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Rezension / 06.06.2024

Robert Menasse: Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde

Berlin, Suhrkamp 2024

Schonungslos kritisiert Robert Menasse Widersprüche der EU und die (Krisen-)Politik der Mitgliedsstaaten. Dabei plädiert er für eine fortgesetzte Integration im Sinne einer nachnationalen Demokratie. Alternativen dazu sieht er, der mit dem Titel seiner Streitschrift auf vergangene Desaster des einst durch Nationalismen geprägten Kontinents rekurriert, nicht. Michael Kolkmann ist beeindruckt, wie der Essayist mit „viel Sprachwitz“ und „feine[m] Gespür für die ironischen Besonderheiten dieses Gebildes“ vorgeht und dabei u. a. zu leeren Schlagworten verblasste Narrative von und über Europa zu dekonstruieren versteht.

In belletristischer Form hat sich der österreichische Schriftsteller, Essayist und Philosoph Robert Menasse in den vergangenen Jahren wiederholt mit dem Thema Europa auseinandergesetzt, verwiesen sei nur auf seine Bücher „Die Hauptstadt“ und „Die Erweiterung“, in denen er das Innenleben der Europäischen Union anhand ausgesuchter Konfliktfelder sezierte. Für letzteres erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022 sowie den Europäischen Buchpreis 2023 des Europäischen Parlaments.

Im vorliegenden Band „Die Welt von morgen“ kehrt Menasse zurück zu seiner Profession des Essayisten, des kritischen Beobachters zeitgenössischer Politik und Gesellschaft. Der Titel ist - natürlich - eine Anspielung auf „Die Welt von gestern“ (posthum 1942) von Stefan Zweig (vgl. 32 und 52 f.), in dem dieser das untergegangene kosmopolitische Europa der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (mit Schwerpunkt Wien) beschrieb.

Menasse wendet sich in seinem Buch dem Europa zu, das nach dem Zweiten Weltkrieg institutionell neu entstanden ist. Zunächst als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), dann auch als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM), wird die europäische Integration aus seiner Sicht zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte, es handelt sich dabei gewissermaßen um „ein Befriedungsprojekt für unseren Kontinent“ (15). In jener Zeit der ersten Integrationsschritte gewann die europäische Integration an Tempo: „[S]ie hat von der Montanunionüber die Wirtschaftsgemeinschaft bis zur Gründung der politischen Union weiter getragen, als sich noch unsere Großeltern hätten vorstellen können“ (9). Dieses Erbe, so ist der Autor überzeugt, gilt es heute zu verteidigen. Als Hauptfeind der europäischen Integration macht Menasse den Nationalismus aus: „Die Idee war bekanntlich, verfeindete Nationen zu verflechten, ihre jeweiligen Interessen unter gemeinsame Kontrolle zu stellen und in gemeinsamer Verwaltung zu gemeinsamen Interessen zu entwickeln. An diesem Punkt ist aus historischer Erfahrung eine Utopie und aus dieser Utopie ein realer historischer Prozess geworden: das nachnationale Europa under construction“ (15; Hervorhebung im Original).

Menasse unternimmt in seinem Buch eine Gratwanderung: Er „will keine Munition liefern für Wutausbrüche der Nationalisten, auch wenn wir uns mit der Wut vieler Bürger beschäftigen müssen“ (10). Immer wieder wird die Diskrepanz verdeutlicht zwischen der grundsätzlichen Beschwörung der europäischen Idee und der kleingeistigen Umsetzung in kleinem nationalem Karo. Heute, davon ist der Autor überzeugt, ist die europäische Integration (auch) eine Krisengeschichte. Die Rede ist von einem Demokratiedefizit, europäische Politik werde (auch) geprägt von Kriegen und Konflikten. Einzeln herausgegriffen und im EU-Kontext verortet werden von Menasse die globale Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Eurokrise, die Corona-Krise und die Klimakrise (vgl. 24-29). Seine Krisenbearbeitungsbilanz lautet in einem positiven Sinne, dass sich die EU in der Tat weiterentwickelt - „nicht so radikal, wie es notwendig sein wird, aber sie entwickelt sich fort. Und so stehen wir heute da, auf halbem Weg mit halber Tat und halben Mitteln – die wir aber davor gar nicht gehabt hatten“ (28). Doch er sieht auch eine Kehrseite: Demnach entwickelt sich die EU „weit fort vom Zauber der Anfänge, fort von den Ideen und Idealen der Gründergeneration, fort von der hellsichtigen konkreten Utopie des europäischen Einigungsprojekts, an der zunächst zäh und geduldig Schritt für Schritt gearbeitet worden war, etwa bis zum Ende der Ära von Jacques Delors als Kommissionspräsidenten, und letztlich mit einem kurzen Aufflackern in der Zeit der Präsidentschaft von Jean-Claude Juncker“ (28 f.). Dass aber seitdem die EU in einem ganz anderen Kontext agieren muss, bei dem neben deren Vertiefung auch deren Erweiterung sowie ein gänzlich anderes internationales Umfeld (und damit eine größere Komplexität der Aufgaben) als zentrale Herausforderung auf die Bildfläche getreten ist, findet im Buch nicht statt – oder es findet statt, aber lediglich beim - aus anderweitigen Gründen wichtigen – Blick des Autors auf den Kulturraum Mitteleuropa (vgl. 42 ff.), wenn er etwa auf die Habsburger Monarchie als politisches Gebilde und als Vielvölkerstaat schaut und nicht zufällig auf das bekannt gewordene Wort von Jean Monnet, einem der Gründungsväter der europäischen Integration, verweist: „Wenn ich es noch einmal machen müsste, ich würde mit der Kultur beginnen“ (52).

Überlagert werden all diese Krisen für Menasse davon, dass einzelne Mitgliedsländer die EU auf die Probe stellen und testen, wie weit sie sich von europäischen Werten entfernen können. Der „Primat der nationalen Demokratie“ (145) verhindere allzu oft eine wahrhafte europäische Demokratie. Am Ende ist die Alternative für Menasse klar: Entweder gelingt ein postnationales Demokratiemodell oder es droht der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten. Dabei könnte laut Autor ganz konkrete, ganz alltägliche Politik eine wichtige Rolle für die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern spielen: „Es gäbe so viele einfache, pragmatische Maßnahmen, die gesetzt werden könnten, die zu einer größeren allgemeinen Anerkennung einer europäischen Gemeinschaftspolitik führen würden und europäisches Bewusstsein stärken könnten“ (168).

Gerade in der Synopse unterschiedlicher Themen und Ansätze unter Einbindung von so unterschiedlichen Autoren wie Robert Musil, Samuel Huntington, Woodrow Wilson und Milan Kundera zeigt sich im vorliegenden Werk die Meisterschaft Menasses: Konkrete Aspekte der institutionellen Struktur der EU-Institutionen finden ebenso Berücksichtigung wie übergeordnete politische Ideen und kulturgeschichtliche Anspielungen. Für politikwissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser ist besonders aufschlussreich, dass Menasse im Laufe der Argumentation unbewusst die drei großen, in dieser Fachdisziplin gängigen Politikdimensionen thematisiert: Nämlich erstens mit „Polity“ die institutionelle Struktur der EU, etwa wenn er das Zusammenspiel der europäischen Institutionen wie Parlament, Rat und Kommission kritisch aufgreift oder wenn er fragt, warum eine europäische Volksvertretung nur auf der Basis von nationalen Listen gewählt werden kann (146) oder warum gerade das Parlament als Gesetzgeber selbst über kein Gesetzesinitiativrecht verfügt (147); und wie die Kommissarsposten durch die Mitgliedstaaten besetzt werden (148 und 157). Zweitens den Bereich „Policy“, wenn er konkrete inhaltliche Politikfelder aufgreift (149). Und schließlich drittens mit „Politics“ den politischen Aushandlungsprozess, an dem auch Bürgerinnen und Bürger, politische Parteien, Interessengruppen und eine Vielzahl von weiteren europäischen Akteuren beteiligt sind. In diesem Kontext stellt Menasse die Dimension der verfassungsrechtlichen Grundlegung europäischer Politik gemäß der Verträge der Dimension der alltäglichen Kompromisse in der alltäglichen Arbeit der EU gegenüber (162-165). Zudem verbindet er alltägliche Erfahrungen auf seinem Landsitz im österreichischen Waldviertel an der tschechischen Grenze mit größeren politischen Themen, die über diesen Landstrich hinaus von besonderer Relevanz sind (vgl. 69).

Immer wieder wird in „Die Welt von morgen“ die Bedeutung „europäischer Werte“ (z. B. 121 oder 131) herausgestrichen. So dekonstruiert Menasse zum Beispiel die gängigen europapolitischen Narrative vom „Friedensprojekt Europa“ und interpretiert oft genutzte, aber selten hinterfragte Begriffe wie „proeuropäisch“, das Subsidiaritätsprinzip, den „Nettozahler“, die „Vereinigten Staaten von Europa“, die „Harmonisierung“ oder die „europäische Demokratie“ (132-144). Aus seiner Sicht werden in der europapolitischen Debatte „unausgesetzt schöne bunte und düster graue Steinchen in die Debatte geworfen, und jeder sieht dann ein anderes Muster, je nachdem, wie er an seinem Kaleidoskop dreht“ (131 f.).

Mit viel Sprachwitz und einem feinen Gespür für die ironischen Besonderheiten dieses Gebildes der EU beleuchtet Menasse als selbsternannter „Wiener und Europäer“ (63) nicht nur die „Chiffre Brüssel“ (10), sondern auch die konkrete Politik ihrer Mitgliedsstaaten. Dabei stehen Österreich und Deutschland natürlich im Fokus seines Interesses. Durch die gesamte Argumentation des Buches zieht sich die Frage, ob das europäische Glas halb voll oder halb leer ist. Menasse löst diese Frage auf seine Weise auf: Für ihn ist es wichtig, „ob wir die Möglichkeit haben, nachzuschenken“ (42).

Dabei findet sich im Buch keine lineare, konzise Argumentation, sondern es handelt sich vielmehr um eine Bewegung in größeren Kreisen, die nicht zwangsläufig konzentrisch angeordnet sind. Menasse betont abschließend selbst, dass er „bewusst auch ein gewisses Mäandern zugelassen (hat), um möglichst viel an Denkbarem mitzunehmen“ (167). Und er ergänzt: „[W]enn ich jetzt zurücklese, bemerke ich einige Widerspüche in meinen Gedanken. Das beruhigt mich. Widersprüche sind die Voraussetzung für Diskussionen“ (ebd.). Es gibt für ihn „keinen Schluss, denn wir befinden uns erst am Anfang der notwendigen Diskussion, wie wir aus der Krise der EU als einem europäischem Demokratieprojekt herausfinden können, um die Polykrise, mit der wir konfrontiert sind, herauszufinden“ (183). In diesem Sinne könnte man abschließend formulieren: Lasset die Diskussionen um ein nachnationales Europa im Geist Menasses beginnen!

 

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