Andreas Grimmel (Hrsg.): Die neue Europäische Union. Zwischen Integration und Desintegration
Europawissenschaftliche Expert*innen zeigen in diesem Sammelband auf, dass in der EU eine Gleichzeitigkeit von Integration und Desintegration vorhanden ist. Zwar vollziehe sich eine schrittweise europäische Integration, parallel gebe es aber Tendenzen der Desintegration. Beleuchtet werden die Grundlagen der Konflikte (Wertekonflikte, die unvollendete Verfassung der EU und der Stand ihrer Demokratisierung) sowie die Auswirkungen von Krisen, etwa: Wirkte die griechische Finanzkrise eher integrierend oder desintegrierend? Zwei exemplarische „modes of Government“ werden betrachtet: die „klassische Gemeinschaftsmethode“ sowie die „Koordinierung von Politik“.
„Variable Geometrie“ ist ein wunderbares Stichwort, das in den vergangenen Jahren oftmals bemüht wurde, um die unterschiedlichen Europas zu skizzieren. Landläufig sprechen wir zwar von „der“ Europäischen Union. Diese Union aber hat in den bald sieben Jahrzehnten ihrer Geschichte vielfältige Initiativen gestartet – bei manchen machten alle Länder mit, bei andere nur wenige. Beliebtester Sonderfall war in der Vergangenheit das Vereinigte Königreich. Beispiel Euro: Man wollte nicht dabei sein. Doch auch andere Länder wie Polen, Dänemark oder Irland entschieden sich in ausgewählten Politikbereichen für ein opting-out. Verschärft durch den Austritt Großbritanniens und die spürbaren Spannungen zwischen West- und Osteuropa stellt sich – eigentlich wie immer seit den 1950er-Jahren – die Frage nach Integration oder Desintegration der EU.
Den Ton der Publikation setzt ihr Herausgeber gleich in der Einleitung, die leider zu stark den Aufbau des Sammelbandes erläutert und zu wenig inhaltlich in das Thema einführt. Andreas Grimmel plädiert dafür umzudenken: Nicht mehr oder weniger Integration sei zu beobachten, sondern beides zeitgleich – parallel nebeneinander. Genau an dieses Paradoxon müsse man sich gewöhnen. „Sowohl-als-auch“ beschreibe die Lage akkurater als „entweder-oder“ (21). Inhaltlich ist das Buch mit seinen zwölf Kapiteln in vier Abschnitte gegliedert.
Zunächst werden die Grundlagen der Konflikte beleuchtet. Dabei geht es in vier Aufsätzen um Wertekonflikte, die unvollendete Verfassung der EU, den Stand ihrer Demokratisierung und die Frage des demokratischen „Backsliding“. Monika Eigmüller und Hans-Jörg Trenz etwa gehen den immer wieder diskutierten Werteunterschieden in der EU auf den Grund. Unterschiedliche Werte werden zunehmend angeführt, um eine (vermeintliche) Desintegration zu erklären. Drei Phänomene arbeiten die Autor*innen dabei besonders heraus: Fünfzig Jahre europäische Integration waren aus Sicht der Autoren für die gewünschte Wertekonvergenz „erstaunlich erfolglos“ (38). (Das dürfte stimmen, doch wer in langen historischen Entwicklungslinien denkt, mag eher über den Begriff „erstaunlich“ erstaunt sein; geschichtlich gesehen sind fünfzig Jahre eine kurze Zeitspanne.)
Zudem ist der stillschweigende Elitenkonsens mit seinen liberalen Werten tatsächlich ins Rutschen geraten, was zum Teil auch eine Folge der oft gewünschten Demokratisierung der EU darstellt: Plötzlich beteiligen sich eben auch „Normalbürger*innen“ an den Konfliktdiskussionen (40). Last, but not least sprechen sich die Autoren dafür aus, die Wirkung sozialer Medien stärker in die Integrationsdebatte einzubeziehen. Ihnen scheint eine Art globaler Kulturkampf aufzuziehen, der durch die sozialen Medien potenziell alle erreicht und dabei Wertekonflikte von überall auf der Welt überall hintragen könne. Die alten Gatekeeper eines liberalen Elitenkonsens‘ würden durch diese Medien schlichtweg umgangen und nicht-rationale sowie in der Tendenz desintegrierende Kommunikation massiv erhöht (45-47).
Im zweiten Abschnitt werden aktuelle Herausforderungen behandelt. Die Polykrisen der Union – wie atlantische Tiefdruckgebiete rauschte in den vergangenen Jahren eine Krise nach der anderen über die EU hinweg – werden ebenso analysiert wie die Frage einer flexiblen vs. einer immer engeren Union. Stefan Jagdhuber und Berthold Rittberger sehen die EU dabei ein Stück weit auch als ein Opfer ihres eigenen Erfolgs: Das alte Friedensprojekt EU genoss in der Regel seitens der Bevölkerung wohlwollendes Desinteresse. Die „neue EU“ dagegen erfährt aufgrund ihrer mittlerweile weitreichenden Entscheidungsbefugnisse, die in den bearbeiteten Krisen seit dem Jahrtausendwechsel deutlich wurden, zunehmend politischen und gesellschaftlichen Widerstand (202).
Aus Sicht der Demokratietheorie ist das nicht weiter verwunderlich: Wo Macht ist und Interessen durchgesetzt werden, formiert sich eben in stärkerem Maße gesellschaftlicher Widerstand. Beide Autoren schlagen vor, Politikfelder nach ihrem Status von Integration oder Desintegration exakter zu vermessen, um differenzierter urteilen zu können: Eine hohe oder niedrige Interdependenz zwischen Zentrale und Peripherie ist Gradmesser für die Integration in die EU; die Frage einer hohen oder niedrigen Politisierung eines Themenfeldes wirkt dagegen wie ein retardierendes Element und damit möglicherweise in seiner Tendenz desintegrierend (189 ff.).
Michèle Knodt, Martin Große Hüttmann und Alexander Kobusch unternehmen einen ähnlichen Versuch, indem sie die Wirkung konkreter Krisen nachzeichnen. Im Sinne von: Wirkte die griechische Finanzkrise eher integrierend oder desintegrierend? Zwei exemplarische „modes of Government“ werden analysiert: die „klassische Gemeinschaftsmethode“ mit rechtlicher Normensetzung und administrativer Verflechtung sowie die als softe Form bekannte „Koordinierung von Politik“ (127 ff.). Bei der indikatorenbasierten Durchsicht verschiedener Fallstudien kommen sie zu zwei Ergebnissen: Die analysierten Krisen boten eher kein „window of opportunities“ zu mehr Integration, schufen nur bedingt neue Institutionen (das Argument überzeugt angesichts der Rettungsmechanismen, -schirme usw. nur bedingt). Die „soften“ Mechanismen dagegen entpuppten sich am Ende als nicht so weich wie gedacht. Ihre Steuerungsleistung, etwa die Einführung von Sanktionsmechanismen im „Europäischen Semester“, war am Ende recht robust.
Überzeugenderweise wirft der Band auch einen Blick nach außen, denn (Des-)integrationsprozesse können auch mit der außenpolitischen Lage der Union zu tun haben und von dieser ausgelöst werden. Ob die EU überhaupt weltpolitikfähig ist, fragt etwa Gisela Müller-Brandeck-Bocquet. Sie kommt zu einem eher positiven Ergebnis – aber nur in einem wichtigen Bereich: dem der Klimapolitik (225). In akuten Machtfragen, etwa der Auseinandersetzung mit den USA (Instex, WTO-Streitigkeiten) oder mit China, ist die von Jean-Claude Juncker angemahnte „Weltpolitikfähigkeit“ (ein Terminus, den die Autorin unbedingt begrüßt) nicht in Reichweite. Wie stets liegt die Antwort auf Fragen der EU-Außenpolitik in den vielen europäischen Hauptstädten, nicht in Brüssel.
Besonders interessant ist in diesem Abschnitt der Aufsatz zu den Auswirkungen Chinas auf die Union. Die chinesische Belt-and-Road-Initiative (BRI) und ihr Potenzial die EU zu spalten, wird in einem Artikel von Julia Gurol und Fabricio Rodríguez untersucht, die zunächst die unterschiedlichen Phasen des sino-europäischen Verhältnisses betrachten (flapsig formuliert: Vom Honeymoon zur Systemkonkurrenz), um dann mittels eines mehrdimensionalen Rasters die Wirkung der BRI zu untersuchen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass China recht erfolgreich mit dem Verfolgen seiner beiden Hauptziele – Zugang zum gemeinsamen Markt und Spaltung der EU in der Frage des BRI – gewesen sei. Es habe sich gezeigt, dass Brüssel keinen sonderlichen Stellenwert bei der Aushandlung der von China favorisierten, bilateralen Vereinbarungen hat, etwa im Bereich wichtiger Infrastrukturen, wie zum Beispiel Häfen (246-249).
Abschließend versuchen zwei Aufsätze einerseits künftige Forschungsperspektiven aufzuzeigen, aber auch ein vierstufiges Modell unterschiedlicher Integrationsgeschwindigkeiten und -verhältnisse in verschiedenen Politikfeldern zu beleuchten. Besonders gelungen sind die aussagekräftigen Grafiken in Darius Ribbes‘ und Wolfgang Wessels‘ Aufsatz zu einem Vier-Stufen-Modell europäischer Integration. Eine „Fusionstreppe“ zeichnet entlang der Achsen EU-Kompetenzen und Entscheidungsverfahren den Stand eines Politikfeldes zwischen intergouvernemental und supranational nach – und alle zusammen werden abschließend in einer (von anderer Stelle stammender) Gesamtgrafik der (Des-)Integrationspfade überführt (281).
Andreas Grimmel ist es gelungen, spannende Aufsätze zum Stand der Integrationsforschung in einem Sammelband zusammenzutragen. Er selbst kommt dabei leider nur knapp zu Wort.
Demokratie und Frieden
Rezension / Thomas Mirbach / 16.01.2020
Björn Hacker: Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabilitieren
Björn Hacker will mit seinem Buch den Prozess der europäischen Integration gegenüber zahlreichen Krisendiagnosen linker oder rechter Spielart als zukunftsweisendes Projekt rehabilitieren. Er plädiert für einen reformistischen Realismus, der die Potenziale der bestehenden institutionellen Architektur zumal der Eurozone im Sinne einer „European Politics against global Markets“ nutzt. Hacker setzt sich unter anderem mit wesentlichen Konfliktfeldern europäischer Politik auseinander und entwirft Grundzüge einer europäischen Politikgestaltung.
Analyse / Ingeborg Tömmel / 24.09.2017
Der Konsens schwindet. Die EU verliert an Handlungsfähigkeit
Warum befindet sich die Europäische Union in einer tiefgreifenden Krise? Wo liegen die Ursachen und wie lassen sich eventuelle Fehlentwicklungen behutsam, in realisierbaren Schritten reparieren? Ingeborg Tömmel beschränkt sich in ihrer Analyse auf einen, allerdings sehr bedeutsamen Aspekt der europäischen Krise: die mangelnde oder unzureichende Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU. In der Union ist es seit dem Vertragsschluss von Maastricht zu einer schleichenden Renationalisierung gekommen ist, die sich auf vielfältige Weise manifestiert, lautet ihre Kernthese.
Sammelrezension / Wilhelm Johann Siemers / 18.10.2018
Die Europäische Union demokratischer gestalten. Nationale Parlamente stärken oder eine EU-Staatsbürgerschaft einführen?
Während Klaus Weber und Henning Ottmann in „Reshaping the European Union“ eine Reorganisation der Befugnisse der EU-Institutionen und eine Stärkung der nationalen Parlamente favorisieren, plädiert Richard Youngs in „Europe Reset: New directions for the EU“ für mehr Bürgerbeteiligung und spricht sich für einen Pakt der europäischen Staatsbürger aus. Trotz ihrer Unterschiede haben beide Bücher eine gemeinsame Schnittmenge: die wichtige Rolle der Wähler*innen und Staatsbürger*innen. Aber wie sind sie am besten zu beteiligen?
Weiterführende Literatur
Markus Patberg / 2020
Oxford University Press
Externe Veröffentlichungen
Winfried Veit / 29.01.2021
IPG-Journal
Barbara Lippert / 07.01.2021
Stiftung Wissenschaft und Politik