Winfried Veit: Europas Kern. Eine Strategie für die EU von morgen
Um das Sicherheits- und Wohlstandsinteresse seiner Bevölkerung langfristig zu wahren, müsse Europa in wichtigen weltpolitischen Fragen gemeinsam auftreten und seine Kräfte bündeln. Doch es gebe zu viele mitsprache- und vetoberechtigte Mitgliedstaaten, deren Interessen außerdem stark divergieren. Um diese Selbstblockade zu überwinden, hält Winfried Veit es für notwendig, die Zahl der vetoberechtigten Mitgliedstaaten zu senken. Wenige, aber gewichtige europäische Staaten sollten sich zu einem Kerneuropa zusammenschließen, das seine Außen- und Sicherheitspolitik vergemeinschaftet.
Winfried Veit hat ein Buch geschrieben, das voller Einsichten in die weltpolitischen Zusammenhänge unserer Zeit ist und für eine fundamentale politische Weichenstellung im Interesse von Sicherheit und Wohlstand einer halben Milliarde Menschen plädiert. Im Fokus steht Europa, jener westliche, politisch immer noch zersplitterte Appendix der großen euro-asiatischen Landmasse. Längst hat dieser Appendix aufgehört, das politische und kulturelle Zentrum der Welt zu sein, als das sich seine Staaten und Bevölkerungen Jahrhunderte lang gebärdeten. Obwohl Veit keinen Zweifel lässt, dass die eurozentrische Ära Vergangenheit ist, erkennt er deren heutigen (und morgigen) Erben großes weltpolitisches Potenzial zu. Er will mit seinem Buch den Weg aufzeigen, wie Europa dieses Potenzial wahrnehmen kann, wie es den vor über 60 Jahren begonnenen, erstaunlich weit fortgeschrittenen, aber dennoch festgefahrenen Prozess der Bündelung der Kräfte des kontinentalen Appendix zum letztendlichen Erfolg führen kann.
Aus Veits mitunter breit in der Geschichte des Europagedankens mäanderndem Text lässt sich die folgende Argumentationsstruktur herausdestillieren:
- Europa müsse in wichtigen weltpolitischen Fragen gemeinsam auftreten und seine Kräfte bündeln, wenn das Sicherheits- und Wohlstandsinteresse seiner Bevölkerung langfristig gewahrt und nicht den geopolitischen Interessen der Großmächte von heute und morgen sowie globalen Bedrohungen zum Opfer fallen soll.
- Die heutige Verfassung der EU sei nicht geeignet, eine derartige Gemeinsamkeit zustande zu bringen. Es gebe zu viele mitsprache- und vetoberechtigte Mitgliedstaaten. Diese haben noch dazu stark divergierende Interessen.
- Aus dem gleichen Grund sei eine auf außenpolitische Entscheidungsfähigkeit abzielende Änderung der EU-Verfassung nicht zu erwarten.
- Um diese Selbstblockade zu überwinden, müsste die Zahl der vetoberechtigten Mitgliedstaaten drastisch gesenkt werden.
- Dazu müssten sich einige wenige, aber gewichtige europäische Staaten zu einem „Kerneuropa“ zusammenschließen, das seine Außen- und Sicherheitspolitik vergemeinschaftet. Diesem Kerneuropa könnten sich andere Staaten anschließen, wenn sie wollen und wenn Kerneuropa sie dafür als reif erachtet.
- Kerneuropa sollte auf jeden Fall die alten kontinentaleuropäischen Rivalen Frankreich und Deutschland sowie das größte Land im östlichen Mitteleuropa, Polen, umfassen, müsste aber nicht auf diese Drei beschränkt sein beziehungsweise bleiben.
- Um Kerneuropa herum sollten sich zwei „konzentrische“ und regional gegliederte Kreise abgestufter Mitgliedschaft beziehungsweise Anbindung an den Kern bilden. In diesen Kreisen sollten sich (a) die Länder wiederfinden, die ihre nationale Souveränität (noch) nicht aufgeben WOLLEN, und (b) die, die die Anforderungen einer Vollmitgliedschaft aus wirtschaftlichen und/oder politischen Gründen (noch) nicht erfüllen KÖNNEN.
- Kerneuropa sollte sich auf die Politikbereiche konzentrieren, die für das Meistern der von außen kommenden Herausforderungen wichtig sind. Dazu zählten die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Wirtschafts- und Währungspolitik. In allen anderen Politikbereichen sollte auf Harmonisierung möglichst verzichtet und dem Prinzip der Subsidiarität Vorrang gegeben werden. Dieses Vorgehen stünde in deutlichem Gegensatz zur bisherigen Politik der EU.
- Um Kerneuropa zustande zu bringen, brauche es eine Initiative betreffender Regierungen, gefolgt von Volksabstimmungen in den betreffenden Ländern. Eine derartige Initiative könne durch einen breiteren Konvent politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte vorbereitet werden.
In seiner Fokussierung auf Europas Stellung in der Welt lässt Veit für das, was das ‚europäische Projekt‘ für seine eigenen Bürger*innen zustande gebracht hat, erstaunlich wenig Wertschätzung erkennen. Dieses Projekt kann mit Fug und Recht als das bislang kühnste und umfassendste Unterfangen der Schaffung eines supranationalen politischen und ‚zivilen‘ Raumes unterhalb der Ebene der Staatlichkeit angesehen werden. Es hat einen in der Geschichte noch nie dagewesenen derartigen Raum hervorgebracht, der für die Menschen als ihr gemeinsames Europa unmittelbar erfahrbar ist und auch als solcher genutzt wird – trotz der fortbestehenden Eigenständigkeit der nationalen politischen Entscheidungsstrukturen. Aus dem Gebäude mit geschlossenen nationalen Zimmern ist, wenn man so will, eine große offene Halle mit nationalen ‚Zonen‘ geworden.
Dennoch ist das Veit‘sche Argument in sich stimmig: Es fehlt eine effektive, dauerhaft institutionalisierte Bündelung der Kräfte in den Bereichen, in denen es für die Zukunft der Menschen in Europa wichtig ist. Für alle anderen Bereiche erscheint es sinnvoll, nationale Unterschiedlichkeiten so weit zu akzeptieren, wie das mit einem offenen gemeinsamen Raum, der ja nicht ohne gemeinsame Regeln auskommt, vereinbar ist.
Veit sagt, wohin Europa gehen sollte, aber er sagt wenig zu den Kräften, die Europas Marschrichtung tatsächlich bestimmen. Sein Text offeriert in gewisser Weise eine Neukonstruktion Europas ‚vom grünen Tisch‘ des politikwissenschaftlichen Denkers aus. Seinem vernünftigen Plädoyer steht die Beobachtung gegenüber, dass die öffentliche Stimmungslage eher in die gegenteilige Richtung, nämlich die der Renationalisierung tendiert. Eine Bereitschaft, das außen- und wirtschaftspolitische Steuer aus der Hand zu geben und sich gegebenenfalls einer supranationalen Mehrheit unterzuordnen, ist heute weniger zu erkennen als, sagen wir, zu Maastrichts Zeiten.
Auch wenn dies eine politische Sackgasse darstellt, scheint die allgemeine Neigung zuzunehmen, sich in diese zurückzuziehen. Der identitätspolitische Impetus, der seinerzeit Deutschland, Italien und vorübergehend auch Jugoslawien hervorgebracht hat und der im Europa der Nachkriegsjahrzehnte bei Teilen der politischen Klasse und auch Teilen der Bevölkerung zu beobachten war, hat sich merklich abgeschwächt. Es sieht so aus, als ob die von Veit thematisierte gegenseitige Blockierung der dem (kurzfristigen) ‚nationalen Interesse‘ verpflichteten EU-Regierungen die europäische Einigung so lange aufgehalten hat, bis sich der europäische Moment verflüchtigt hat. Bestärkt wurde der Stimmungsumschwung zurück zum Nationalstaat durch globale Bedrohungen, vor denen der Rückzug hinter befestigte nationale Grenzen eher Schutz verheißt als eine derzeit utopisch anmutende globale Gestaltungsmacht. Das betrifft die vom globalen Wettbewerb hervorgerufenen sozialen Verwerfungen, die zunehmenden Flüchtlingsströme aus den Elends- und Anomiezonen der Welt in die wohlhabenden und politisch zivilisierten Zonen und jetzt auch ganz unvermutet die Corona-Pandemie.
Der souveräne Nationalstaat, wie er unser Weltbild und unsere zentrale politische Identität seit Generationen geprägt hat und wie er heute von einigen vehement als nach wie vor gültiges Leitbild eingefordert wird, mag suboptimal sein, aber mehrere Beobachtungen und Überlegungen sprechen für seine anhaltende Robustheit.
- Die überlegene Vernunft supranationaler Lösungen ist im Bedarfsfall nicht abrufbar solange die Institutionen nicht geschaffen sind.
- Im unkoordinierten Streben nach nationalen Vorteilen beim Umgang mit globalen Gemengelagen mag das Große und Ganze aus dem Blickfeld entgleiten. Aber der Vorteil, der dem Land winkt, das ihn clever verfolgt, bleibt ein Anreiz für nationale Politik.
- All das schließt nicht aus, dass man sich je nach Herausforderung internationalen Regimen anschließt, die für alle von Vorteil sind (WTO, IWF, Abkommen zum Seeverkehr, zum Luftverkehr, zum Artenschutz etc.). Bislang ist es denjenigen Nationalstaaten, die ihre Gesellschaft auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einstellen konnten, gut gelungen, in einem von zwischenstaatlichen Abkommen immer wieder neu (oft auch kontrovers) eingehegten Ordnungskontext den Wohlstand ihrer Bürger*innen zu mehren.
- Mittelmächte können sich auch heute den – mit Großmächten diplomatisch abgestimmten – Luxus regionaler „great games“ leisten, sogar mit Militäreinsatz.
- Von den Großmächten, die nicht nur Veit für die causa ‚Vereinigtes Europa‘ ins Feld führt, fühlen sich meist nur deren unmittelbare Nachbarn bedroht. Sie suchen typischerweise Schutz in Allianzen mit anderen Großmächten. Dass solche Allianzen im Gefolge sich verändernder historischer Konstellationen immer wieder neu justiert werden müssen, steht auf einem anderen Blatt.
- Nationale Souveränität gewährt nationalen politischen Eliten eine Entscheidungsbefugnis, die sie ungern aus der Hand geben und die sie gegebenenfalls vergolden können, die aber auch nationale Präferenzen vor der Überstimmung durch fremde Mehrheiten schützt (zum Beispiel was staatliches Finanzgebaren oder Entscheidungen über Krieg und Frieden betrifft).
- Nationale Identitätskonstruktionen setzen derartige Unterordnung mit Fremdherrschaft gleich.
Der kleine und mittelgroße Nationalstaat ist so gesehen kein Auslaufmodell, wie unterlegen er dem föderalen Großstaat auch als Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens in der Welt von heute und morgen sein mag. Dies bleibt auch Veit nicht verborgen, der dem zähen Überlebenswillen des unvernünftigen ‚Kleinstaats‘ durch ein Maximum an Subsidiarität Rechnung zu tragen sucht. Dennoch scheint Skepsis angesagt, was die Realisierungschancen seines Kerneuropa-Projekts betrifft.
Eine weitere Überlegung kommt hinzu. Es ist wahr, dass der selbstgenügsame, nur seinen eigenen Interessen verpflichtete Nationalstaat der Entwicklung der weltweiten Problemlagen nicht (mehr?) angemessen ist. Und es ist wahr, dass Europas Antwort auf diese Problemlagen weiterhin eine vielstimmige, vielfach widersprüchliche, oft ausgesprochen inadäquate ist, weil die europäischen Staaten eine angemessene Antwort mit ihren Eigeninteressen immer noch blockieren. Die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘, sind bis heute eine Fata Morgana geblieben. Und wie Veit ausführlich darlegt, wird dieses Europa mit den wahren Großmächten nicht mithalten können.
Aber braucht die Welt wirklich eine zusätzliche Großmacht? Würden wir nicht angesichts der sich akzentuierenden globalen Herausforderungen globale Kooperationsstrukturen brauchen statt ein System rivalisierender Großmächte, von denen eine die Vereinigten Staaten von Europa sind? Weist die oberflächlich plausible Vorstellung eines Gegengewichtes zu den autoritären Großmächten China und Russland sowie zu einem ‚aus dem Ruder laufenden‘ Amerika den Weg zu Wohlstand und Frieden? Oder würde auch das wie immer politisch geeinte Europa dem alten Machtreflex der politischen ‚Realisten‘ verfallen, der der Welt immer wieder verheerende Kriege beschert hat? Zwar beschwört Veit ein weltpolitisch handlungsfähiges Europa, das dem Rest der Welt als ‚Leuchtturm‘ westlicher politischer Werte dient, das sowohl geopolitischen als auch politisch missionarischen Versuchungen widersteht – anders als die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich einst auch als Leuchtturm demokratischer Freiheit in einer in autokratischen Strukturen und expansiven Machtgelüsten befangenen Welt gesehen haben. Aber wie realistisch ist die Vorstellung von einer altruistischen Großmacht, die auf die Verfolgung von Eigeninteressen in geopolitischen Nullsummenspielen, etwa in künftigen Kämpfen um knappe Ressourcen (Wasser, seltene Erden …) verzichtet? Die von realen Interessen befeuerte innenpolitische Dynamik (Lobbydruck) macht wertegeleitete Außenpolitik sehr schwer durchhaltbar.
Die Alternative wäre ein global eingehegter – wenn man so will, ‚zivilisierter‘ – Multilateralismus, der auch die Nicht-Großmächte Japan, Südkorea, Kanada, Australien etc. mit einbindet. Dieser Gedanke kann hier nicht weitergesponnen werden (wenn es denn Spinner sind, die ihm anhängen). Aber möglicherweise geht Veits in sich stimmige Idee eines französisch-deutsch-polnischen Kerneuropas an dem vorbei, was die Welt immer dringender braucht, so wie sie leider der gesellschaftlichen Dynamik in Europa zuwider zu laufen scheint, auch wenn hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und Veits Buch vielleicht zu einem Bewusstseinswandel beiträgt.
Demokratie und Frieden
Standpunkt
Der Unverzichtbare. Emmanuel Macron als Impulsgeber Europas
Frankreichs Präsident habe sich auf drei Gebieten zu einer Art Chefimpulsgeber in der Europäischen Union entwickelt: Erstens setze er sich für bessere Beziehungen zu Russland ein, denn Europas Sicherheit erfordere eine autonome Verteidigungskapazität und eine neue Sicherheitsarchitektur. Diese lasse sich aber nur mit und nicht gegen Moskau erreichen. Zweitens sei die EU derzeit nicht erweiterungsfähig und drittens könne nur ein vereintes und starkes Europa die Sicherheit garantieren. Dazu müsse diese aber zunächst vertieft werden.
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Lektüre
Die Zukunft des „deutsch-französischen Motors“ in der Europäischen Union
Der (europäische) Föderalist, 5. März 2018
Dr. Oliver Schwarz
Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas
Der (europäische) Föderalist, 21. Oktober 2020
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Die Krise der Europäischen Union