Mathias Niendorf: Geschichte Litauens. Regionen, Reiche, Republiken 1009–2009
Litauen grenzt an Lettland, Belarus, Polen und Kaliningrad. Abseits davon ist indes oft noch wenig über das größte und bevölkerungsreichste der drei baltischen Länder bekannt, das gleichwohl auf eine vielfältige Geschichte innerhalb Europas zurückblickt: In Personalunion mit Polen einst eine regionale Großmacht, dann Region in den Territorien anderer Reiche, später im 20. Jahrhundert eine junge, scheiternde Demokratie der Zwischenkriegsjahre, dann Sowjetrepublik, seit 1991 wieder unabhängig und ab 2004 Mitglied der Europäischen Union. Über all dies berichtet der Historiker Mathias Niendorf mit seiner „Geschichte Litauens".
Im Jahr 2009 beging die Republik Litauen stolz das 1000-jährige Jubiläum der Ersterwähnung ihres Landesnamens „Litauen“. Grundlage waren die im 11. Jahrhundert im Frauenstift Quedlinburg entstandenen, heute in Dresden aufbewahrten, Quedlinburger Annalen. Darin wird berichtet, dass am 10. März 1009 der heilige Bruno, genannt Bonifatius, ein Erzbischof und Mönch, im elften Jahre seiner Tätigkeit als Missionar „in confinio Rusciae et Lituae“ („an der Grenze zur Rus‘ und zu Litauen“)[1] von Heiden erschlagen wurde und so mit 18 seiner Gefolgsleute in das Himmelreich gelangt sei. Gemeint ist der aus der Gegend von Halle stammende Mönch Brun von Querfurt. Die zweite Erwähnung Litauens findet sich übrigens in einem in unmittelbarer Nachbarschaft zum Frauenstift Quedlinburg und zur Heimat Bruns entstandenen Dokument, der berühmten Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg, einem der bedeutendsten Quellentexte zur Geschichte Deutschlands im frühen Mittelalter.[2] Deutsche und litauische Geschichte berührten sich also nachweislich schon sehr früh. Weitere Beispiele lassen sich bis in unsere Tage finden. Über 700 Jahre lang trafen das – mehr oder weniger geschlossene – deutsche Sprachgebiet und das litauische Sprachgebiet im nördlichen Ostpreußen ganz unmittelbar aufeinander. Dennoch blieb Litauen aus deutscher beziehungsweise westeuropäischer Perspektive immer ein Nachbar, über den sich nur sehr verschwommene, oftmals widersprüchliche, Kenntnisse verbreiteten. Unbekanntes vermag freilich zu faszinieren. So galt Litauen manchen als Hort der ‚Barbarei‘, anderen auch als Paradies der freien Liebe (!) als Land der Verheißung. Doch auch abseits aller Mythen und Legenden ist die Geschichte Litauens außerordentlich reich und interessant. Wer sich über die Entwicklung Litauens in den vergangenen 1000 Jahren informieren möchte, kann auf zahlreiche Publikationen zu einzelnen Themen litauischer Geschichte zurückgreifen. So hat Laimonas Briedis eine reichbebilderte Geschichte der multiethnischen Hauptstadt Litauens Wilna/Vilnius/Wilno verfasst.[3] Von Matthias Dornfeldt und Enrico Seewald liegt eine sehr gut lesbare Gesamtdarstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Litauen im 20. Jahrhundert vor.[4] Joachim Tauber, Direktor des Nordost-Instituts in Lüneburg, hat zahlreiche Studien zu litauischen Themen, unter anderem zum Holocaust in Litauen, veröffentlicht.[5] Eine deutschsprachige Gesamtdarstellung der Geschichte Litauens vom Mittelalter bis in die Gegenwart stellte bislang hingegen ein großes Desiderat dar. Die 1966 veröffentlichten „Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes“ von Manfred Hellmann, die bis 1999 fünf Neuauflagen erlebte, entsprachen zweifellos nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand.[6] Diese Lücke schließt nun Mathias Niendorf, Lehrstuhlinhaber für Osteuropäische Geschichte an der Universität Greifswald, mit seiner „Geschichte Litauens“.
Anschaulich und detailreich zeichnet Niendorf den Weg Litauens durch die vergangenen 1000 Jahre nach. Die Einteilung der vier Hauptkapitel folgt dabei den wechselnden staatlichen Formen beziehungsweise staatlichen Zugehörigkeiten des heute als Litauen bezeichneten Gebiets von 1009 bis 2009.
Am Anfang steht der Aufstieg Litauens von einem heidnischen Herrschaftsverband, wahrgenommen als „Randregion“, zu einem mittelalterlichen Großreich, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von den Grenzen des späteren Ostpreußens bis vor die Tore Moskaus reichte und unter anderem auch das heutige Weißrussland sowie das Kerngebiet der heutigen Ukraine mit einschloss. 1336 ließ sich der litauische Großfürst Jogaila in Krakau katholisch taufen, heiratete die polnische Königin Hedwig (polnisch: Jadwiga) und wurde als Władysław II. Jagiełło zum polnischen König gekrönt. Damit wurde eine mehr als vierhundertjährige und zunehmend enger werdende Verbindung Litauens mit Polen geschlossen, die sich nicht zuletzt auch kulturell auswirkte. So wurde der litauische Adel mit dem polnischen Adel rechtlich gleichgestellt und nahm dessen Lebensweise und nicht zuletzt die polnische Sprache an. Auf dem Reichstag von Lublin 1569 wurde schließlich aus der Personalunion Polens mit Litauen eine Realunion, aus der bisherigen Erbmonarchie wurde eine Wahlmonarchie, in welcher der Herrscher durch den Adel gewählt wurde. Die dritte Teilung Polens 1795 beendete die Existenz des polnisch-litauischen Staatswesens. Die Territorien des Großfürstentums Litauen gehörten nun für über 100 Jahre zum russischen Zarenreich[7]. „Litauen“ als Bezeichnung für ein klar umrissenes staatliches Territorium verschwand von den Landkarten. Die Erinnerung an das einst mächtige Großfürstentum wurde jedoch von Angehörigen der – damals überwiegend polnischsprachigen – geistigen Eliten aufrechterhalten. Das Verständnis von „Litauen“ folgte mit Ende des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend einem ethnisch definierten Nationsverständnis. Der Gebrauch der litauischen Sprache wurde bald zum entscheidenden Kriterium, um zu definieren, wer eigentlich als „Litauer“ beziehungsweise „Litauerin“ anzusehen ist. Das Ende des Ersten Weltkrieges mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der Niederlage des Deutschen Reiches ermöglichte die Gründung eines unabhängigen litauischen Nationalstaats, der im Wesentlichen das gesamte litauische Sprachgebiet umfasste. Die Annexion Wilnas, der damals von einer mehrheitlich polnischsprachigen Bevölkerung bewohnten historischen Hauptstaat Litauens, durch das ebenfalls als Nationalstaat wiedererstandene Polen wirkte jedoch wie ein Trauma auf die junge Republik und belastete die litauisch-polnischen Beziehungen nachhaltig. Innenpolitisch wandelte sich der junge Staat von einer parlamentarischen Republik zu einem autoritären System. 1926 putschte das Militär und verhängte das Kriegsrecht im Land. 1927 wurde das Parlament aufgelöst. Bis 1936 sollte Litauen ohne Volksvertretung bleiben. Die Aufteilung Europas infolge des Hitler-Stalin-Pakts und die anschließende sowjetische Okkupation des Baltikums beendeten 1940 allerdings die kurze Phase litauischer Eigenstaatlichkeit. Erst im Februar 1991, nach fast 50 Jahren, konnte ein eigenständiger, demokratisch verfasster litauischer Staat wiedererstehen.
Neben den hier in aller Kürze skizzierten politischen Ereignissen behandelt Mathias Niendorf eingehend die sozialen und kulturellen Entwicklungsprozesse, die Litauen in den vergangenen 1000 Jahren geprägt haben. Spezielles Augenmerk richtet er dabei auf die besondere ethnische Vielfalt, die das Großfürstentum Litauen auszeichnete. Kaum irgendwo im damaligen Europa genossen Juden so günstige Niederlassungsbedingungen. Ebenso ließen sich muslimische Tataren nieder, deren Nachfahren noch heute in Litauen leben. Geschickt flicht Niendorf immer wieder kurze Anekdoten und Angaben zu exemplarischen Biographien ein, ohne dass seine Ausführungen irgendwie langatmig oder mit Informationen überladen wirken. Vielmehr lässt er ein lebendiges Panorama litauischer Geschichte entstehen, durch das sich das Buch wie ein historischer Roman lesen lässt.
So erfährt man, dass während des Spätmittelalters in Westeuropa allerlei verwegene Gerüchte über Litauen kursierten, die eher etwas über die Wunschvorstellungen und Ängste ihrer Schöpfer aussagen als über die tatsächlichen Verhältnisse in dem abgelegenen Land. Der spätere Papst Pius II. etwa behauptete, dass es Frauen am Hof des litauischen Großfürsten gestattet sei, mit Zustimmung ihrer Gatten außereheliche Beziehungen einzugehen und dass Ehen in Litauen mit gegenseitigem Einverständnis beider Partner problemlos beendet und durch neue ersetzt werden könnten.
Die im Zuge der sich im 19. Jahrhundert formierenden Nationalbewegungen immer heftiger diskutierte und zugleich immer schwieriger zu beantwortende Frage, wer denn nun eigentlich litauisch sei, illustriert Niendorf gekonnt am Beispiel dreier Brüder aus der polnischsprachigen Adelsfamilie Iwanowski, die seit Generationen im Großfürstentum Litauen ansässig war. Einer von ihnen, Jerzy Iwanoswki, hielt an der polnischen Sprache und Identität fest und bekleidete nach dem Ersten Weltkrieg Ministerämter in Warschau. Sein Bruder Wacław Iwanowski bezeichnete sich als Weißrusse, nannte sich Vaclou Ivanouski und wurde 1918 Bildungsminister der kurzlebigen weißrussischen Volksrepublik. Ein dritter Bruder schließlich, Tadeusz Iwanowski, bekannte sich als Litauer, nannte sich Tadas Ivanauskas und wurde später Professor an der neu gegründeten Universität Kaunas. Nicht von ungefähr machte, wie Niendorf schreibt, ein Scherz die Runde, dass ein weiterer Sohn der Familie Iwanowski sich noch zum Judentum bekennen müsse, dann seien alle wichtigen Nationalitäten Litauens in einer einzigen Familie vertreten. Treffender kann man die spezifischen Konstellationen und Problematiken multiethnischer Regionen wohl kaum fassbar machen.
Dass eine thematisch derartig breit angelegte Publikation, wie Niendorfs Gesamtdarstellung der Geschichte Litauens vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, nicht auf jeden Aspekt ausführlich eingehen kann, ist vollkommen nachvollziehbar. Dennoch gibt es einzelne Punkte, die doch etwas zu kurz kommen. So wäre es wünschenswert gewesen, wenn die für das Mittelalter so bildhaft beschriebene Außenwahrnehmung Litauens auch für andere Epochen wiedergegeben worden wäre. In diesem Zusammenhang hätte die Frage nach den Beziehungen Litauens zu seinen baltischen Nachbarn gestellt werden können. Immerhin gab es im 19. und frühen 20. Jahrhundert Kontakte zwischen der litauischen und der lettischen Nationalbewegung[8], aus der sogar das Projekt eines gemeinsamen lettisch-litauischen Staats hervorging.[9] Auch die sich Mitte der 1980er-Jahre in den baltischen Sowjetrepubliken formierenden Unabhängigkeitsbewegungen arbeiteten wenigstens punktuell zusammen.[10] Vielleicht werden spätere Auflagen von Mathias Niendorfs „Geschichte Litauens“ hierzu noch einzelne Ergänzungen aufnehmen. Ohne Abstriche kann jedoch betont werden, dass es sich hierbei um das längst überfällige neue deutschsprachige Standardwerk zur litauischen Geschichte handelt. Dieses Buch verdient es – über akademische Kreise hinaus – als spannende und aufschlussreiche Lektüre über ein besonderes und in vieler Hinsicht leider noch immer allzu unbekanntes europäisches Land wahrgenommen zu werden.
Dieser Text basiert auf einer im Deutsch-Baltischen Jahrbuch Band 71 (herausgegeben von der Carl-Schirren-Gesellschaft e. V. in Verbindung mit der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e. V., Lüneburg 2023, S. 183-188) erstmals erschienenen Buchbesprechung.
Anmerkungen
Masurens, an der Grenze zur litauischen Region Sudauen (Suvalkija), nicht weit der Stadt Lyck, ums Leben: Andreas Kossert: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden. München 2006, S. 19. In der älteren Literatur findet sich allerdings gelegentlich auch die Angabe, der Tatort befände sich in Kurland: Weber: Kurland. In: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. 2. Aufl. Bd. 7: Kaaba bis Litanei, begonnen von Joseph Cardinal Hergenröther, fortgesetzt von Dr. Franz Kaulen. Freiburg im Breisgau 1891, S. 1259–1265, hier S. 1259.
Demokratie und Frieden
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Externe Veröffentlichungen
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