Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg
Anhand zahlreicher empirischer Befunde kritisiert Ruud Koopmans die Defizite der bisherigen europäischen Asylpolitik, die seiner Ansicht nach die Integration erschwere, Europa von Autokraten abhängig mache und für den Tod tausender Geflüchteter verantwortlich sei. Stattdessen plädiert er für eine realistische Reform, die auf humanitären Kontingenten statt individuellem Asylrecht, der Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten und konsequenten Abschiebungen basiert. Thomas Mirbach teilt Koopmanns Problembeschreibung, stellt aber seine Lösungsvorschläge in Frage.
Man wird Ruud Koopmans, Direktor der Abteilung „Migration, Integration und Transnationalisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, wohl nicht zu nahe treten, wenn man ihn als streitbar bezeichnet (Lau 2017). Mit großer Entschiedenheit setzt er sich im Themenfeld Integration und Migration mit Fragen religiöser Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt auseinander (Koopmans 2020), die sowohl in der öffentlichen Debatte als auch im akademischen Diskurs höchst umstritten sind. Auch in seinem neuen Buch „Die Asyllotterie“ ist die Intention spürbar, „progressive akademische Trends und Tabus zu exponieren und sie und ihre Vertreter mit der empirischen Realität zu konfrontieren“ (Karadag 2020, 2). So setzt sich Koopmans Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg nicht nur kritisch mit dem europäischen Asylregime auseinander, sondern auch mit Positionen, die – sehr pauschal gesprochen – Migration eher positive als negative Effekte für die jeweilige Aufnahmegesellschaft zuschreiben.
Der Duktus der Studie ist von einem empirischen Realismus geprägt, der sich zum einen auf Befunde einer Vielzahl anderer Studien und öffentlich verfügbarer Datenreihen einschlägiger Institutionen (beispielsweise Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Statistisches Bundesamt, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Bundesministerium des Inneren und für Heimat) sowie diverse Medienberichte stützt. Zum anderen beruft sich Koopmans auf Einschätzungen fünf ausgewählter migrationspolitischer Experten (Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI); Daniel Thym und Kay Hailbronner, Universität Konstanz; Jorrit Rijpma, Leiden Law School; Maarten den Heijer, Universität Amsterdam), die er für die Studie befragt hat und deren Statements allerdings nur punktuell – vor allem im letzten Kapitel – in die Argumentation eingebunden werden. Insgesamt gliedert sich die Studie in drei unterschiedlich lange Teile. Zunächst gibt Koopmans einen Aufriss der Vorgeschichte und der Defizite des bestehenden Asylsystems (9-79), relativ umfangreich fällt die Diskussion der Folgen des Fluchtgeschehens aus (81-193) und den Abschluss bildet der Entwurf eines reformierten Asylsystems (195-240).
Koopmans prägnante Auflistung der Defizite des europäischen Asylregimes dürfte zweifellos von vielen geteilt werden. An zehn Gründen könne man ablesen, dass der im EU-Recht verankerte normative Anspruch der Hilfeleistung für Schutzbedürftige nicht einmal annähernd erreicht werde. Die von ihm benannten Hauptaspekte seien hier herausgegriffen: Mit über 22.000 Toten zwischen 2014 und 2021 stellt die Asylmigration nach Europa das tödlichste Migrationssystem der Welt dar. Dabei würden die Schwächsten der von Verfolgung Bedrohten Europa gar nicht erreichen – tendenziell haben männliche Flüchtlinge, die über die erforderlichen Kontakte und finanziellen Mittel verfügen, die besten Chancen. Die europäische Flüchtlingspolitik sei hinsichtlich des Fluchtgeschehens von geographischen Zufälligkeiten und politischen Konjunkturen getrieben und ignoriere die Belastungen der Erstaufnahmeländer. Die sich daraus ergebenden Schwankungen der Zahlen würden zu erheblichen administrativen Überlastungen und integrationspolitischen Einschränkungen (Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, innere Sicherheit) führen. Europaweit würden sich die Widersprüche der Migrations- und Asylpolitik im Erstarken rechtspopulistischer Gruppierungen zeigen, die EU gegenüber autokratischen Regimen erpressbar machen und die divergierenden Interessenlagen der Mitgliedsstaaten vertiefen. Zur Genese dieses defizitären Systems gehöre ein langfristiges Politikversagen: Die EU habe der sich seit dem Arabischen Frühling anbahnenden Krisenlage im Nahen Osten weitgehend tatenlos zugesehen (45 ff.).
Mit den Folgen des Fluchtgeschehens setzt sich Koopmans in drei Kapiteln ausführlich auseinander. Vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Defizite des Asylregimes überrascht die Breite der Darstellung. Die Perspektive richtet sich in erster Linie auf die Folgen für die Aufnahmeländer, auch wenn die „Frage nach dem Nutzen für die aufnehmende Gesellschaft nicht im Vordergrund stehen“ sollte (90). Koopmans erste Botschaft lautet: Die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt werde sich unter anderem aufgrund von Qualifikationsproblemen wesentlich länger hinziehen als von vielen – gerade auch Wirtschaftsvertreter*innen – erwartet. So liege in Deutschland die Beschäftigungsquote von Geflüchteten in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2021 bei rund 40 Prozent; dementsprechend sei auch von einer hohen Transferabhängigkeit auszugehen. Die zweite, an zahlreichen Einzelfällen illustrierte, Botschaft betrifft die „verkannte Terrorgefahr“ (107 ff.). Die Sicherheitslücken des europäischen Asylsystems – gefälschte oder fehlende Dokumente, falsche Angaben zu Herkunftsland oder Alter, Nicht-Durchsetzung des Dublin-Prinzips, geringe Abschiebequoten und Duldung auch von Straftäter*innen – hätten in Sicherheitsfragen zu einer Schieflage zu Lasten der „eigenen Bürger“ geführt (122). Die dritte Botschaft schließlich stellt – auf Basis der vom BKA veröffentlichten Daten über „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ – den (gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil) überdurchschnittlichen Anteil von Geflüchteten an allen Tatverdächtigen als zusätzlichen Beleg für eine verfehlte Flüchtlingspolitik heraus (133 ff.).
Koopmans abschließende Vorschläge für eine realistische Reform des Asylregimes (195 ff.) beruhen im Kern auf einer Abkehr vom individuellen Asylrecht hin zur Einrichtung von humanitären Kontingenten. Ein derartiges Modell könne nur realistisch sein, wenn es angesichts der faktischen Interessendivergenzen der EU-Mitgliedsländer einen mehrheitsfähigen Kompromiss ermöglicht. Kompromissfähig erscheint ihm eine Kombination von zwei funktionalen Erfordernissen: Die neue Flüchtlingspolitik würde keine Reduzierung der Gesamtzahl von Geflüchteten bedeuten, wohl aber eine effektive Umlenkung von irregulären hin zu regulären Migrationswegen verfolgen. Orientiert an der Zahl der seit 2013 durchschnittlich pro Jahr anerkannten Asylbewerber*innen in der EU – dies ist eine entscheidende Referenz seiner Argumentation – wäre eine Größenordnung von jährlich 325.000 aufzunehmenden Personen denkbar. Die dafür vorzuhaltenden Kontingente sollten Aufnahmen über das Resettlement-Programm des UNHCR, humanitäre Programme der EU oder einzelner Mitgliedsländer sowie humanitäre Visa umfassen. Alle anderen Formen der Flüchtlingszuwanderung aus EU-Anrainerstaaten müssten auf diese Quote angerechnet werden. Zur Reduzierung der irregulären Asylmigration hält Koopmans zwei Schritte für notwendig: Zum einen Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern (vor allem solchen mit niedrigen Anerkennungsquoten), die zugleich mit Angeboten legaler Wirtschaftsmigration gekoppelt wären. Andererseits – und das wäre der wesentliche Wechsel im Asylregime – eine Auslagerung des Asylverfahrens in Drittstaaten, die die Einhaltung internationaler Rechtsstandards glaubhaft garantieren. Für potentiell irreguläre Einwanderer*innen nach Europa hieße das, sie würden „Schutz nach internationalem Recht erhalten […], aber eben nicht in den ersehnten Zielländern Nordwesteuropas, sondern in einem Drittstaat“ (234).
Fazit
Es dürfte weithin Konsens darüber bestehen, dass das EU-Asylregime weder dem deklarierten Normengefüge gerecht wird, noch in funktionaler Hinsicht als politisch rationale Problemlösung gelten kann. Ebenso offensichtlich ist auch, dass die bisherigen Reformansätze auf kontingenten Entscheidungen beruhen, in denen sich – sowohl auf EU-Ebene als auch auf Ebene der Mitgliedsstaaten – partikulare Interessenlagen und Machtkalküle widerspiegeln (Scherr 2022). Mit dieser Kontingenz hat sich Koopmans differenziert auseinandergesetzt, seine Einwände gegen die asylpolitische Praxis sind vielfach empirisch fundiert. Seine Abwägung von Restriktionen und Handlungsmöglichkeiten bildet die konträren Interessenlagen im verschachtelten EU-Verhandlungssystem ab und sieht im kleinsten gemeinsamen Nenner konservativer und progressiver Positionen eine realistische Option. Ob die Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten tatsächlich die Problemlösungsfähigkeit des Systems in dem von ihm gewünschten Sinne erhöht oder nicht vielmehr die bekannten Defizite in anderer Weise fortschreibt (Pichl 2023), wird wesentlich davon abhängen, wie die gebotenen rechtlichen Standards dann dort umgesetzt werden.
Literatur
- Karadag, R. (2020): Hausdurchsuchung: Literaturessay zu "Das verfallene Haus des Islam: Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt" von Ruud Koopmans. Soziopolis: Gesellschaft beobachten. [https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-82831-2, Abruf 29.06.2023]
- Koopmans, Ruud (2020): Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt. München Beck.
- Koopmans, Ruud (2023): Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg. München Beck.
- Lau, Mariam (2017): Kühler Querkopf. In: Die Zeit Nr. 51 vom 08.12.2017 [https://www.zeit.de/2017/51/ruud-koopmans-migrationsforscher-integration-muslime; Abruf 30.06.2023]
- Pichl, Maximilian (2023): Europas Werk und Deutschlands Beitrag: Wie der EU-Asylkompromiss das Recht auf Asyl aushöhlen könnte. Verfassungsblog, 2023/5/15,
[https://verfassungsblog.de/europas-werk-und-deutschlands-beitrag; Abruf 30.06.2023] - Scherr, Albert (2022): Bewegungsfreiheit, Grenzziehungen und die Problematik der Forderung nach offenen Grenzen. In: Glathe, Julia/ Laura Gorriahn (Hrsg.): Demokratie und Migration. Konflikte um Migration und Grenzziehungen in der Demokratie. Leviathan Sonderband 39, S. 117–136.
Demokratie und Frieden
Interview / Victoria Rietig, Louise Zbiranski / 12.10.2021
Wider die „gefühlten Zahlen“. Vorannahmen in der migrationspolitischen Debatte und die Chancen eines sachlicheren Blicks
In der Debatte um Migration kochen die Emotionen oft hoch, auch weil Vorannahmen und gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen. Im Interview erklärt Victoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der DGAP, wie sich dies auf die Politikberatung auswirkt und was zu einer Versachlichung der Debatte beitragen könnte. Zudem plädiert sie dafür, auch in migrationspolitischen Fragen stärker mit den USA zusammenzuarbeiten, denn die Migrationssituation beider Länder sei sich „heute ähnlicher als je zuvor in der Geschichte“.
Rezension / Wahied Wahdat-Hagh / 22.09.2020
Domenica Dreyer-Plum: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union
Domenica Dreyer-Plum präsentiert ein politikwissenschaftliches Lehrbuch, das die Probleme der EU-Asylpolitik beleuchtet. Sie fest, dass die Asylpolitik der Europäischen Union „deutlich stärker europäisiert [sei] als die Grenzpolitik“. Es existiere eine rechtliche Vereinheitlichung des Asylsystems, aber die Aufnahmebedingungen seien sehr unterschiedlich. Insgesamt stelle sich ein „weiterhin sehr heterogenes europäisches Asylsystem dar, das von dem politisch gewollten einheitlichen europäischen Asylstatus weit entfernt bleibt“
Rezension / Maria Grazia Pettersson / 26.08.2020
Klaus von Beyme: Migrationspolitik. Über Erfolge und Misserfolge
Der Titel lässt erwarten, dass in diesem Band nicht nur eine systematische Darstellung von Migrationspolitik geboten wird, sondern eher eine Bestandsaufnahme und Zusammenfassung neuerer Entwicklungen auf diesem Gebiet. Insgesamt ist dem Autor eine vielseitige Studie über unterschiedliche Aspekte des Themas gelungen, die ökonomische, juristische, moralphilosophische, sicherheitspolitische, integrationstheoretische (Assimilation, Multikulturalismus) samt Argumente der politischen Psychologie (rechtspopulistische Parteien) berücksichtigt.
Externe Veröffentlichungen
Ruud Koopmans im Gespräch mit Ileana Grabitz & Heinrich Wefing / 14.07.2023
ZEIT
Ludger Pries / 06.06.2023
Soziopolos
Jürgen Gerhards, Ruud Koopmans, Gerald Knaus / 16.03.2023
Deutschlandfunk Nova