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/ 27.02.2024

Reinhold Vetter: Polen im 21. Jahrhundert: Angekommen im europäischen Gemeinwesen – oder unterwegs auf nationalistischen Sonderwegen?

Reinhold Vetter beleuchtet in seinem Buch die innerpolitische Entwicklung Polens seit 1989. Dabei analysiert er die Gründe und Ursachen für den Erfolg der PiS-Partei im Jahr 2015, zeichnet die Entwicklung des Landes unter ihrer Regierung nach und geht auf das Verhältnis Polens zur EU ein. Unser Rezensent Sven Leunig urteilt, das Buch biete zwar „einen interessanten Überblick über die Entwicklung Polens insbesondere der letzten 20 Jahre“, sei jedoch kein wissenschaftliches, sondern ein journalistisches Werk.

Die Motivation von Reinhold Vetter, sich mit Polen im 21. Jahrhundert – vornehmlich aber mit der Zeit der PiS-Regierung 2015-2023 – zu befassen, ähnelt der von Werner Patzelt mit in seinem jüngsten Werk über Ungarn: Wie dieser geht auch Vetter, davon aus, dass sich in Bezug auf bestimmte Aspekte der (polnischen) Geschichte immer wieder mangelnde „Sensibilität sowie fehlendes Wissen im Westen und nicht zuletzt auch in Deutschland“ (30) zeigten. Während Patzelt dieses fehlende Wissen allerdings sehr umfänglich und auch unter intensiver Betrachtung der gesamten Geschichte des ungarischen Staates erweitern will, befasst sich Vetter im Wesentlichen nur mit der Zeit nach 1989, also nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems. Und während bei Patzelt nicht nur ein Verständnis, sondern auch eine gewisse Sympathie gegenüber der Fidesz-Regierung unter Orbán durchscheint, erweist sich Vetter als klarer Kritiker vor allem der beiden PiS-Regierungen nach 2015.

Dieser kurze Vergleich der beiden in kurzem zeitlichen Abstand publizierten Werke sei erlaubt, denn beide befassen sich mit zwei Staaten, in denen nach verbreiteter Ansicht in Politik, Medien und Wissenschaft (im Falle Polens zumindest bis vor kurzem) rechtspopulistische Parteien regier(t)en. Die sich aus Vetters Sicht daraus ergebende Problematik zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, das die Einschätzungen zu diesem Thema am Ende in einem eigenen Kapitel 5 („Nationalismus, Autoritarismus, Populismus“) noch einmal pointiert zusammenfasst.

Die übrigen Teile des Werkes sind in fünf weitere Kapitel unterteilt, abgeschlossen mit einer allgemeinen Zusammenfassung am Ende des Buches. In der Einleitung stellt der Verfasser seine Leitfrage: „Hat Polen die im Jahr 1989 errungene Freiheit gut genutzt“? (1). Wie sich zeigen wird, kommt er sowohl hinsichtlich der Bürgerrechte als auch der ökonomischen Verhältnisse nur zum Teil zu einem positiven Ergebnis. In beiden Bereichen gäbe es “Licht und Schatten“: eine im europäischen Vergleich durchaus „starke Wirtschaft“, zugleich aber auch ein hohes Maß an wahrgenommener Korruption und eine erkennbar geöffnete Schere zwischen Arm und Reich, wie er z.B. im Unterkapitel 3.10 zum Prekariat in Polen deutlich macht. Im Bereich der Bürgerrechte berichtet Vetter von Fällen, bei denen Mitarbeiter*innen der Anti-Korruptionsbehörde versucht hätten, „mit fingierten Beweisen Korruption bei regionalen und lokalen Beamten nachzuweisen, die der Regierungspartei PiS gegenüber kritisch eingestellt“ gewesen seien (44).

Das zweite Kapitel („Weichenstellung“) irritiert in seiner Struktur etwas. Würde man angesichts des Titels eher von einer intensiven Auseinandersetzung mit – eben – den Weichenstellungen zu Beginn der Transformationsphase 1989 ausgehen, schreitet Vetter in einer Tour d’Horizon den gesamten Entwicklungspfad des Landes bis in die 2020er-Jahre ab, wobei er sowohl innenpolitische als auch außenpolitische Felder betritt. Dabei sieht er als besonders problematisch an, dass der Systemwandel als ein „Elitenprojekt“ mit nur geringer Beteiligung der Bevölkerung bzw. Berücksichtigung ihrer Interessen (18) durchgeführt worden sei. Besonders interessant – wiederum mit Blick auf Ungarn – ist, dass es kurz vor der Wahl 2015, die zur Regierungsübernahme durch die PiS führte, auch in Polen eine vergleichbare „Lügenrede“[1] gegeben habe, in der sich Minister der in geheimen Gesprächen abfällig über ihre Landsleute geäußert hätten (43). Aber auch die PiS habe nach ihrer Machtübernahme die Probleme des Landes nur zum Teil entschieden angegangen; vielmehr habe sie etwa die Bekämpfung der Korruption als Vorwand genutzt, um eigene Protegés in führende Positionen zu bringen (46).

Im Hauptabschnitt des Buches, dem dritten Kapitel, widmet sich Vetter ausführlich dem politischen System Polens, von der Verfassung über das Parteiensystem bis zu einigen zentralen Politikfeldern (Wirtschafts- und Umweltpolitik). der gegenwärtige, der PiS nahestehende Präsident Andrzej Duda möglicherweise noch spielen könnte. Schließlich verfüge der polnische Präsident über ein suspensives Veto gegen jedes Parlamentsgesetz, das nur mit 60 Prozent der Stimmen im Parlament (Sejm) überstimmt werden könne. Dass der Widerstand des Präsidenten keineswegs nur eine verfassungstheoretische Option sei, habe sich bereits in der Vergangenheit gezeigt, als etwa der linke Präsident Aleksander Kwaśniewski während seiner Amtszeit (1995-2005) gegen 28 wichtige Gesetze der bürgerlichen Regierung erfolgreich sein Veto geltend machte. Dies lasse für die neue Regierung Tusk einigen Gegenwind seitens des Präsidenten erwarten (68, 81).

Das vierte Kapitel schließlich behandelt „Polens Position in Europa“, wobei sich Vetter vor allem am Verhalten der PiS-Regierung abarbeitet, die er – auch mit ihren dezidiert antideutschen Positionen – für das schlechte „Standing“ Polens in der Europäischen Union verantwortlich macht. Dabei macht er deutlich, dass Europapolitik für die PiS stets Innenpolitik ist und „als Vehikel [betrachtet wird], um wichtige Ziele ihrer innenpolitischen Agenda insbesondere im Bereich von Rechtsstaat und Justiz zu verwirklichen“ (185). Besonders kritisch geht der Verfasser dabei mit den Justizreformen der Regierung Mateusz Morawieki ins Gericht. Dies nicht nur, weil sie die Kritik europäischer Institutionen auf sich gezogen habe, sondern weil er in ihnen tatsächlich eine autoritäre Tendenz erkennt, die die Gewaltenteilung in Polen in ihren Grundfesten erschüttert (88-96).

Insgesamt bietet das Buch einen interessanten Überblick über die Entwicklung Polens insbesondere der letzten 20 Jahre, auch wenn es – leider – kein wissenschaftliches Werk ist. Wie Werner Patzelt belegt Vetter seine Aussagen – insbesondere jene, die sich kritisch mit der PiS-Regierung befassen! – nur sehr sporadisch und wenn, dann auch häufig mit nicht-wissenschaftlichen Quellen (Medien, eigene Arbeiten). Dies sei einem engagierten und wirklich gut formulierenden Journalisten aber verziehen.


Anmerkungen:

[1] Gemeint ist die geheime Rede des damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány am 26. Mai 2006 in Öszöd, in der er offen zugab, die Wähler*innen belogen zu haben und sich abfällig über Ungarn äußerte. Diese wird als wichtigster Meilenstein für den späteren Wahlsieg Orbáns gesehen.

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