Claus Offe: Europa in der Falle
Claus Offe kritisiert die von der Troika auferlegte Strategie der Austerität gegenüber den hoch verschuldeten Ländern Südeuropas. Diese habe Wachstum und Beschäftigung abgedrosselt und die „am meisten verwundbaren Gruppen [...] dem Marktgeschehen“ ausgesetzt. Es sei nicht nur eine Kluft innerhalb Europas deutlich geworden, sondern auch eine Stärkung des Intergouvernementalismus sowie die Entdemokratisierung der Union befördert worden. Er entwickelt ein Modell des demokratischen Kapitalismus in der EU und hält eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik für erforderlich.
Claus Offe plädiert für einen demokratischen Kapitalismus
Zwei Jahre nach der englischen Originalausgabe erscheint dieser – Zygmunt Bauman gewidmete – Essay Claus Offes nun auch auf Deutsch, seine zentrale Diagnose hat an Aktualität nichts verloren. Argumentativ überzeugt der Essay, weil Analysen (b) und die Diskussion von Optionen (c) in einen plausiblen theoretischen Rahmen (a) eingebunden sind.
(a) Offe entwickelt die Behandlung von Institutionen, Interessen und Akteurslogiken im Horizont einer der zentralen Fragen (moderner) politischer Theorie, nämlich der nach dem Verhältnis von Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft. Sein Modell des demokratischen Kapitalismus in der EU umreißt er mit vier Argumenten, die der in der neoliberalen Ägide nahezu als Credo behaupteten Überlegenheit von Marktbeziehungen gegenüber staatlichen Regulierungen kontrastiert sind (19 ff.). Erstens ist die unterstellte Spontaneität des Marktgeschehens von politischen Entscheidungen abhängig, die in basalen Institutionen (Eigentums- und Vertragsrecht, Währung) ihren Ausdruck finden. Zweitens erzeugt der Markt staatlichen Kontrollbedarf, weil er zu Praktiken tendiert, die unverfälschte Konkurrenz einschränken. Drittens unterlaufen Investoren und Arbeitgeber durch einflussreiche Kampagnen gegen Steuern und Regulierungen regelmäßig ihr kollektives Bestandsinteresse am Staat, der als „Meta-Manager“ durch Organisationsleistungen und den öffentlichen Sektor die Funktionsfähigkeit von Märkten erhält. Das vierte Argument schließlich bezieht sich spezifisch auf Macht-Asymmetrien, die der europäische Binnenmarkt für das – abgekürzt gesprochen – Verhältnis von Kapital und Arbeit erzeugt. Jenseits nationalstaatlicher Zuständigkeiten werden mit den vier von der EU garantierten Grundfreiheiten (Waren, Personen, Dienstleistungen, Kapital) einerseits die Exit-Optionen von Investoren einseitig gestärkt und andererseits politische Rivalitäten zwischen den Mitgliedstaaten in Gestalt von Gewinnern und Verlierern strukturell festgeschrieben. Diese vier Argumente zusammengenommen erweist sich die politische Prämisse der Europäischen Kommission – der regulierte Binnenmarkt führe über zunehmende Konvergenz zu vertiefter Integration – als Illusion.
(b) Innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens erhärten verfahrens- und akteursbezogene Analysen das titelgebende Bild einer systemisch bedingten „Falle“. Wie der Modus der Regulierung der Wirtschafts- und Finanzkrise offenbart, ist die Eurozone institutionell durch ein doppeltes Defizit gekennzeichnet (30 ff.): Der gemeinsame Währungsraum hat die bestehenden Unterschiede zwischen den eingebundenen Volkswirtschaften vertieft, ohne über entsprechend kompensatorische Politikfähigkeiten in den Feldern der Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verfügen (40 ff.). Der stattdessen eingeschlagene Weg, die Mitgliedstaaten auf immer rigider ausfallende Regeln fiskalischer Disziplin zu verpflichten, ist „weder legitim noch effektiv“ (38) – dies nicht nur aufgrund des technokratisch-diskretionären und von Ad-hoc-Entscheidungen bestimmten Politikmodus, sondern vor allem, weil die Austeritäts-Strategie der Troika gegenüber den hoch verschuldeten Ländern der südlichen Peripherie dort Wachstum und Beschäftigung abdrosselt und die „am meisten verwundbaren Gruppen [...] dem Marktgeschehen aussetzt“ (48). Angesichts langfristiger Wachstumsschwäche und politischer Widerstände in den Überschussländern gegenüber umfassenden Schuldenschnitten für Defizitländer führen innerhalb des Euroraums die divergierenden Interessenlagen der relevanten Akteursgruppen (Finanzindustrie, Staat, Realwirtschaft, Bürger) zu funktionalen Teufelskreisen (50 ff.), die im Ergebnis „den demokratischen Kapitalismus in Europa mehr kapitalistisch und weniger demokratisch“ (64) gemacht haben. Verstärkt wird dieser Effekt durch die bekannten Demokratiedefizite des institutionellen Gefüges der EU (152 ff.). Im Zeichen einer technokratischen Kompetenzaneignung – hier greift Offe auf die einschlägigen Studien Fritz J. Scharpfs zurück – können Kommission, Europäischer Gerichtshof und die Zentralbank „weitgehend unabhängig von den Präferenzen und Wünschen der Wähler, Parteien, Parlamente und nationalen Regierungen agieren“ (159).
(c) Offe belässt es nicht bei dieser, die strukturelle Erosion der europäischen Idee unterstreichenden Diagnose, sondern er diskutiert ebenso teils negative, teils positive Optionen. Ansätze einer Renationalisierung der Geldpolitik schließt er aus (70 ff.); aufgrund unkalkulierbarer Risiken für Gewinner wie Verlierer der Gemeinschaftswährung erscheint ihm die Rückkehr zum Ausgangspunkt nur eine „Option für Hasardeure“ (71). Auch die vehement von Wolfgang Streeck vertretene Position einer linken, auf die Renationalisierung des Klassenkonflikts setzenden Aufgabe des Euro, hält Offe aus pragmatischen Gründen für unrealistisch (122 f.). Schließlich stellt für ihn die vielfach reklamierte Führungsrolle Deutschlands eine Scheinlösung dar – jedenfalls, wenn damit implizit dessen wirtschaftliche Dominanz dauerhaft verankert wird (126 ff.). Die richtige Forderung müsse vielmehr lauten, Deutschland solle Teile „seiner wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung zugunsten der Stärkung von supranationaler europäischer Führungs- und Handlungskapazität“ (142) preisgeben. Unter Effektivitäts- wie unter Demokratiegesichtspunkten wäre die rationale Lösung die einer Transformation der EU in eine supranationale Demokratie mit einem auf EU-Ebene ausgebauten Wohlfahrtsstaat und allen Mechanismen territorialer und funktionaler Repräsentation. Das allerdings würde eine legitimatorisch abgesicherte, substanzielle Umverteilung von Lasten zwischen Staaten, Klassen und Generationen erfordern (166 ff.). Solange sich jedoch die EU nicht auf Solidaritätspflichten berufen kann, die aus einer europäischen Identität hervorgehen (103), müssen in erster Linie Parteien, Regierungen und Medien auf nationaler Ebene durch glaubwürdige Aufklärung für grenzübergreifende Solidaritäten motivieren (17). Die Falle, in der sich die EU befindet, ließe sich also allein durch einen wohlverstandenen demokratischen Konflikt öffnen, „der zwischen den Interessenten in einem europäischen politischen Gemeinwesen ausgetragen wird, in dem alle EU-Bürger repräsentiert sind“ (117). Unter derartigen Voraussetzungen würden sich Wählerpräferenzen – auch in der aktuellen europaskeptischen Ausprägung – nicht mehr als „‚gegeben‘ und fixiert“ (142) erweisen.
Demokratie und Frieden
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