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Rezension / 09.03.2022

Deniz Z. Ertin: Lobbying in der Europäischen Union. Beteiligung von Interessenorganisationen in der EU-Klima- und Bankenpolitik

Baden-Baden, Nomos 2021

Wie groß ist die Einflussnahme von Lobbyorganisationen auf den europäischen Gesetzgebungsprozess? Bei der Beantwortung dieser Frage konzentriert sich Deniz Z. Ertin auf die Agenda-Setting-Phase im Zeitraum zwischen 2010 und 2018 in der EU-Klima-sowie Bankenpolitik. Seine Analyse des Vorgehens sowohl von zivilgesellschaftlichen als auch wirtschaftlichen Interessenorganisationen lässt ein Ungleichgewicht zugunsten von wirtschaftlichen Vertretungen sowie transnational agierenden Unternehmen erkennen. Ertin formuliert Handlungsempfehlungen, um den Einfluss einzelner Organisationen zu begrenzen, wie Rezensent Marko Jakob ausführt.  

Seit Anbeginn der Europäischen Union (EU) spielt die organisierte Vertretung von Interessen eine wichtige Rolle. Von „Gewerkschaften über Arbeitgeberverbände bis hin zu Umweltschutzorganisationen“ (25) beeinflussen sie die europäische Gesetzgebung und tragen zur europäischen Integration bei. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Anzahl von europäischen Interessenorganisationen stetig gesteigert. Trotz eines 2012 eingeführten Transparenzregisters auf europäischer Ebene, ist noch immer unklar, wie groß der Einfluss von Lobbyorganisationen auf den europäischen Gesetzgebungsprozess wirklich ist. Genau diese Frage will Deniz Ertin mit seiner Arbeit beantworten.

Er hat sich in seiner Dissertationsschrift die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wie sich die Einflussnahme von diversen Interessenorganisationen in verschiedenen Politikfeldern in der zurückliegenden Dekade verändert hat. Zu diesem Zweck untersucht er „prä-legislative“ (28) Gesetzgebungsverfahren, also Prozesse in der sogenannten „Agenda-Setting Phase“ (28) im Zeitraum zwischen 2010 und 2018. Im Einzelnen analysiert er das Vorgehen von zivilgesellschaftlichen (ZIO) und wirtschaftlichen Interessenorganisationen (WIO) in der europäischen Klima- und Bankenpolitik.

Die Arbeit gliedert sich in sechs große Abschnitte. Zunächst werden in einem einleitenden Kapitel die Motivationslage und das Vorgehen beschrieben. Auch die Frage nach der Relevanz des Forschungsgegenstandes wird beantwortet. So zeigt sich zwar, dass es umfangreiche Literatur zum Thema Lobbying auf europäischer Ebene gibt. Da die politischen Entscheidungsprozesse jedoch einem steten Wandel unterworfen sind, muss auch die Wissenschaft immer wieder die Interessenvertretung neu ausleuchten.

Im zweiten Kapitel stellt der Autor die theoretischen Grundlagen vor. Dabei werden zunächst die wesentlichen Begriffe, wie wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Interessenorganisationen, Lobbying oder prä-legislative Prozesse definiert. Dem schließen sich die wesentlichen Theorien der Interessenvertretung, beispielsweise Korporatismus und Pluralismus an. Der erste Abschnitt schließt mit der Aufstellung von sechs Forschungshypothesen, die im Zuge der Arbeit überprüft werden. Zwei der Hypothesen lauten: „Je höher die Anzahl der Interessenorganisationen, die sich an der prä-legislativen Gesetzgebung beteiligen, desto niedriger ist das Ungleichgewicht zwischen ZIO und WIO bei der Beteiligung“ (160, Hypothese 1). In Hypothese vier formuliert der Autor: „Umso mehr IO [Interessenorganisationen] sich während des prä-legislativen Gesetzgebungsverfahrens beteiligen, desto mehr bevorzugt die KOM [Europäische Kommission] die WIO und transnational agierende Unternehmen.“ (161, Hypothese 4) Beide Hypothesen verdeutlichen, dass der Autor davon ausgeht, dass sich wirtschaftliche Interessen grundsätzlich stärker in europäische Gesetzgebungsprozesse einbringen können.

Der dritte Abschnitt ist der Methodik gewidmet. Ertin nutzt für seine Dissertation eine vergleichende Analyse, indem er die zuvor formulierten Hypothesen in der Klima- und Bankenpolitik überprüft. Beide Politikbereiche zeichnen sich durch eine „Vielzahl an Interessenorganisationen und die hohe Anzahl an einzelnen Gesetzgebungsakten“ (163) aus. Die Hypothesen werden anschließend operationalisiert und in diverse Variablen und Indikatoren zerlegt. Für die Datenerhebung nutzt der Autor zahlreiche öffentliche Informationsquellen, wie Internetseiten und Datenbanken der verschiedenen Interessenorganisationen sowie der Europäischen Kommission, einschließlich Audio -und Videodokumente. Weiterhin wurden die Antworten der Interessenorganisationen bei den sogenannten Online-Konsultationen sowie das Transparenz-Register zur Datenerhebung herangezogen. Zu guter Letzt wurden 15 leitfadengestützte qualitative Experteninterviews geführt.

Im vierten Kapitel stellt Ertin die beiden Politikbereiche, also die Klima- und Bankenpolitik, vor. Neben der historischen Einordnung zeigt er die rechtlichen Besonderheiten auf und geht auf die Interessenorganisationen ein, die sich mit den jeweiligen Themenbereichen befassen. In der EU-Klimapolitik sind es 4.546 (226) und in der Bankenpolitik circa 700. Die wesentlichsten Vereinigungen werden anschließend kurz beschrieben, darunter unter anderem „Climate Action Network“ (231), „Transport and Environment“ (233) oder der „WWF Europe“ (234). Nach dem gleichen Muster wird die europäische Bankenpolitik umfassend vorgestellt und erklärt.

Die empirische Analyse bildet den Hauptteil der Arbeit. In diesem fünften Kapitel werden die erhobenen Daten analysiert und bewertet. Von den zu Beginn aufgestellten sechs Hypothesen können vier bestätigt und zwei falsifiziert werden. So zeigt sich zum Beispiel, dass das Ungleichgewicht zwischen ZIO und WIO nicht mit steigender Anzahl an Interessenorganisationen sinkt (Hypothese 1). Das heißt, dass zumeist ein Ungleichgewicht zugunsten von wirtschaftlichen Interessenvertretungen besteht. Die oben erwähnte vierte Hypothese wird hingegen bestätigt. Es ist also tatsächlich so, dass die Europäische Kommission „WIO und transnational agierende Unternehmen“ (161) gegenüber zivilgesellschaftlichen Interessenorganisationen bevorzugt (352). Der Autor spricht sogar von einer „Dominanz der WIO in beiden Politikfeldern“ (365).

Im sechsten und letzten Kapitel fasst der Autor seine Erkenntnisse zusammen und formuliert Handlungsempfehlungen. So schlägt er etwa vor, den Einfluss einzelner Interessenorganisationen durch einen „intelligenten Mechanismus“ (366) zu begrenzen. Auch weiterführende Untersuchungen werden angeregt.

Die Arbeit ist gut strukturiert und gut lesbar. Durch den logischen Aufbau werden die Leser*innen Stück für Stück in die Thematik eingeführt. Auch die kurzen Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels erleichtern das Lesen und das Verständnis. Im theoretischen Teil gelingt es dem Autor, die umfangreiche Theorie zur Interessenvertretung auf ein geeignetes Maß zu reduzieren. Die Fokussierung auf die Klima- und Bankenpolitik ist eine Stärke der Arbeit. Sie erlaubt eine hohe methodische Tiefe. Die Formulierung der Hypothesen und deren Operationalisierung sind nachvollziehbar beschrieben. Die genutzte Datenbasis ist umfangreich und vereint qualitative und quantitative Merkmale. Die empirische Auswertung jedoch ist zum Teil unübersichtlich, da die Ergebnisse in stark kondensierter Form dargestellt werden. Die zahlreichen Grafiken wirken eher kontraproduktiv und sind teilweise schwer verständlich. Auch das Schlusskapitel ist etwas oberflächlich. Die Empfehlungen wirken zum Teil naiv. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich die Arbeit auf ZIO und WIO konzentriert und damit einen Großteil der Interessenorganisationen nicht berücksichtigt. Dies wird auch in den Daten immer wieder sichtbar, wenn von „anderen Interessenorganisationen“ (292 ff.) die Rede ist. Auch wenn die letzten zwei Abschnitte etwas kritischer betrachtet werden müssen, insgesamt trägt die Arbeit aber zum Verständnis der Einflussnahme durch Interessenorganisationen auf europäische Gesetzgebungsverfahren bei.

 

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

LobbyFacts.eu

 

Externe Veröffentlichungen

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Gefährliche Übermacht

sueddeutsche.de

Dieter Plehwe / 13.03.2019

Wandel der Lobbyarbeit in der Europäischen Union

Bundeszentrale für politische Bildung

Bastian Benrath / 13.08.2019

Wer ist die größte Lobbymacht in Brüssel?

faz.net 

 

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