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Rezension / 15.11.2018

Thanasis Lagios / Vasia Lekka / Grigoris Panoutsopoulos: Borders, Bodies and Narratives of Crisis in Europe

Basingstoke, Palgrave Macmillan 2018

Mit ihrem gemeinsamen Buch werfen drei junge Wissenschaftler*innen aus Griechenland einen philosophischen wie literarischen Blick auf die Zusammenhänge zwischen den Diskursen der Migration und der Finanzkrise im modernen Europa. Indem sie Kunst und Kultur, die Medien, die europäischen Institutionen und ihre Repräsentanten sowie moderne Mechanismen von Überwachung und Kontrolle miteinander in Beziehung setzen, wollen sie einen Ausweg aus dem Dilemma finden, in das der europäische Diskurs der Menschenrechte durch die „Krise des Humanismus“ seit Beginn der 2010er-Jahre geraten ist.

Der Sound der Grenze. Über die Krise des Humanismus in Europa

Die Autor*innen sind drei junge Wissenschaftler*innen aus Griechenland und arbeiten im Bereich zwischen kritischer Theorie und poststrukturalistischer Kritik. Der Wissenschaftshistoriker und Aktivist Grigoris Panoutsopoulos schreibt über neue Formen faschistischer Gewalt und Organisation nach der Staatschuldenkrise, die Medizinhistorikerin Vasia Lekka forscht über den Begriff der Biopolitik sowie der Psychiatrie und der politische Philosoph Thanasis Lagios publiziert unter anderem über Foucault und den Maoismus.

Mit ihrem gemeinsamen Buch werfen sie einen philosophischen wie literarischen Blick auf Zusammenhänge zwischen den Diskursen der Migration und der Finanzkrise im modernen Europa. Darin werden Perspektiven auf Kunst und Kultur, die Medien, die europäischen Institutionen und ihre Repräsentanten sowie moderne Mechanismen von Überwachung und Kontrolle miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Wiese soll ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden werden, in das der europäische Diskurs der Menschenrechte durch die „Krise des Humanismus“ (6) seit Beginn der 2010er-Jahre geraten ist.

Im ersten Beitrag, der sich um das Thema Grenze und Ausschluss dreht, wird das Wiederauftauchen der überwunden geglaubten Dichotomie von „Flüchtlingen/refugees“ und „Migranten/migrants“ skizziert. Die Autor*innen zeigen, inwiefern die Akzeptanz von Flüchtlingen diskursiv an eine Zurückweisung von (Wirtschafts-, Armuts- oder unqualifizierten etc.) Migrant*innen gebunden bleibt. So werden die teilweise tatsächlich völlig willkürlichen Definitionen, wer als Flüchtling gilt (Syrien: ja – Afghanistan: nein) erklärt: Der unvollständige Humanismus produziert regelrecht einen Bedarf der Institutionen nach „refugee drama“, um sich zu rechtfertigen. Geflüchtete müssen ihre „refugeeness“ performativ unter Beweis stellen (15) und im Blick (gaze) Europas als Geflüchtete funktionieren, sprich ausreichend traumatisiert, ausreichend mittellos, ja schlicht ausreichend traurig erscheinen, um nicht als unerwünschte Migranten abgeschoben zu werden. Mit verstörender Präzision nehmen die Autor*innen damit etwa die jüngsten Fälle vorweg, in denen Geflüchtete mal als „nicht schwul genug für Asyl“, mal als „zu aggressiv“ oder zu mädchenhaft“ eingestuft wurden und auf dieser Grundlage negativ über deren Aufenthaltsrecht beschieden wurde.

Ein weiterer Beitrag untersucht Dokumente unter anderem von der Bertelsmann Stiftung, der Europäischen Kommission und von Daimler, BASF und Siemens, in denen verschiedene Szenarien des demografischen Wandels und des Beschäftigungsgrades diskutiert werden. Insofern kommt eine „Verallgemeinerung des Konzepts von Grenzen an sich“ (47) in den Blick: Es geht nicht nur um den Schutz der EU-Außengrenzen, sondern auch um einen „Testlauf“ für verschiedene Mechanismen, mit denen Körper als Produktionsmittel auch im Inneren reguliert und kontrolliert werden können. Der Band kann damit – sieht man einmal über die sehr unzugängliche und unnötig komplexe philosophische Darstellungsweise hinweg –auch schlicht als Versuch zur Konkretisierung einer alten These gelten: Dass eine Gesellschaft, die andere unterdrückt, auch im Inneren notwendigerweise nicht freiheitlich sein kann. Das Konzept der Biopolitik kann dabei helfen, die Verwandtschaft von Illegalität und Irregularität einerseits mit den Mechanismen von Ausschluss, Normierung und Zurichtung sowie Verwertbarkeit und Wertlosigkeit andererseits zu verstehen.

Die Autor*innen bilden hierzu die gegenwärtigen Grenz- und Lagerregime stets auch vor dem gut beforschten Fall der Vernichtungsmaschinen des Nationalsozialismus ab, in dem ebenfalls nach lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden wurde. Es kommt darauf an, die mittlerweile im gesellschaftstheoretischen Kanon weitgehend akzeptierte These eines nicht nur zufälligen, sondern konstitutiven Zusammenhangs zwischen moderner Produktionsweise, Ausschluss und Willkür auch empirisch ernst zu nehmen. Die Autor*innen leisten hierzu wichtige Arbeit, indem sie diesen Komplex rudimentär als Diskursanalyse zugänglich machen, sich sozusagen an den Sound der Grenze herantasten, wie er im gesellschaftlichen Unbewussten schwingt.

Dennoch kommt diese qualitative Art des Zugangs stets in Begründungsprobleme, die auch in diesem Band nicht durchweg umgangen werden. Oftmals wird die Denkungsart der Biopolitik so aufgefasst, als müssten Widerstandsformen nicht nur transformiert und angepasst, sondern „new forms, means and points of resistance“ geradezu aus dem Nichts neu geschöpft werden. Trotz einiger wohlmeinender Seitenblicke auf die Traditionen materialistischer Kritik geht die Tendenz dahin, Kritik geschichtslos nur im Hier und Jetzt zu verankern: „Not through the invocation of another ‚grand narrative‘ about the past and possibly of the future, but in the ‚hic et nunc‘ of the present“ (67). Auf diese Weise werden die Narrative, Diskurse und sogar Sprache an und für sich fetischisiert – als mystisch-unerklärliche Ursache und unbewegter Beweger der doch im Wesentlichen ganz banalen Mechanismen von Staat und Polizei. Die Autor*innen verbinden die Analyse der politischen Sprache mit einer Perspektive auf den „metonymischen Charakter“ (129) von Tauschwert. Diese Verbindung bleibt aber eine leere Hülle. Tatsächlich wird der Bestand an materialistischen Theorien des Staates weitgehend übergangen, gerechtfertigt mit der Feststellung, jede sprachliche Fixierung eines Arguments finde ja ohnehin bereits auf der Innenseite der Sprache statt und könne den Mechanismus des Tauschwerts und seiner Auswirkungen sowieso nicht objektiv abbilden – „there is no metalanguage that can be spoken, […] there is no Other of the Other“ (129). Lacan und Nietzsche haben hier ein definitives Primat über Marx und Co.

Dabei wird der Signifikant „Krise“, um den es im zweiten Teil geht, ja gerade nicht am besten mit Begriffen wie Warenfetisch und Tauschwert beschrieben. Denn ein großer Teil der Herausforderung besteht darin, dass, auch wenn die einzelne oder kollektive Psyche dem ideologischen Sog der Marktmechanismen nicht widerstehen mag, die staatlichen Institutionen diesen Widerstand ihrer Verfassung nach leisten müssen: Der Staat ist nicht umsonst nach dem modernen demokratischen Selbstverständnis eben kein großer, lebender Körper, sondern ein arbeitsteiliges Entscheidungsinstrument, sicherlich de facto von Interessen beeinflusst, aber doch de jure verpflichtet zur Neutralität und relativer Nüchternheit. Wollten die Autor*innen nun nahelegen, dass in Wirklichkeit Staat und Gesellschaft viel eher unweigerlich ein denkender und fühlender, sprechender und diskutierender Körper mit einem Eigen-Leben ist, das unmöglich der sprachlichen Rationalität seiner Bürger*innen zugänglich ist, weil dem Denken über den Staat immer bereits ein Leben im Staat vorausgeht, so müssten sie freilich mit einer viel grundlegenderen Kritik an Aufklärung und Demokratie allgemein anheben. Ohne eine solche gerät die Forderung, eine materialistische Perspektive müsse die Unterscheidung zwischen Körper und Gesellschaft einebnen, ja dürfe „no dichotomy between inside and outside, individual and social body, centre and periphery“ (131) kennen, unweigerlich in Gefahr, den Zynismus der Hobbes’schen Körpermetapher zu affirmieren.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr interessantes Werk einer kleinen kritischen Gruppe, die es schafft, den biopolitischen Rahmen in besonders signifikanter Weise auf eine der wichtigsten gegenwärtigen politischen Problemlagen zu beziehen – konzeptionell und empirisch in hohem Maße anschlussfähig.

CC-BY-NC-SA
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