Europas doppeltes Demokratieproblem. Defizite von EU und Mitgliedstaaten verstärken sich gegenseitig
Die EU leide sowohl auf Gemeinschafts- als auch auf mitgliedstaatlicher Ebene unter einem Demokratiedefizit; während der Eurokrise sei sie sogar teilweise in autoritäre Herrschaftsmuster verfallen. In den Mitgliedstaaten wiederum greife der nationalistische Populismus um sich und sorge für autokratische Tendenzen. Laut Christian Kreuder-Sonnen sind diese beiden Entwicklungen kausal miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig. Sie lösen so einen Teufelskreis zunehmend undemokratischer Herrschaftsformen in Europa aus.
Die Demokratie wird in Europa zurzeit in doppelter Weise herausgefordert. Sowohl auf der Ebene der Europäischen Union als auch auf der der Nationalstaaten stehen demokratische Institutionen unter Druck oder werden bereits in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Zwei Entwicklungen sind hierfür kennzeichnend: Einerseits sind die Entscheidungsbefugnisse der EU in den vergangenen Jahrzehnten rapide angewachsen und haben an Umfang und Eingriffstiefe gewonnen – ohne dafür adäquate Mechanismen demokratischer Legitimation bereitzustellen. Diesem Demokratiedefizit der EU steht andererseits seit einigen Jahren ein Anstieg des nationalistischen Populismus in den Mitgliedstaaten gegenüber, der eindeutig autoritäre Züge aufweist. In einigen Ländern wie Ungarn oder Polen haben diese politischen Kräfte es bereits vermocht, die heimischen Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats effektiv zu unterminieren. Auf beiden Ebenen, der nationalen wie der supranationalen, stehen die Zeichen also auf demokratischen Abschwung. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die beiden Entwicklungen kausal miteinander verbunden sind und sich zudem gegenseitig verstärken. Sie lösen so einen Teufelskreis zunehmend autoritärer Herrschaftsformen in Europa aus.
Der Kern des Arguments ist folgender: Das Demokratiedefizit der EU führt zu vermehrtem öffentlichen Widerstand gegen weitere Integrationsschritte, insbesondere in Bereichen wie der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die durch große Verteilungseffekte gekennzeichnet sind. Wie ich in meiner Forschung zur Notstandspolitik in der Eurokrise gezeigt habe, geben europäische Entscheidungsträger diesem Druck jedoch nicht nach, wenn sie europäische Lösungen als funktional notwendig erachten. Vielmehr umgehen sie dann den öffentlichen Widerstand durch „verdeckte Integration“, indem sie Befugnisse und Kapazitäten auf EU-Institutionen verlagern, die dem demokratischen Zugriff entzogen sind. Dadurch wird zwar die Regierungsfähigkeit der EU gestärkt, allerdings auf Kosten einer Vertiefung der demokratischen Legitimationslücke. Im Gegenzug entfremden sich viele Menschen weiter von der EU und beginnen, sie fundamental abzulehnen. So wird einer nationalistischen Geisteshaltung sowie der populistischen Anklage proeuropäischer Eliten Tür und Tor geöffnet. Antiliberale, autoritäre Tendenzen können daher auch in den demokratischen Verfassungsstaaten Europas um sich greifen. Sie bedrohen nicht nur demokratische Institutionen in den Mitgliedstaaten, sondern verschlechtern abermals die Bedingungen für eine vertiefte europäische Integration.
Dieser Kreislauf kam im Übergang vom sogenannten permissive consensus (ermöglichender Konsens) zum constraining dissensus (beschränkender Dissens) in Gang, der in den 1990er-Jahren einsetzte.. Mit dem Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 begann die EU einen Prozess der progressiven Supranationalisierung und politischer Autorität, der sich teils sogar auf staatliche Kernkompetenzen erstreckte. Mehr und mehr Kompetenzen wurden in immer größeren Bereichen auf EU-Institutionen übertragen und so der direkten Kontrolle durch die Mitgliedstaaten entzogen. Zwar wurden die Rechte des Europäischen Parlaments in dieser Zeit auch gestärkt, jedoch konnte es nie zu einer wahrhaft supranationalen repräsentativen Institution werden, die die partizipativen Legitimitätsanforderungen an die EU hätte erfüllen können. Die wachsende supranationale Autorität mit ihren vermehrt direkten und spürbaren Konsequenzen für ihre Adressaten führte zu einer Politisierung der europäischen Integration, in deren Folge weitere Übertragungen von Hoheitsaufgaben an EU-Institutionen von der Öffentlichkeit nicht mehr schweigend akzeptiert, sondern teils lautstark abgelehnt wurden.
Die Mitgliedstaaten und die Kommission versuchten daraufhin, diesen beschränkenden Dissens zu umgehen, indem sie die Integration durch nichtmajoritäre Institutionen oder exekutiv-dominierte Kanäle vorantrieben, ohne die breitere Öffentlichkeit zu beteiligen. Ein Paradebeispiel ist der Vertrag von Lissabon, der weitgehend identisch mit dem 2006 an nationalen Referenden gescheiterten Verfassungsvertrag ist,, aber aufgrund geringerer demokratischer Mitbestimmung letztlich in Kraft treten konnte. Allerdings führten derlei Formen der verdeckten Integration nicht zu weniger, sondern letztlich zu noch mehr Mobilisierung und Polarisierung. Die Auseinandersetzung um die „europäische Frage“ begann sich zum Teil in eine grundsätzliche Ablehnung der Institution EU zu verwandeln.
Eine weitere Folge dieser Entwicklung lässt sich anhand der Eurokrise aufzeigen. In dieser sahen sich die europäischen Entscheidungsträger mit besonderen funktionalen Zwängen zur Integration konfrontiert, gleichzeitig aber auch mit einem starken beschränkenden Dissens in der Öffentlichkeit. Zwar wurde ein supranationaler Kapazitätsaufbau vielerorts als absolut notwendig angesehen, um der Krise zu begegnen. Doch gleichzeitig schien der offene und prozedural legitime Weg dorthin versperrt: Rechtlich hätte ein solcher Schritt eine Vertragsreform erfordert, die schon unter den Mitgliedstaaten umstritten war und zudem aufgrund der öffentlichen Ablehnung – nicht zuletzt in Deutschland – wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Stattdessen schaltete der Europäische Rat in den Notstandsmodus und etablierte sogenannte Rettungsschirme wie den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) außerhalb der EU-Rechtsordnung. Er erlaubte der Troika, die sich aus Vertretern der Europäischen Zentralbank und EU-Kommission sowie des Internationalen Währungsfonds zusammensetzte, die Empfängerstaaten ihrer finanz- und wirtschaftspolitischen Souveränität zu berauben, delegierte weitreichende Implementations- und Überwachungsaufgaben an die Kommission und wälzte wichtige politische Entscheidungen zur Eurorettung auf die unabhängige EZB ab, die von demokratischer Kontrolle ausgenommen ist.
Diese quasiautoritären Züge europäischen Regierens kreierten wiederum politische Gelegenheiten für populistische Mobilisierung und Anreize zur Systemopposition, die – so meine These – die Chancen der heute viel zitierten antiliberalen und antieuropäischen Gegenreaktion bedeutsam steigerten. Hierfür sind meines Erachtens vor allem zwei Mechanismen maßgeblich: Erstens wird das Demokratiedefizit der EU durch den beschränkten Zugang zu politischer Opposition in europäischen Institutionen verstärkt. Dies hat der Politologe Peter Mair bereits 2007 in seinem Artikel „Political Opposition and the European Union“ herausgearbeitet. Die Folge ist die Mobilisierung von populistischer Systemopposition. Vereinfacht gesagt: Wer mit einer politischen Richtung der EU unzufrieden ist, hat kaum Chancen, sich effektiv Gehör zu verschaffen und auf politischer Ebene Änderungen herbeizuführen. Es bleibt lediglich die fundamentale Opposition gegen die EU als solche. Notstandspolitik auf europäischer Ebene verschärft dieses Problem: Besonders tiefe Eingriffe durch Maßnahmen der EU, die zudem die demokratischen Prozeduren in den Mitgliedstaaten schwächen, führen schnell zum öffentlichen Eindruck der Fremdherrschaft durch entfernte und unkontrollierbare Technokraten. In Verbindung mit dem während der Krise von Entscheidungsträgern geprägten Notstandsdiskurs, der politische Maßnahmen kontinuierlich als notwendig und alternativlos darstellt, entwickeln unzufriedene Wähler nicht nur antieuropäische Einstellungen, sondern entfremden sich auch vom heimischen politischen „Mainstream“, der als mitschuldig wahrgenommen wird. Diese Voraussetzungen treiben die Wähler in die Arme nationalistischer Populisten.
Zweitens stellen die komplexen institutionellen und politischen Konfigurationen europäischer Notstandspolitik eine ideale Zielscheibe für den populistischen Anti-Establishment-Diskurs dar. Da Populismus auf der Kritik selbstreferenzieller Eliten fußt, zehrt er von opaken und kaum zurechenbaren politischen Entscheidungen, die von Technokraten umgesetzt werden.
Zum einen können populistische Anführer die Notstandsgewalten der EU-Institutionen nutzen, um Brüssel beziehungsweise Frankfurt für unliebsame Politik verantwortlich zu machen. Schließlich ist die Delegations- und Legitimationskette von der Bevölkerung zu den politischen Entscheidungsträgern brüchig und für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar. Eigene nationale und lokale Verantwortlichkeiten können daher leichter verdeckt werden. Die Verantwortung für unpopuläre politische Entscheidungen wird so vermehrt auf die europäische Ebene abgewälzt und der Euroskeptizismus weiter angefacht.
Zum anderen erlaubt die Komplexität und Ungreifbarkeit von Verantwortlichkeiten und Konsequenzen europäischer Notstandsmaßnahmen den Populisten, die EU für alle möglichen politischen Missstände verantwortlich zu machen, unabhängig sowohl vom Grad ihrer Beteiligung an den Politiken als auch vom Grad der eigenen Betroffenheit.
Meiner Einschätzung nach haben diese Faktoren zum Anstieg des autoritären Populismus in Europa beigetragen, der teilweise gar zu demokratischen Rückfällen in einigen Mitgliedstaaten geführt hat. Mehrere zentral- und osteuropäische Mitgliedstaaten wie Ungarn, Polen, Rumänien, Bulgarien oder Slowenien weisen mittlerweile Regierungssysteme mit wachsenden autoritären Zügen auf. Doch auch jenseits der postkommunistischen Staaten gab es eine starke Zunahme von Parteien und Bewegungen an den politischen Rändern, die Europa zugunsten nationaler und exklusionistischer Lösungen ablehnen. In Südeuropa sind es linksgerichtete populistische Parteien, die teils mächtige politische Herausforderer geworden sind. In Nord- und Westeuropa ist ein entschieden nationalistischer Rechtspopulismus gewachsen, der autoritäre Alternativen zum liberalen Verfassungsstaat anbietet.
Es scheint, als handle es sich hier um eine zyklische Entwicklung, in der die widersprüchlichen Tendenzen der euroskeptischen Politisierung sowie der undemokratischen Integration sich gegenseitig verstärken: Quasiautoritärer Supranationalismus provoziert eine nationalistische Gegenreaktion, die genau die Bedingungen stärkt, die überhaupt erst zum Rückgriff auf Mittel der Notstandspolitik geführt haben. In einer möglichen nächsten Krise, in der Integrationslücken geschlossen werden müssen, um eine halbwegs funktionsfähige EU zu erhalten, werden politische Maßnahmen der Gemeinschaft nur gegen noch größeren öffentlichen Widerstand durchgesetzt werden können. Unter diesen Bedingungen werden Integrationsschritte daher zukünftig entweder scheitern oder ausschließlich auf Kosten der Demokratie gelingen.
Aus dieser Perspektive erscheint die derzeitige europäische Malaise – mehr als alles andere – als ein Demokratieproblem. Reformversuche, die dieser Dimension nicht ausreichend Beachtung schenken, laufen Gefahr, das Problem zu vergrößern anstatt es zu lösen, ungeachtet all ihrer potenziellen funktionalen Vorteile.
Literatur
Hooghe, Liesbet/Marks, Gary:
A Postfunctionalist Theory of European Integration: From Permissive Consensus to Constraining Dissensus,
in: British Journal of Political Science, 2009, Jg. 39, H. 1, S. 1-23.
Kelemen, R. Daniel:
Europe’s Other Democratic Deficit. National Authoritarianism in Europe’s Democratic Union“,
in: Government and Opposition, 2017, Jg. 52, H. 2, S. 211-238.
Kreuder-Sonnen, Christian:
An Authoritarian Turn in Europe and European Studies,
in: Journal of European Public Policy, 2018, Jg. 25, H. 3, S. 452-464.
Mair, Peter:
Political Opposition and the European Union,
in: Government and Opposition, 2007, Jg. 42, H. 1, S. 1-17.
Erstveröffentlichung
Christian Kreuder-Sonnen (2018):
Europas doppeltes Demokratieproblem. Defizite von EU und Mitgliedstaaten verstärken sich gegenseitig,
in: WZB Mitteilungen, Heft 160, Juni 2018, S. 13-16.
Demokratie und Frieden
Rezension
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Literatur
Siegfried F. Franke
Die gefährdete Demokratie. Illiberale Demokratie - Populismus – Europaskepsis
Baden-Baden, Nomos 2017 (edition sigma)
Christoph Möllers / Linda Schneider
Demokratiesicherung in der Europäischen Union. Studie zu einer europäischen Aufgabe,
hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Schriften zu Europa, Band 9, Berlin 2018.
Anna Wenz-Temming
Intergouvernementalisierung europäischer Verschuldungsinstrumente? Eine Positionierung der Eurorettungspolitik innerhalb der EU-Finanzstrukturen,
in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 14 (2016), Heft 2, S. 261-288.
Aus der Annotierten Bibliografie
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