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Rezension / 15.02.2023

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus

Berlin, Suhrkamp Verlag 2022

Die Soziolog*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey entwickeln in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ anhand biographischer Interviews die Sozialfigur der libertären Autoritären. Im Gegensatz zum unterwürfigen autoritären Charakter, wie ihn die Frankfurter Schule einst entwarf, zeichneten sich libertäre Autoritäre durch einen zügellosen Freiheitsbegriff und eine Maximalvorstellung von Autonomie aus. Verantwortlich für diesen Wandel seien die Verwerfungen kapitalistischer Gesellschaften, die das Individuum enttäuscht und von gesellschaftlichen Solidaritäten entkoppelt zurückließen. Rezensentin Tamara Ehs hält die Milieubeschreibung und theoretische Herleitung der libertären Autoritären für überzeugend.

Wir seien nicht frei von der Gesellschaft, sondern nur in der Gesellschaft frei. Zudem sei Freiheit keine Ware, vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis und Beziehungsmerkmal, analysieren die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Sozialstrukturanalyst Oliver Nachtwey. In ihrem Buch lenken sie den Blick auf die sozialen Bedingungen von Freiheit, die der libertäre Autoritarismus ausblende. Ihre Analyse gegenwärtiger Gesellschaftskonflikte und zunehmender Demokratiefeindlichkeit setzt deshalb nicht bei den Pathologien des Individuums an, sondern betrachtet es als ein soziales Wesen, das einen gleichzeitigen Aus- und Rückbau von Freiheitsgraden erlebe und dabei zwar permanent beobachtet sowie bewertet, aber auch allein gelassen werde. Amlinger und Nachtwey prägen den Begriff der „regressiven Modernisierung“ (96), um diese jüngste Phase des sozialen Wandels zu beschreiben: „Wut, Ressentiment, Neid oder Groll sind also keineswegs subjektive Seelenzustände, sondern ein soziales ‚Beziehungsgefüge‘, das durch den ‚Vergleichs- und Relationszwang‘ der kapitalistischen Gesellschaft entzündet wird“ (153). Wir leben in einer „Kultur der Enttäuschung“ (154), weil die Gesellschaft nicht halte, was sie verspreche, aber vom Einzelnen stetig den Beweis einfordere, dass dieses Versprechen eben doch eingelöst werden könne.

Dieses Versprechen moderner liberaler Gesellschaften ist die Freiheit, ein autonomes Individuum zu sein, also über das eigene Leben bestimmen zu können. In der Vormoderne war die soziale Position noch vererbt worden: Der Sohn des Bauern wurde Bauer, jener des Schmiedes Schmied und Töchter wurden Mütter, waren als Frauen noch rechtloser als Männer. Den „angestammten Platz“ verlassen, die Enge der Herkunftsfamilie hinter sich lassen und die Wahl haben, wer, wie und mit wem man sein möchte, ist historisch betrachtet ein sehr junges Angebot – aber auch Gebot – an die Lebensgestaltung, das einem erst seit wenigen Generationen gemacht und auferlegt wird. Amlinger und Nachtwey arbeiten diesen sozialen Wandel auf und suchen nach Erklärungen für neue Formen des Autoritarismus in einer zunehmend „nervösen Welt, in der sich Normen permanent ändern“ (339). Sie beschreiben das spätmoderne Individuum als kränkungsanfällig, gar „kränkungsaffin“ (137), weil es seine Ansprüche auf Selbstentfaltung allzu oft nicht realisieren könne. Doch dieses Unvermögen rechnen sie nicht dem*der Einzelnen zu, sondern verstehen es als Ausdruck eines sozialen Konflikts.

Amlinger und Nachtwey entwickeln auf den intellektuellen Schultern von Karl Marx, Friedrich Engels, Georg Lukács, Theodor W. Adorno und Erich Fromm und basierend auf zahlreichen aktuellen Fallstudien und biographisch-narrativen Interviews (etwa mit Querdenker*innen) eine Gesellschaftsdiagnose der Gegenwart. Ausgehend vom Befund der „gekränkten Freiheit“, also dem Dilemma des individuellen Anspruchs an die eigene Selbstwirksamkeit bei gleichzeitiger Ohnmachtserfahrung, sezieren sie die neoliberale Gouvernementalität der vergangenen drei Dekaden, die „wesentliche Voraussetzungen des modernen Individualismus destabilisiert“ habe (70). Das Aufstiegsversprechen liberal-sozialdemokratisch geprägter Wohlfahrtsstaaten habe in den Nachkriegsjahrzehnten durch einen Zugewinn an sozialen Rechten breite Teile der ehemaligen Unterklasse zu bescheidenem Wohlstand geführt und eine „Gesellschaft der Ähnlichen“ (71) gestaltet. Die beiden Autor*innen verschweigen keineswegs, dass diese Autonomiegewinne des Individuums auch geschlechterstrukturiert waren und vielfach auf einer rassistischen Unterschichtung durch Gastarbeiter*innen beruhten. Sie legen allerdings deutlich dar, dass das Versprechen von Freiheit eine soziale Komponente beinhaltete, die in jüngerer Zeit zusehends vernachlässigt werde.

Jene „soziale Freiheit“ (Axel Honneth) meint, dass das Individuum nicht nur ideell, sondern auch materiell in einen Zustand versetzt werden muss, der es ihm*ihr erlaubt, seine*ihre Freiheitsrechte vollumfänglich wahrzunehmen. Zur materiellen Verwirklichung von Freiheit bedürfe es demnach des Sozialstaates, der soziale Ungleichheiten adressiere. Doch genau jenes Korrektiv sei in der neoliberalen Ära rückgebaut worden, sodass eigentlich gesellschaftliche Probleme in individuelle transformiert worden seien. Damit sei jeder seines Glückes Schmied und folglich auch seines Unglücks Schreiner, wie Andreas Fisahn einst dieses Hamsterrad beschrieb. Bei Amlinger und Nachtwey heißt es nach Zygmunt Bauman: „(M)an kommt nie an, es findet keine ‚Wiedereinbettung‘ in verlässliche Strukturen statt“ (86).

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, steigende Ungleichheit, Entwertung von Qualifikationen, jüngst eine Inflation, die Ersparnisse und damit verbundene Hoffnungen und Lebenspläne zunichtemachten, erzeugten nicht nur soziale Kränkungen, sondern verunmöglichten es auch, den allgemeinen und verinnerlichten Ansprüchen an die eigene Individualität gerecht zu werden. Und zu allem Unglück würden diese Gefühle nicht mehr von Parteien oder Gewerkschaften aufgefangen, die das individuelle Versagen gesellschaftlich verorten und somit psychische Entlastung bieten könnten. Nein, man bleibe allein und dadurch „abhängigkeitsvergessen“. Laut Amlinger und Nachtwey „liegt der problematische Aspekt spätmoderner Individualisierung nicht in einem profanen Egoismus, sondern in einem individuellen Verdrängen der Abhängigkeit von gesellschaftlichen Institutionen“ (89). Freiheit aber sei an die Gesellschaft gebunden; wir benötigten den Staat zur Gewährleistung unserer Freiheitsrechte. Allerdings trete uns Staatlichkeit heute weniger in ihrer ermöglichenden Form, sondern vielmehr disziplinierend entgegen.

Zuletzt habe die Pandemie die „Rückkehr des intervenierenden Staates, der das individuelle Handeln einschneidend limitiert“ (13), gebracht. Das Gefühl der Ohnmacht, das in Bezug auf die soziale Freiheit ohnehin schon geschlummert habe, wurde durch die Einschränkung nun auch der bürgerlichen Freiheitsrechte für allzu viele Menschen zur Kenntlichkeit gebracht. Amlinger und Nachtwey machen sich anhand biographisch-narrativer Interviews auf die Suche nach der entscheidenden Zäsur für die „Entfremdungsgesellschaft“ (Pierre Rosanvallon). Sie zeigen, dass die Covid-19-Krise oder das Fluchtjahr 2015 zwar zündende Funken gewesen seien, die entscheidenden Kränkungen aber weiter zurücklagen und stark mit der Agenda 2010 und dem allgemeinen Niedergang der Sozialdemokratie zusammenhingen: „Nicht wenige bekamen in ihrem Leben den ‚stummen Zwang ökonomischer Verhältnisse‘ zu spüren, und zwar meist deutlich vor dem Jahr 2015, das in ihrer Darstellung so häufig eine Zäsur markiert. Lange Zeit blieben sie still. Erst seit die Figur des Fremden 2015 ihre Bühne betrat, entlade sich die Rebellion gegen die Abhängigkeit, die sie im Zuge ökonomischer oder sozialer Deprivation erfahren haben, auf destruktive Weise (308). Der Gesellschaftsvertrag der Leistungsgesellschaft sei gebrochen, aber parteipolitisch behandelt werde dies hauptsächlich an der Figur des Fremden, der angeblich ins Sozialsystem einwandere.

Amlinger und Nachtwey zeigen auf, weshalb einst progressiv eingestellte Menschen nun die AfD wählten und in ihrer Kränkung von „gefallenen Intellektuellen“ (207) bestärkt würden. Dabei entwickeln sie eine Typologie libertärer Autoritärer, die die Gemengelage zwar verdeutlicht, aber letztlich ihre gesamtgesellschaftliche Analyse überfrachtet. Denn die Schlussfolgerungen kommen wiederum gänzlich ohne diese Differenzierung nach Typen aus und die Autor*innen können hierfür auf die theoretische Einbettung ihrer Studie zurückgreifen. Es war nämlich der sozialdemokratische Jurist Hermann Heller, der 1933 den Ausdruck „autoritärer Liberalismus“ prägte: „Autoritärer Liberalismus ist Liberalismus ohne Demokratie“ (50). Amlinger und Nachtwey drehen daraus ihre titelgebende Wortschöpfung und behandeln die gekränkte Freiheit unter dem Aspekt des mangelhaften „sozialen Rechtsstaats“ Hellerschen Verständnisses. Dies tun sie allerdings ohne abschließend den Auftrag zu diskutieren, der sich etwa aus dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip ergibt. Inwiefern diesem Prinzip heute in Deutschland oder gar in der Europäischen Union neues Leben einzuhauchen wäre, um die liberale Demokratie zu retten, bleibt Studien überlassen, die auf dieser einsichtigen Gesellschaftsanalyse aufbauen werden.

CC-BY-NC-SA
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Externe Veröffentlichungen

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NDR

Alexander Thiele / 23.01.2018

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