit Ansage?“ einige Überlegungen zur „Vorhersehbarkeit des Brexits und des Wahlsiegs von Trump“. Damit thematisiert er den „doppelten Umfrageschock von 2016“ (33) und untersucht detailliert die Messgenauigkeit der britischen und US-amerikanischen Vorwahlprognosen von 2016. So sahen etwa sieben der letzten zehn vor dem Wahltag erhobenen Umfragen in Großbritannien einen Sieg des „Remain“-Lagers voraus – teilweise mit zehn Prozentpunkten Vorsprung. Und noch am Vorabend der amerikanischen Präsidentschaftswahl am 8. November 2016 sagten fast alle amerikanischen Umfrageinstitute einen (deutlichen) Wahlsieg Hillary Clintons voraus. Das tatsächliche Wahlergebnis fiel dann, insbesondere beim Blick auf das Ergebnis im Electoral College, anders aus. Zur Erläuterung dieser Phänomene präsentiert Warncke eine Fülle an empirischen Befunden. Auffallend sind für ihn insbesondere die regionale Ausprägung der Messfehler der Vorwahlumfragen sowohl beim Brexit-Referendum als auch bei der US-Präsidentschaftswahl 2016, er thematisiert ebenfalls das Auftreten der Leave-Kampagne sowie unmittelbar vor dem Referendum auftretende Ereignisse wie der Mord an der Labour-Politikerin Jo Cox eine Woche vor der Abstimmung. Warncke beendet seine Ausführungen mit der Erwartung, dass die „populistischen Paukenschläge von 2016 nur weitere Symptome einer möglicherweise grundlegenden Verschiebung der Parteienlandschaft westlicher Demokratien“ (46) sind.
Gleich mehrere Beiträge des Bandes fokussieren auf die regionale Dimension des Brexits. So beschäftigt sich Gareth J. P. Evans mit dem Thema „Brexit and the Territorial Constitution“ („Reframing the Federal Idea“) und plädiert für ein gegenüber einem institutionalisierten Föderalstaat offeneres Föderalismus-Modell, das sowohl den Grundsatz der Parlamentssouveränität als auch die in Großbritannien vorherrschende Praxis flexibler Verfassungsanpassungen zu vereinbaren versucht. Matthew J. Goodwin thematisiert anschließend unter der Überschrift „Brexit. Causes and Consequences“ die These, dass das Brexit-Ergebnis ähnliche Ursachen aufweist wie das Erstarken des Rechtspopulismus in anderen europäischen Ländern („Why Brexit Was a Long Time Coming“, vgl. 59). Wichtig ist für ihn vor allem die Diskrepanz zwischen einer liberal eingestellten, gut gebildeten Gruppe von Kosmopoliten und der traditionellen weißen Arbeiterklasse, die sich kulturell entfremdet und ökonomisch im Stich gelassen fühle (vgl. 68-71). Darüber hinaus beschäftigt sich Madeleine Myatt mit der ihrer Ansicht zufolge unterschätzten Bedeutung der „Border Question“ zwischen Irland und Nordirland im Nachgang des Brexits – nicht zufällig hat sich genau dieses Thema zum Hauptstreitpunkt aller Brexit-Deal-Verhandlungen der vergangenen Monate entwickelt.
Gleich zwei Beiträge nehmen Schottland in den Fokus. Rebecca Zahn fragt nach den Konsequenzen des Brexits für die Verfassungslandschaft des Vereinigten Königreichs und Schottlands beziehungsweise der konkreten Beziehungen Schottlands zu den übrigen Landesteilen und greift damit ein höchst spannendes, weil auf den ersten Blick nicht direkt auf der Hand liegendes Thema auf. Letzterem widmet sich auch Philipp Adorf und diskutiert die Aussicht, dass Schottland Mitglied des Vereinigten Königreichs bleibt. Er sieht den Erfolg der Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands skeptisch, wofür nicht zuletzt dessen enge wirtschaftliche Verflechtung mit den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs verantwortlich sein dürfte.
Frank Decker rekurriert in seinem Beitrag auf die Rolle der direkten Demokratie am Beispiel des Brexits („Brexit as a Failure of Direct Democracy“). Er betont, dass das Ergebnis des Brexit-Votums nicht auf Probleme mit der direkten Demokratie selbst verweist, sondern eher auf deren Implementierung. Zugleich widmet er sich der Rolle der politischen Eliten in diesem Prozess. Dabei thematisiert er die britische Parlamentssouveränität – insbesondere mit Blick auf den Aspekt der britischen Europaskepsis („Parliamentary sovereignty, popular sovereignty, constitutional sovereignty. Who has the final say?“ vgl. 116 ff.). Anschließend betont er, dass ein Referendum durchaus zum parlamentarischen System Westminsters passt. Am Ende seines Beitrages schlägt er den Bogen zur Diskussion direktdemokratischer Elemente in der Bundesrepublik.
Madeleine Myatt und Jasmin Siri erörtern die rechtspopulistische Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler in der Brexit Kampagne und betonen dabei insbesondere die Rolle der Medien. Dazu wählen sie den Vergleich der United Kingdom Independence Party (UKIP) und ihrer Brexit-Kampagne mit der deutschen AfD. Zunächst geht es um die spezifischen Kommunikationsstrategien der relevanten Akteure sowie anschließend um die jeweilige Reaktion der traditionellen politischen Akteure hierauf. Den Blick über Großbritannien hinaus richtet Anna Wenz-Temming („Der Brexit: Reformchance für das europäische Finanzsystem“), indem sie nach den Konsequenzen des Austritts Großbritanniens für die Zukunft des Finanzsystems der EU fragt.
Lukas Daubner und Finn-Rasmus Bull erweitern die Perspektive des Bandes, indem sie in Bezug auf die EU einen „organisationssoziologischen Blick auf Mitgliedschaftsfragen in einem hybriden Entscheidungssystem“ richten und in diesem Zusammenhang die Europäische Union als „Metaorganisation“ klassifizieren.
So vielfältig und spannend die Zusammenstellung der Beiträge auf den ersten Blick auch anmuten mag, so sehr vermisst man bei der Lektüre der einzelnen Beiträge gelegentlich einen durchgehenden roten Faden. Damit kann der ursprünglich anvisierte und angekündigte Anspruch nicht vollumfänglich eingelöst werden. So erlaubt zwar der Band unterschiedliche, mitunter spannende Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand, die sich durchgehend sehr interessant lesen lassen. Ein zusammenfassendes Resümee am Ende des Bandes hätte den erwähnten roten Faden des Bandes (noch) stärker hervortreten lassen können. Ebenso spannend wäre ein Blick auf sich nun möglicherweise anschließende weitere Forschungsfragen gewesen, die über das Konzept dieses Werkes hätten hinausweisen und eine weiterführende Forschungsagenda umreißen können.
Entstanden ist auf jeden Fall ein vielschichtiges, äußerst lesenswertes Buch über ganz unterschiedliche Aspekte rund um die Brexit-Abstimmung. Besonders erwähnenswert ist dabei die Tatsache, dass auch Gesichtspunkte aufgegriffen wurden, die über das reine Brexit-Thema hinausweisen und eine Verortung des Untersuchungsgegenstandes in einem größeren Kontext erlauben. Hilfreich für die weitere Beschäftigung mit dem Forschungsthema Brexit ist zudem eine ausführliche Auswahlbibliografie zu den Themenbereichen Brexit selbst und darüber hinausgehend Populismus, Europäische Union sowie Vereinigtes Königreich, die den Band beschließt.
Nach dem inzwischen erfolgten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gehen die Brexit-Verhandlungen in die nächste, entscheidende Phase: In nur noch zehn Monaten Übergangszeit gilt es, das zukünftige Verhältnis von EU und Großbritannien in Wirtschaft, innerer Sicherheit und Außenpolitik sowie einen institutionellen Gesamtrahmen auszuhandeln. Und man darf gewiss sein, dass auch der weitere Brexit-Prozess die ungeteilte Aufmerksamkeit der politikwissenschaftlichen Forschung finden wird.
Demokratie und Frieden
Analyse
To fear or not to fear – Brexit als Sieg von Angst und Wut? Negative Campaigning in den Referendumskampagnen von Nigel Farage und David Cameron
Dass Angst und Wut eine treibende Kraft im Referendumswahlkampf spielten und sowohl Nigel Farage als auch David Cameron die Strategie des Negative Campaigning praktizierten, um Wähler*innen zu mobilisieren, zeigt Katrin Lampe auf. Die Entscheidung der Wähler*innen sei nicht nur durch Fakten, sondern auch durch rhetorische Strategien und substanzlose Inhalte beeinflusst worden. Farage habe die EU zum Feindbild gemacht, die Großbritannien seiner Macht beraubt habe. Aber auch Cameron habe sich negativer Inhalte bedient.
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Digirama
Gabriel Felbermayr
Brexit: "Deutschland verliert einen wichtigen Verbündeten"
Institut für Weltwirtschaft, IFW-News, 13. Dezember 2019
Caroline de Gruyter
Why the UK will try to remain close to the EU
European Council on Foreign Relation, 27. Januar 2020
Institut für Parlamentarismusforschung (IParl)
Johnson, Brexit und Corona – Das britische Unterhaus im Dauerstress
Zwischenruf – Der politikwissenschaftliche Podcast rund um's Parlament
IParl-Podcast Folge 3, 25. Juni 2020
Über die Lage des britischen Parlamentarismus diskutieren Prof. Dr. Roland Sturm und Diana Zimmermann (ZDF-Studio London) in dieser Folge, moderiert von Malte Cordes (IParl).
Nina Locher
Auf Wiedersehen, Großbritannien! Eine Bilanz
Heinrich-Böll-Stiftung, 31. Januar 2020
Eckhard Lübkemeier
Brexit is a triumph of European solidarity – for now
Deeper integration and shared sovereignty needed to meet future challenges
The Irish Times, 5. Dezember 2020
Paul Mason
Weg frei für Xenophobie: Johnson nutzt den Brexit für seinen Kulturkampf, mit der EU als äußerem und Migranten als innerem Feind. Labour hat dem nichts entgegenzusetzen.
IPG-Journal, 6. März 2020
Thomas Raines
What Boris Johnson’s Big Win Means for Brexit and Scotland
Chatham House, 13. Dezember 2019
Philipp Sälhoff
Brexit Actually
polisphere, Newsletter politnews, 3. Februar 2020
Amanda Sloat
Order from Chaos: Brexit endgame: Brexit nears, Northern Ireland assembly reconvenes, and Megxit distracts
Brookings Institution, 13. Januar 2020
Mehr zum Themenfeld Europa und EU: auf dem Weg zur Eigenständigkeit?