Leise treten. State of the Union im Jahr 2020
Die erste State-of-the-Union-Rede der Kommissionspräsidentin habe gezeigt, dass ein „republikanischer Humanismus das Ruder in Brüssel übernommen“ und „eine Besinnung auf die Fragilität von Natur und Gesellschaft, ein Plädoyer für menschlichen Fortschritt und Zivilisation“ erfolgt sei, so Florian Geisler. Ursula von der Leyen fordere ein Europa der Fairness und der Rechtsstaatlichkeit und strebe ein grünes, digitales und soziales Europa von morgen an. Sie habe den richtigen Weg gefunden, über Parteigrenzen hinaus, eine neue europäische politische Hegemonie herzustellen.
Die Rede der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Europäischen Union am 16. September 2020 steht für einen Wechsel in Politik und Rhetorik, dessen Projektcharakter erst noch zu entschlüsseln ist.
Auf den ersten Blick dürfte auch für Kritiker*innen der Europäischen Union klar geworden sein, wie dankbar man eigentlich dafür sein kann, dass mit Ursula von der Leyen ein republikanischer Humanismus das Ruder in Brüssel übernommen hat. An die Stelle des ruppigen Insistierens auf Europas Souveränität und seiner Bedeutung als Handelsmacht, wie sie noch von Jean-Claude Juncker zu hören war, ist eine Besinnung auf die Fragilität von Natur und Gesellschaft, ein Plädoyer für menschlichen Fortschritt und Zivilisation getreten. Man stelle sich bitte nur einmal vor, an Europas Spitze stünde ein polternder Ausländerfeind, der auf Zustände wie an den Außengrenzen Europas nicht etwa besorgt, sondern belustigt reagierte.
Von der Leyen jedoch liegt jeder Zynismus fern; stattdessen fordert sie ein Europa der Fairness und der Rechtsstaatlichkeit. In ihrer ersten State-of-the-Union-Rede als Kommissionspräsidentin kritisiert sie ganz konkret einige der schlimmsten Auswüchse des Rechtsrucks der vergangenen Jahre – etwa der enthemmten Verfolgung von LGBTIQ in Polen – und distanziert sich explizit von der Europe-First-Strategie, die manchen noch bis vor Kurzem als geeignete Antwort auf die neue Weltlage nach der Finanzkrise galt. Von der Leyen wendet sich gegen eine solche „Welt von gestern“ und will stattdessen ein grünes, digitales und soziales Europa von morgen – mit einer schnelleren als geplanten Senkung der CO2-Emissionen, neuen Datenschutz und -verwertungsrichtlinien, Arbeitsschutz und nicht weniger als einem Mindestlohn für alle. Dieser Politikwechsel, der tatsächlich kompetent aus der zuletzt deutlich gewordenen Sackgasse des alten europäischen Führungsstils herauszuführen scheint, setzt jetzt in Europa um, was Angela Merkel bereits seit längerer Zeit in der Bundesrepublik vormacht: Umsicht und Mäßigung, eine leise, aber wehrhafte Politik.
Kein Wunder also, dass die Kritiken an der Rede bisher verhalten ausfielen. Abgesehen von einer Auseinandersetzung um die rechnerischen Feinheiten bei den Klimazielen der Kommissionspräsidentin dürften die schlimmsten Vorwürfe an die Rede sich wohl darum drehen, sie sei in vielen Punkten zu „vage“ oder lasse zu viele „Leerstellen“ offen – wohl wissend, dass eine solche Rede ohnehin nicht der Ort für allzu konkrete Daten sein kann.
Hat von der Leyen also mit ihrem Modell den richtigen Weg gefunden, weit über Parteigrenzen hinaus eine neue europäische politische Hegemonie herzustellen, wo ihr Vorgänger vor knapp zwei Jahren noch eine Bedrohung für den Zusammenhalt als solchen zu befürchten hatte? Woher kommt also dieser scheinbare neue Zusammenhalt? Die Coronakrise allein kann es kaum gewesen sein, denn genauso wenig wie zuvor die Finanzkrise hat sie zur Schaffung einer gemeinsamen Staatsanleihe der Staaten der EU geführt, auf allerhöchster wirtschaftspolitischer Ebene zumindest haben sich die materiellen Grundlagen also nicht verändert.
Dennoch muss bedacht werden, dass die Maßnahmen gegen CoVid-19 die finanziellen Möglichkeiten der EU noch einmal ganz erheblich zum Tragen gebracht haben: Gemeinsame Anleihen hin oder her, es sind dennoch in großem Umfang Hilfen geflossen. Die bisher noch ungeklärte Frage, aus welchen Gründen das Virus in welchen Regionen stärker als anderswo zuschlägt und die damit verbundene Unsicherheit haben zweifellos trotz der vielen Grenzschließungen ein Zusammenrücken der Staaten befördert, die sicherlich alle nicht gerade traurig darüber waren, in so einer Zeit nicht alleine dazustehen.
Der Viruseffekt allein kann also nicht die gesamte Lage erklären. Mindestens ebenso wichtig ist die internationale Situation. Einig scheint sich Europa (ohne Großbritannien, natürlich) auch unter dem Vorsitz von der Leyens immerhin darin zu sein, nicht länger nur den Juniorpartner neben einer schwächelnden Führung durch die Vereinigten Staaten spielen zu können. Auch wenn man sicherlich hofft, dass die Wahl der US-Präsidentschaft im Herbst einen Wechsel bringt, der sich wieder verstärkt gegen die unmittelbar autoritären Modernisierungsprojekte des Ostens engagiert, möchte man offensichtlich nicht mehr darauf warten und stattdessen selbst das Steuer in die Hand nehmen: Von der Leyen spricht sich explizit gegen die Methode Putin und Lukaschenko aus. China sei „ein Verhandlungspartner, ein wirtschaftlicher Konkurrent und ein systemischer Rivale“, worin rhetorisch zwar die alte „Systemkonkurrenz“ durchscheint, obwohl in der Realität selbstverständlich keine Rede von einer solchen Konfrontation sein kann.
Auf europäischer Ebene bleibt zu beachten, dass die Union weiterhin mit erheblichen sozialen Spaltungen zu kämpfen hat: Die Begriffe vom Nord-Süd- und West-Ost-Gegensatz beschreiben nur unzureichend die teilweise erheblichen Unterschiede in Lebensqualität, und -chancen, die zu nivellieren von der Leyen doch immer wieder betont. Auch eine Analyse dieser Situation in Begriffen der traditionellen Linken erfasst nicht die ganze Komplexität der Gegensätze, die hier am Werk sind. Denn in der Erzeugung immer neuer Zustimmung gerät die Union auch in Krisenzeiten bisher nicht an ihre Grenzen – oder doch? In gewisser Weise hat CoVid-19 zu einer erneuten Enttäuschung vor allem des Südens geführt. Nicht zuletzt in Italien erlangt die Forderung nach einem Austritt aus der Union, die nur den Interessen Frankreichs und Deutschlands diene, immer mehr Aufmerksamkeit. Diese Debatten sind dabei stets eindeutig von einer Auseinandersetzung der politischen Mitte mit der extremen Rechten geprägt, die auf europäischer Ebene ohnehin schwer wahrnehmbaren sozialen und ökologischen Alternativen spielen hier kaum eine Rolle und scheinen sich stets nur innerhalb, niemals außerhalb des Mainstreams einer liberalkonservativen Modernisierung artikulieren zu können. Von der Leyen scheint sich diesen Umstand ganz bewusst zunutze zu machen und so viele liberale Elemente wie möglich in ihren Diskurs einzuklinken.
Der Ton, den von der Leyen anschlägt, ist daher vor allen Dingen als Projekt zu verstehen, als Exposition eines neuen, potenziell auf lange Sicht mehrheitsfähigen Kompromisses zwischen den verschiedenen Interessen in diesem Modernisierungsprozess. Die Unterschiede zwischen den weltweit so unterschiedlichen Herangehensweisen an die Integration von sozial-, gesundheits-, transformations- und umweltpolitischen Aufgaben in ansonsten konservative bis autoritäre Politikmodelle zu begreifen, bleibt eine zentrale Aufgabe für die Forschung. Ob der neue Führungsstil in Brüssel langfristige Folgen haben wird; ob den menschlichen Worten tatsächlich Taten folgen, oder ob im Gegenteil viel eher eine weitere Schicht beschönigender Rhetorik letztendlich nur ideologisch gegen Kritik abdichtet, wird sich erst noch zeigen müssen.
Für eine kohärente Kritik am Kurs der EU wird aber in Zukunft umso mehr gelten, dass neben einer reinen „Ideologiekritik“ an Institutionen der EU oder an einer einfachen revolutionären Rhetorik auch gehören muss, die Politik der EU als Ganzes zu analysieren. Eine Von-der-Leyen’sche-Union wird nicht auf dem Gebiet der Ökologie und nicht auf dem Gebiet des Mindestlohns, nicht auf dem Gebiet der Migration und nicht auf dem Gebiet der Internationalen Ökonomie, nicht auf dem Gebiet des Feminismus und des Klassenkampfs besiegt werden, weil diese Positionen alle an und für sich bereits positiv besetzt sind. Nur gerade in einer intelligenten und vor allem substanziellen Zusammenführung dieser Perspektiven wird ein Einwand überhaupt möglich sein, der sich nicht in Tautologie erschöpft.
Demokratie und Frieden
Quelle
Europäische Kommission
Die Welt von morgen schaffen: Eine vitale Union in einer fragilen Welt
Rede zur Lage der Union 2020
Ausgewählte Pressestimmen
1. ... aus Deutschland:
Peter Müller
Von der Leyens Versprechen, von der Leyens Schwächen
Spiegel-Online, 16. September 2020
Von der Leyen: „Kampf gegen Rassismus wird niemals optional sein“
Deutschlandfunk, 16. September 2020
Von der Leyen: "Hass bleibt Hass, und damit dürfen wir uns nicht abfinden"
Süddeutsche, 16. September 2020
Frédéric Simon
Wir schaffen das: Von der Leyen fordert 55 Prozent weniger Emissionen bis 2030
Euractiv, 16. September 2020
Die grüne Revolution aus dem 13. Stock
Tagesspiegel, 14. September 2020
2. ... aus dem europäischen Ausland:
Gemischtes Echo auf von der Leyens Rede
eurotopics, 18. September 2020
Kommentar
Europa im Interregnum. Über die Rede des Kommissionspräsidenten zur Lage der Union 2018
Jean-Claude Juncker beschwört in seiner Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament am 12. September 2018 die Grundwerte der EU: Einigkeit, Selbstbewusstsein, Führungskraft und vor allem Souveränität. In seinem Plädoyer für eine starke Union und gegen zurückgewandte Europa-Skeptiker unterschätzt Juncker aber manche Kräfte, die am Zusammenhalt der Union und an den jüngeren Generationen von EU-Bürger*innen zerren, konstatiert Florian Geisler.
weiterlesen
zum Thema
Die Krise der Europäischen Union