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Rezension / 22.12.2020

Dan Krause (Hrsg.): Europäische Sicherheit. Die EU auf dem Weg zu strategischer Autonomie und Europäischer Verteidigungsunion?

Leverkusen, Barbara Budrich 2020

Zwar verfüge Europa über diplomatische Apparate, sogar über einen gemeinsamen außenpolitischen Dienst. Jedoch sei es „den Europäern bisher zu keinem Zeitpunkt gelungen, genügend eigene zivile und militärische Fähigkeiten zu entwickeln und zu unterhalten, um eine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen und Fragen von Krieg und Frieden auf europäischem Boden selbst entscheiden zu können“, schreibt der Herausgeber Dan Krause. Claire Demesmay kontrastiert in ihrem Beitrag Frankreichs Ziele für Europas Sicherheit mit denen der Deutschen.

„Fehlinterpretation der Geschichte!“, so lautete der Vorwurf von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gegenüber der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Was war geschehen? Die deutsche Verteidigungsministerin hatte die von Macron vorgeschlagene strategische Unabhängigkeit Europas in einem Gastbeitrag auf einem Internetportal als „Illusion“ bezeichnet. Bis auf Weiteres sei ohne die militärischen Ressourcen der USA eine Verteidigung Europas nicht zu gewährleisten.

Was auf höchster politischer Ebene verhandelt wird, findet seine Spiegelung auch in den Niederungen der akademischen Welt, etwa in dem kleinen, lesenswerten Buch „Europäische Sicherheit“, das Dan Krause herausgegeben hat. Krause ist Wissenschaftler an der Universität der Bundeswehr. Er war der Organisator einer gleichlautenden Tagung; der knapp neunzigseitige Band ist das verschriftliche Ergebnis derselben.

Inhaltlich fallen zwei Aufsätze ins Gewicht: Krause versucht zunächst die Terminologie klarer zu umreißen. Vor allem den Begriff „Handlungsfähigkeit“ will er dabei eindeutiger festlegen. Und Claire Demesmay (DGAP) kontrastiert in ihrer Abhandlung Frankreichs Ziele für Europas Sicherheit mit denen der Deutschen. Der letztgenannte Artikel ist inhaltlich vermutlich der interessanteste.

Demesmay verdeutlicht zunächst, wie wichtig Präsident Macron das Anliegen einer europäischen Handlungsfähigkeit ist. Er machte es 2019 zum Thema seiner Rede auf der jährlichen Konferenz des Präsidenten mit Frankreichs Botschaftern im Élysée, einem „wichtigen Orientierungswert für die französische Außen- und Sicherheitspolitik“ (46). Macrons Problemanalyse ist klar: Zum ersten erkennt er das Ende der „westlichen Hegemonie“, die unsere Welt in den vergangenen zweihundert Jahren geprägt hat. Zum zweiten warnt er davor, dass sich verschärfende Konflikte vor Europas Haustüren künftig stark auf eine unvorbereitete EU auswirken werden. Zum dritten glaubt Macron, die Welt teile sich zunehmend um zwei Pole herum auf: hier die USA, dort China. Europa drohe angesichts seiner militärischen Selbstverzwergung zum Spielball dieser zu werden. Aus genau diesem Grund will der französische Staatschef auch ganz anders mit Russland umgehen, und es auf seine Seite ziehen. Auch, um zu verhindern, dass es als Juniorpartner zu eng an China andockt. „Seine Bedrohungsanalyse wird aber von vielen europäischen Partnern nicht geteilt, denn sie fürchten Russland mehr als Terrorismus und Instabilität in der südlichen EU-Nachbarschaft“ (57). Aus historischen Gründen lehnen Partner wie Polen einen Schritt in Richtung Moskau ab. Somit stellt sich die Frage, was Paris diesen Partnern denn als Sicherheitsgarantie anbieten könnte. Frankreichs Atomschild wäre wohl zu klein für ganz Europa und seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat wird das Land kaum aufgeben und in EU-Dienste stellen. Somit bleibt eigentlich nur das zu tun, was schon versucht wird: gemeinsame Truppen und Verteidigungshaushalte, Zusammenarbeit bei den Nachrichtendiensten und Kooperation im Zivilschutz. Macron geht das alles zu langsam, Frankreichs Unzufriedenheit über die Langsamkeit bei PESCO (Permanent Structured Cooperation) sitzt tief, daher der Wunsch mithilfe einer weiteren Initiative (EI2, europäische Interventionsinitiative) schneller voranzukommen. Allein bewegt sich hier derzeit nichts. Seine Analyse und seine Pläne mögen klug durchdacht sein – sie passen aber zumindest zurzeit nicht zu Europas realen Begebenheiten. Zu diesem (er)nüchtern(d)en Befund kommt der Leser, die Leserin nach der Lektüre von Demesmays‘ Aufsatz.

Im ersten inhaltlichen Artikel (13-36) beschäftigt sich der Herausgeber Krause mit der Frage, was europäische Handlungsfähigkeit eigentlich ausmacht. Das, worum es geht, wurde mit vielen Begriffen belegt, die Krause auch nacharbeitet (14 f.). Sein Versuch einer Begriffspräzisierung beginnt mit einem Definitionsvorschlag, der folgende, wesentliche Kernelemente beinhaltet. Europäische strategische Handlungsfähigkeit ist demnach ein bewusstes, intendiertes und aktives Tätigwerden im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik, die zur erfolgreichen Teilhabe an Prozessen internationaler Politik führt und die auf gemeinsamen, ausgebauten Analyse- und Wahrnehmungsfähigkeiten beruht. Basierend auf einer kohärenten Strategie sollen die eigenen Ziele mittels geeigneter, vorhandener Instrumente und ausreichender Ressourcen erreicht werden. Politischer Wille trägt diese Handlungsfähigkeit (vgl. 17 f.).

Drei zentrale Aussagen seines Definitionsansatzes werden von ihm genauer analysiert. Zunächst die Fähigkeit zu analysieren selbst. Hier sieht er Europa gut aufgestellt: Es verfüge über große diplomatische Apparate, mit dem EAD sogar über einen gemeinsamen außenpolitischen Dienst. Der European Union Military Staff als Militärstab und das Satellite Center verfügten über die Möglichkeit der Informationsbeschaffung und -auswertung. Durch eine vielfältige Expertise in der Wissenschaftslandschaft habe die EU zudem ausreichend „Thinktanks“, die Politikberatung betreiben könnten – kurzum und salopp formuliert: Denken ist nicht das Problem.

Kniffeliger wird es bei der Fähigkeit zu entscheiden. Hier erwartet den Leser/die Leserin nichts Neues. Vor allem der durch das Einstimmigkeitsprinzip beförderte, fehlende politische Wille der Mitgliedstaaten führt dazu, dass die zahlreichen Kooperations- und Konsultationsmechanismen der EU oft nur einen „bescheidenen Mehrwert“ (21) schafften. All den mannigfachen, vom ihm aufgeführten Plattformen des Austausches (EUMC, EUMS, MPCC, CIVCOM und so weiter und so fort – deren Aufzählung beinahe ungewollt komisch wirkt) zum Trotz gibt es schlichtweg keine einheitliche strategische Kultur in der EU. Eine echte Lösung hat auch Krause nicht, es sei denn man betrachtet die von ihm erwähnten externen Schocks als langsamen Treiber einer Entwicklung hin zu mehr Kohärenz.

Es bleibt noch die Frage der Fähigkeit zu handeln. Der Befund des Autors lässt sich hier trefflich mit einem direkten Zitat wiedergeben: „[Es ist] den Europäern bisher zu keinem Zeitpunkt gelungen, genügend eigene zivile und militärische Fähigkeiten zu entwickeln und zu unterhalten, um eine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen und Fragen von Krieg und Frieden auf europäischem Boden selbst entscheiden zu können.“ (23) Im Vergleich zum analytischen Instrumentenkasten sei selbst bei „minimalstem Ambitionsniveau“ (24) eine erheblich größere Anstrengung erforderlich.

Neben den beiden besprochenen Beiträgen findet sich eine Einleitung von Krause, eine Betrachtung der Rolle Österreichs von Gunther Hauser und ein „Denkanstoß“ (37) von Roderich Kiesewetter (MdB) zu Fragen der strategischen Kultur. Auch mit diesen Ergänzungen liefert das kleine Buch letztlich keine wesentlich neuen Erkenntnisse. Es fasst aber recht knapp die gesamte Diskussion noch einmal gut zusammen und ist daher lesenswert.

 

CC-BY-NC-SA
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Lektüre

Markus Kaim / Ronja Kempin
Strategische Autonomie Europas: Das deutsch-französische Missverständnis
SWP-Kurz gesagt, 30. November 2020


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Die Krise der Europäischen Union