Jan Roß: Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds
Der ZEIT-Journalist Jan Roß zeichnet in seinem kurzweilig geschriebenen Porträt ein differenziertes Profil des britischen Premierministers. Zu Unrecht werde Boris Johnson an die Seite rechter Politiker gestellt. Tatsächlich sei er ein ‚Freihändler‘, ein praktizierender Umweltschützer und er betreibe eine werteorientierte Außenpolitik. Mithilfe eines Schnelldurchlaufs durch die wichtigsten biografischen Stationen gelingt es Roß, so Rezensent Vincent Wolff, die Person Johnson den Leser*innen näherzubringen; er ermöglicht einen Einblick in sein Denken und Agieren.
Boris Johnson „hat mit seinem Brexit-Kurs als erster Politiker eines großen westlichen Landes den populistischen Impuls aufgenommen, in den parteimäßigen Mainstream umgeleitet – und so die Populisten als selbständige politische Kraft zum Verschwinden gebracht“ (153), so der ZEIT-Journalist Jan Roß. Er findet, dass sich von dem britischen Premierminister lernen lasse. In seinem kurzweilig geschriebenen Porträt über den konservativen Politiker zeichnet Roß ein differenziertes Profil.
Roß sieht den britischen Premier Boris Johnson zu Unrecht an die Seite rechter Politiker gestellt und will mit seiner Publikation gegensteuern: „Über kaum einen Politiker der Gegenwart sind so viele Klischees im Umlauf wie über Boris Johnson, gerade auch in Deutschland“ (9), echauffiert sich der Verfasser. Johnson gelte zwar als rechter Demagoge und werde neben Trump gestellt, das treffe jedoch nicht zu, denn ‚BoJo‘ sei eben gerade kein nationalistischer Scharfmacher und Leugner des Klimawandels. Das Gegenteil sei der Fall: Der britische Premier sei ein ‚Freihändler‘, ein praktizierender Umweltschützer und er betreibe eine werteorientierte Außenpolitik, wie im Falle Hongkongs.
Johnson sei zwar nicht „der mächtigste Staatsmann unserer Zeit und schwerlich der beste, aber vielleicht der interessanteste“ (13), was sich möglicherweise auf seine britische Sozialisation zurückführen lasse, sich nicht zu ernst zu nehmen und distanziert und ironisch aufzutreten – was deutsche Beobachter*innen oftmals irritiere.
Es gelingt Roß, die Person Johnson den Leser*innen näher zu bringen. In einem Schnelldurchlauf durch die wichtigsten biografischen Stationen werde die Komplexität seines Charakters deutlich. Dass der Autor über Detailkenntnisse verfügt, was beispielsweise dadurch deutlich wird, dass Alexander Boris de Pfeffel Johnson im Familienkreis nicht Boris genannt wird, sondern Al, nach seinem ersten Namen.
Roß kann die britische Zuneigung gegenüber Johnson verstehen. Gerade dessen clowneske Auftritte stellten eine erfrischende Abwechslung zu den aalglatten Berufspolitikern dar: „Mitten in einem verlogenen Zeitalter der Imagepflege und Medienmanipulation besitzt eine öffentliche Figur den Mut, sich in ungeschönter, struppiger Originalität zu zeigen.“ (32) Selbst als sich herausstellte, dass diese unorthodoxen Auftritte in der Öffentlichkeit ebenfalls inszeniert gewesen seien, haben diese ihren Charme nicht verloren. So sei die Popularität des in Brüssel aufgewachsenen Politikers gewachsen.
Johnson habe die Elite-Institutionen des Landes durchlaufen, aber dennoch eine Distanz zu den Vorgängen um ihn bewahrt, sei es im Bullingdon Club oder beim Debattieren in der Oxford Union. Er habe wenige Freunde und bleibe emotional distanziert, manövriere sich dennoch auch durch linke Zirkel mit beeindruckendem Talent. Über die Jahre habe er sein Profil als Journalist für verschiedene Tageszeitungen geschärft. Als Brüssel-Korrespondent habe er leidenschaftlich die britische Presse mit absurden EU-kritischen Beiträgen bespielt. Diese seien zumindest überspitzt, oftmals anzüglich und reichweitenstark. Dahinter stehe allerdings nie die xenophobe und kleinstaatliche Attitüde anderer Brexit-Figuren, wie Roß betont: Johnson „attackiert die EU nicht als volksfeindliche, vaterlandslose Verschwörung, sondern als einen im Grunde uneuropäischen Versuch, die gloriose, durch Wettbewerb produktive Vielfalt eines historisch beneidenswert reichen Kontinents gleichmacherisch in Reih und Glied zu zwingen“ (48).
Seine Tätigkeit habe ihm eine öffentliche Reichweite ermöglicht, die den Weg in die Politik ebnete. Dabei sei Johnson undogmatisch geblieben. Sein Konservativismus sei nie besonders ausgeprägt gewesen, sein Weltbild ambivalent geblieben, was ihm später beim Aufstieg an die Macht geholfen habe. Durch den Sieg bei den Londoner Oberbürgermeisterwahlen sei er dann endgültig zur nationalen politischen Figur geworden.
Den ultimativen politischen Aufstieg habe er dennoch erst durch den Brexit erlangt. Roß zeigt allerdings auch auf, wie unwichtig das Thema Europa den Brit*innen lange Zeit war. Bis auf die Basis der konservativen Partei sei die europäische Integration nie ein Thema gewesen, das breite Schichten der Bevölkerung überhaupt interessierte und beschäftigte. Erst die Verknüpfung der EU mit Migration ermöglichte es, breite Schichten (ablehnend) auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Dies sei insofern paradox als Johnson ein ausgesprochener Befürworter von Einwanderung sei – und daher im Unterstützungswahlkampf für den Brexit von einwanderungsfeindlichen Aussagen abgesehen habe. Johnson sehe sich selbst als Kosmopoliten, sei aber vor der Allianz mit den xenophoben Teilen der Brexit-Bewegung nicht zurückgeschreckt. Denn diese habe ihn schließlich in das höchste britische Wahlamt gehoben.
Johnsons Wahlsieg im Dezember 2019 war historischen Ausmaßes, erfolgreicher waren die Konservativen in Großbritannien selten. Das Erfolgsrezept sei auch in diesem Falle widersprüchlich: „Ausgerechnet unter dem Brexit-Betreiber Boris Johnson, in dem Moment, da das Vereinigte Königreich sich von der EU verabschiedet, wird der britische Konservativismus ‚europäischer‘“ (151), konstatiert Roß. Unter dem neuen Premier rücke die Tory-Partei gesellschaftspolitisch nach rechts, mit einer stärkeren Betonung des Nationalgefühls, der Souveränität, mit Law-and-Order-Akzenten und restriktiveren Einwanderungsregeln. Gleichzeitig wandere die Partei wirtschaftspolitisch nach links und werde so für breite Arbeiterschichten wählbar: neue Infrastrukturprojekte, mehr Ausgaben für Bildung und Gesundheit, Stärkung der ländlichen Gebiete. Roß spricht von einem „Volkskonservativismus“ (152).
Der Autor ermöglicht mit diesem Buch einen exzellenten Einblick in das Denken und Agieren einer illustren und hochkomplexen politischen Figur. Durch seinen undogmatischen Ansatz leistet er einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des britischen Premiers. Roß ist kritisch und prognostiziert Johnson eine erfolglose Zeit in der Post-Corona-Phase, attestiert dem britischen Politiker aber ein großes Talent. Insgesamt handelt es sich um ein eindrucksvolles Buch – zur richtigen Zeit.
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