Zehn Jahre Krise. Vertiefte Integration und neue Spannungen in der EU
Wie haben sich zehn Jahre Krise auf die europäische Integration ausgewirkt? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, schreibt Ernst Hillebrand. Verschiedene Länder sind unterschiedlich betroffen, und die Auswirkungen sind nicht in allen Politikfeldern gleich. Fortschritten in der Integration stehen Rückschritte und wachsende Divergenzen entgegen. Mit Sicherheit aber haben die zehn Jahre der Finanz- und Eurokrise Auswirkungen auf die Wahrnehmung der europäischen Integration durch die Bevölkerung gehabt – positive wie negative.
Wie haben sich zehn Jahre Krise auf die europäische Integration ausgewirkt? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Verschiedene Länder sind unterschiedlich betroffen, und die Auswirkungen sind nicht in allen Politikfeldern gleich. Fortschritten in der Integration stehen Rückschritte und wachsende Divergenzen entgegen. Mit Sicherheit aber haben die zehn Jahre der Finanz- und Eurokrise Auswirkungen auf die Wahrnehmung der europäischen Integration durch die Bevölkerung gehabt – positive wie negative.
Der Schlüssel für das Verständnis dieser Entwicklung liegt sicherlich in der Ökonomie. Die Eurokrise hat Schwächen in der europäischen Konstruktion sehr deutlich werden lassen. Obwohl das Epizentrum der Finanzkrise in den USA lag, sind sie sehr viel schneller aus dieser herausgekommen. Dagegen hat sich die Eurozone in den zurückliegenden zehn Jahren zu einem der am schwächsten wachsenden Teile der Weltwirtschaft gewandelt. Dieses niedrige Wachstum hat gravierende Folgen – vor allem für die südlichen Länder der Eurozone, die in sehr tiefe Krisen gerutscht sind. Ihr Abstand zu den wachstumsstärkeren Staaten – wie Deutschland oder den Niederlanden – hat sich deutlich vergrößert.
Ein Vergleich des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf belegt dies. Benchmark ist das BIP pro Kopf Deutschlands (100 Prozent im jeweiligen Jahr). In Abbildung 1 wird die Entwicklung im Vergleich dargestellt (Erklärung: Im Jahr 2005 betrug das Pro-Kopf-Einkommen in Italien 89 Prozent des deutschen, 2016 dagegen nur noch 72 Prozent).
Abbildung 1:
Alle größeren Länder der Eurozone haben während der Krise im Vergleich zu Deutschland verloren, vor allem aber Italien.1 Die Gründe hierfür sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden. Diese Entwicklung zeigt aber zweierlei: Erstens, dass die Währungsgemeinschaft des Euros die Länder Süd- und Westeuropas vor ökonomische Herausforderungen gestellt hat, für die sie bisher noch keine überzeugende und nachhaltige Antwort gefunden haben.2 Und zweitens, dass die Krisenpolitik der EU und der Europäischen Zentralbank (EBZ) nicht in der Lage war, den Trend zu wachsender Divergenz zu stoppen und die Wirtschaftsdynamik im Süden der Eurozone nachhaltig anzukurbeln.
Parallel zu dieser Entwicklung hat sich ein anderer Prozess fortgesetzt, der nicht ohne Konsequenzen für die wirtschaftliche, aber auch die politische Balance der EU ist: Einer sinkenden industriellen Kraft des „Club Med“ der EU steht eine Erhöhung der industriellen Kraft der „neuen“ EU-Länder Ost- und Mitteleuropas gegenüber. Vergleicht man die jährlichen Veränderungen im industriellen Output Südeuropas mit denen Ost- und Mitteleuropas, so ergibt sich ein klares Bild: Einem kontinuierlichen Rückgang im Westen und Süden steht ein anhaltendes Wachstum industrieller Produktion in Osteuropa gegenüber.
Tabelle 1: Durchschnittliches jährliches Wachstum der Industrieproduktion 2005-2016
Welche Dimension der Trend zur Standortverlagerung und Investitionen in Ost- und Ostmitteleuropa in einigen industriellen Sektoren mittlerweile angenommen hat, lässt sich am deutlichsten an der Entwicklung der Produktionszahlen von PKW darstellen.
Tabelle 2: Entwicklung der jährlichen PKW-Produktion
Gerade auch die deutsche Industrie, die seit 1990 heftig in Ost- und Mitteleuropa investiert, hat von dieser Entwicklung profitiert und dadurch ihre dominierende Stellung in Europa – gerade auch im Fahrzeugbau – gestärkt. Sie hat seit der EU-Osterweiterung nicht-strategische Teile der industriellen Fertigung in die östlichen Nachbarstaaten Deutschlands verlagert und dort tief gestaffelte Wertschöpfungsketten aufgebaut. Im Zuge dieser Entwicklung sind die Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) zum wichtigsten Handelspartner Deutschlands aufgestiegen. Der Handel mit diesen vier Ländern ist mit 257 Milliarden Euro deutlich höher als der mit Frankreich (167 Milliarden Euro) oder Italien (113 Milliarden Euro).3 Bei der Verlagerung industrieller Produktionskapazitäten konnte oft auf lange industrielle Traditionen in diesen Ländern zurückgegriffen werden. In vielen Betrieben deutscher Unternehmen in Ost- und Mitteleuropa bestehen keine oder nur sehr geringe Produktivitätsunterschiede zu den deutschen Vergleichsstandorten. Dafür aber sind die Löhne in Ostmitteleuropa nach wie vor erheblich niedriger. So beträgt zurzeit der Netto-Lohnunterschied zwischen Deutschland und dem unmittelbaren Nachbarland Polen monatlich 640 Euro, zu Tschechien monatlich 428 Euro. Der Lohnunterschied zu Rumänien beträgt sogar monatlich 944 Euro. Lohnunterschiede dieser Größenordnung bestehen gerade auch im industriellen Bereich.4
Diese erheblichen Lohnunterschiede erklären, zusammen mit geringeren Steuern und niedrigeren Sozial- und Umweltauflagen, die Attraktivität der osteuropäischen Standorte. Mit der Osterweiterung war und ist somit eine Akzentuierung der Standortkonkurrenz zwischen den traditionellen Hochlohnländern im Westen und den neuen EU-Mitgliedstaaten verbunden. Versuche, die Unterbietungskonkurrenz aus Osteuropa durch europäische Sozialstandards zu begrenzen, sind allerdings bisher am Widerstand der osteuropäischen Länder und am Desinteresse der europäischen Politik gescheitert. Faktisch ist genau das Gegenteil passiert: Durch die EU-Entsenderichtlinie und die EU-Dienstleistungsrichtlinie, aber auch durch das Prinzip der uneingeschränkten Mobilität von Arbeitskräften in der EU wurde der Druck, der von der Osterweiterung ausging, ungebrochen in den westeuropäischen Arbeitsmarkt hineingeleitet. Dies war Politik im einseitigen Interesse der Arbeitgeber, die auf billige Arbeitskräfte in und aus Osteuropa zurückgreifen konnten und können. Damit wurde ein zusätzliches Stresselement für den europäischen Integrationsprozess geschaffen, welches nicht zuletzt auch hinter der Brexit-Entscheidung der britischen Bevölkerung stand. Emmanuel Macron hat daher eine Re-Regulierung der Ost-West-Arbeitskräftemobilität in der Form einer Reform der Entsenderichtlinie zu einer der Prioritäten der nächsten Phase der EU-Integration erklärt.5
Gewisse Erfolge konnten in diese Richtung tatsächlich erzielt werden. Eine Änderung der Entsenderichtlinie wird aber an den anderen innereuropäischen Regulations- und Entlohnungsungleichgewichten nichts ändern. Für das immer noch sehr viel ärmere Ostmitteleuropa ist dieser Unterbietungswettbewerb die einzige Möglichkeit, eine Art nachholende Entwicklung in der EU zu erreichen. Und dies geschieht nicht ohne Erfolg: Während sich innerhalb der Eurozone die Divergenz eher erhöht hat, findet zwischen den „Beitrittsländern“ und der „alten EU“ tatsächlich ein Konvergenzprozess statt.6 Diese Entwicklung wird begleitet von parallelen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote, die in den Transitionsjahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus extrem hoch war, ist in weiten Teilen der Region in den vergangenen zehn Jahren klar gesunken. In den Krisenländern der Eurozone ist sie dagegen deutlich gestiegen.
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Quelle: Wirtschaftskammer Österreich7
Echte Vertiefung in der Krise
Der realökonomischen Auseinanderentwicklung in der Eurozone steht aber auch ein anderer Prozess gegenüber: Beim Management der Finanz- und Eurokrise ist es zu ganz erheblichen Integrations- und Vertiefungsprozessen mit erheblichen Souveränitätsverlusten der Nationalstaaten gekommen. Dies gilt sowohl für die konkrete Zusammenarbeit der Staaten der Eurozone wie für die Formulierung des Regelwerkes der EU.
Vor allem die Einhegung der Folgen der Finanzkrise führte zu einem enormen Vertiefungsschub. Die Explosion der Staatsverschuldung nach den bail-outs der angeschlagenen Finanzinstitute nach 2008 in verschiedenen Staaten der Eurozone konnte nur durch gemeinsame Finanzanstrengungen der Staaten der EU und des Internationalen Währungsfonds gesteuert werden. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Finanzierungsinstrumente geschaffen, die die hochverschuldeten Staaten stabilisieren sollten. Dieser „Euro-Rettungsschirm“ bestand im Wesentlichen aus bilateralen Krediten, dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM), der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität (EFSF) und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). All diesen Instrumenten ist gemeinsam, dass damit Refinanzierungskrisen der angeschlagenen Staaten vermieden wurden, indem andere Staaten Kredite zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellten. Damit wurde das bis dahin geltende no bail-out-Prinzip innerhalb der EU faktisch aufgegeben und eine Risikostreuung über die Euro-Gemeinschaft hin organisiert. Einen ebenso wichtigen Schritt in diese Richtung des risk sharing stellt die Politik des Quantitative Easing der EZB dar. Hier sind die Zentralbanken der Eurozone in eine De-facto-Risikovergemeinschaftung erheblichen Ausmaßes hineingegangen. Davon profitieren in erster Linie die Staaten Südeuropas, die auf diese Weise die Refinanzierungskosten ihrer hohen Staatsverschuldung erheblich senken konnten.
Die Gegenseite dieser Entwicklung war die Schaffung europäischer Kontroll- und Monitoring-Mechanismen, um die Finanzlage der Mitgliedsländer im Rahmen der Maastrichter Verträge zu halten und eine weitere Ausweitung der Staatsverschuldung (und damit des Finanzierungsbedarfs) zu beschränken. Die Instrumente hierzu waren die als Sixpack bekannten Reformen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. De facto hat diese Reform zu einem haushaltspolitischen Souveränitätsverlust der Staaten der Eurozone geführt und der EU-Kommission erhebliche Möglichkeiten zur Überwachung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Eurozonen-Länder gegeben.
Eine dritte Ebene der Vertiefung stellt die Schaffung der sogenannten Bankenunion dar. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Schaffung eines gemeinsamen Regelwerks, eines einheitlichen Aufsichtssystems für Banken, Wertpapiergeschäfte und das Versicherungswesen. Dieses beinhaltet eine elementare gemeinsame Einlagensicherung und eine Regulierung der Abwicklung von Finanzinstitutionen, die unter dem Schlagwort bail in sicherstellen soll, dass Banken nicht einseitig auf Kosten der Steuerzahler saniert oder abgewickelt werden. Der ESM sieht zudem die Möglichkeit vor, bis zu 60 Milliarden Euro für die Rekapitalisierung von Banken zu nutzen.
Insgesamt hat die Vertiefung der EU mit diesen Maßnahmen einen enormen Schritt gemacht. Die Risikoteilung innerhalb der EU ist heute weit höher als vor der Finanzkrise, ebenso aber auch die Kontroll- und Überwachungsrechte der Kommission. Dank dieser Initiativen ist es gelungen, ein Auseinanderbrechen des Euroraumes zu verhindern und den Finanzsektor in Europa wenn nicht zu sanieren, so aber doch zu stabilisieren und besser zu überwachen. Eines der politischen Paradoxa ist, dass diese Vertiefungsschritte in der Wahrnehmung vieler Menschen nicht zu einer gestiegenen Wertschätzung der EU geführt haben. In Griechenland und einigen anderen Ländern wurden die mit den Unterstützungsleistungen verbundenen fiskalpolitischen Auflagen als Brüsseler (beziehungsweise Berliner) Austeritäts- und Verelendungsdiktat empfunden. In den „Geberländern“ dagegen wurde diese Vertiefung als Bruch der implizit oder explizit gemachten Versprechen wahrgenommen, dass die EU nicht zu einer fiskalischen Risikovergemeinschaftung führen werde. Viele Bürger der „Geberstaaten“ sehen nicht ein, warum sie für die Staatsschulden und die Spekulationsrisiken anderer Länder garantieren sollen. Die kurz- und mittelfristigen Folgen für die politische Akzeptanz der EU waren und sind vermutlich in der Summe eher negativ; der objektive Gewinn an Stabilität und Krisenresilienz Europas dagegen ist enorm.
Neue Krisendimensionen
Die vergangenen zehn Jahre waren aber nicht nur von den Wirtschafts- und Finanzkrisen gekennzeichnet. Seit 2015 ist eine neue Krisendimension hinzugekommen, die eine zentrale Errungenschaft der EU infrage gestellt hat: Die Schaffung eines Raumes uneingeschränkter Mobilität im Schengen-Raum. Die Abschaffung von Grenzkontrollen innerhalb dieses Raumes nach 1995 wurde als ein wesentlicher Schritt der europäischen Integration begriffen. Diese Errungenschaft wurde durch zwei Entwicklungen in den vergangenen Jahren wieder infrage gestellt: die Ausbreitung eines transnational agierenden islamistischen Terrorismus in Europa und die massive Immigrationswelle nach dem Sommer 2015 (zunächst über die sogenannte Balkanroute, dann über das Mittelmeer). Infolge dieser Entwicklungen haben verschiedene Länder wieder Grenzkontrollen eingeführt. Die Flüchtlingskrise von 2015 – wesentlich verschärft durch die unilaterale Entscheidung Deutschlands, im Spätsommer 2015 für Flüchtlinge, die sich ohne Aussicht auf Weiterreise unter schwierigen humanitären Bedingungen in Budapest aufhielten, die Grenzen zu öffnen – beschleunigte die Suspendierung des Schengener Abkommens. Die danach von der EU auf Betreiben Berlins beschlossene Umverteilungsregelung wurde von verschiedenen Staaten Ostmitteleuropas abgelehnt. Dies hat zu erheblichen politischen Spannungen zwischen diesen Staaten und den Brüsseler Institutionen sowie den Ländern Westeuropas geführt. Dabei wird allerdings übersehen, dass auch Staaten wie Frankreich, Spanien oder Großbritannien damals keineswegs willens waren, die deutsche Praxis einer monatelang weitgehend unkontrollierten Immigration erheblichen Umfangs mitzumachen. Erst die Schließung der sogenannten Balkanroute durch Ungarn und südosteuropäische Länder sowie das von Deutschland mitverhandelte und -finanzierte Abkommen mit der Türkei sorgten dafür, dass dieses Thema (außerhalb Italiens) etwas an Brisanz verlor. Im Ergebnis aber ist eine t
efe Spaltung der EU zwischen den westlichen Ländern und den Visegrád-Staaten geblieben, die das migrationspolitische Denken der westlichen Gesellschaften nicht nachvollziehen wollen oder können.8 Die Popularität der EU in diesen Ländern hat unter dem Eindruck dieser Entwicklungen erheblich gelitten und einen nationalistischen Anti-Brüssel-Populismus gestärkt.
Die Bilanz der Krise
Zieht man eine Bilanz der zehn Krisenjahre in Europa, so sind vier Trends zu erkennen, die wohl längerfristige Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung der Europäischen Integration haben werden.
- Die gewachsene Euroskepsis in der Bevölkerung: Betrachtet man Meinungsumfragen, so ist deutlich erkennbar, dass die Zustimmung zur europäischen Integration in den Jahren der Krise gesunken ist. Dies gilt für fast alle Länder Europas. Eine 2015 von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführte Umfrage in acht europäischen Ländern zeigt, dass in einer Mehrheit der Staaten die EU eher als ein „Problemfaktor“ denn als eine Lösung für die Probleme der Menschen angesehen wurde.9 Diese Stimmung drückte sich politisch nicht nur in einem Erstarken euroskeptischer „populistischer“ Parteien in Europa aus, zuletzt bei den Wahlen in Deutschland, Österreich und Tschechien. Vermutlich leistete sie auch einen Beitrag dazu, dass eine knappe Mehrheit der Briten 2016 für den Brexit stimmte. Natürlich ist diese Stimmung nicht in Stein gemeißelt. Eine zweite Umfrage der FES im Jahr 2017 ergab im Schatten der Ukraine-Krise, des Brexits und der Wahl Donald Trumps wieder eine deutlich höhere Zustimmung zur europäischen Integration.10 In einer chaotischen Welt wird die EU von vielen Menschen wieder als eine Art Schutzraum wahrgenommen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die wirtschaftliche Krise vor allem im Euroraum, aber auch die Folgen wachsender Interdependenz – mit ihrer Schwächung nationalstaatlicher Souveränität und Demokratie – negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung Europas in Teilen der Bevölkerung gehabt haben.
- Die Stärkung der Stellung und Rolle Deutschlands in der EU: Deutschland ist in den Jahren der Krise immer mehr zum zentralen Akteur der europäischen Politik geworden. Die Entscheidung, die Krisenländer der Eurozone zu stabilisieren und Griechenland im Euroraum zu halten, wurde letztendlich nicht in Brüssel gefällt, sondern in Berlin. Aber auch außenpolitisch kommt Deutschland aufgrund der Krise Frankreichs, der wirtschaftlichen Probleme Italiens und Spaniens und dem EU-Ausstieg Großbritanniens ein sehr viel größeres Gewicht zu. Die inneren Gleichgewichte der EU haben sich erheblich verschoben: Nach zehn Jahren Krise ist die EU deutlich germanozentrischer als zuvor. Es ist hierbei relativ unwichtig, ob Deutschland heute tatsächlich ein heimlicher „Hegemon“ des Kontinents ist – oder doch bloß, wie es Hans Kundnani formulierte, ein „Halbhegemon“.11 Unbestritten ist, dass Deutschland in den Jahren der Krise eine neue Zentralität in der europäischen Politik gewonnen hat. Diese Entwicklung stellt einen der zentralen Grundgedanken der europäischen Integration zunehmend auf den Kopf: Die EU war historisch nicht zuletzt als Instrument gedacht gewesen, Deutschland in ein europäisches System von checks and balances einzubinden. Ziel war es, Deutschlands wirtschaftliche und demografische Größe politisch zu kompensieren und sein militärisches Potenzial machtpolitisch zu neutralisieren. Dies ist, zum Wohl aller Europäer, vor allem aber auch dem der Deutschen, erfolgreich gelungen. Seit Beginn der Finanzkrise schlägt das Macht- und Einfluss-Pendel jedoch deutlich zugunsten des ökonomisch stabilen Deutschlands aus. Nicht zuletzt profitiert es dabei vom Euro, der dem ohnehin wirtschaftlich stärksten Land Europas erlaubt, im Handel mit dem Rest der Welt (und seinen europäischen Partnern) mit einer massiv unterbewerteten Währung zu operieren.12
- Neue Spannungen innerhalb Europas entlang einer Nord-Süd- und einer Ost-West-Achse: Die Krisenjahre haben zunächst zum Entstehen einer Nord-Süd-Konfliktlinie innerhalb der EU geführt. Diese artikulierte sich im Streit um die Austeritätspolitik – den „Sado-Monetarismus“ Wolfgang Schäubles – und die Maastricht-Kriterien, unterschwellig aber auch an der Kritik am deutschen Exportüberschuss innerhalb der EU. Diese Spannungen wurden in der öffentlichen Meinung sicherlich deutlicher artikuliert als von den politischen Akteuren selbst. Aber das Vorhandensein dieser Konflikte lässt sich auch aus den Äußerungen zahlreicher Spitzenpolitiker der Eurostaaten des Mittelmeerraumes ablesen. Erinnert sei hier nur an die Mahnung Matteo Renzis, die EU müsse allen EU-Staaten nützen, nicht nur einem.13
Wichtig ist hier aber vor allem die Wahrnehmung durch die öffentliche Meinung: Letztendlich wird die europäische Integration nicht völlig entkoppelt von den Befindlichkeiten der Mehrheit der Bevölkerung weiter gestaltet werden können. Wenn sich im Norden die Befindlichkeit verbreitet, man müsse für den Süden zahlen, während im Süden der Eindruck entsteht, die wirtschaftliche und soziale Krise werde durch ein fiskalpolitisches Austeritätsdiktat aus dem Norden verstärkt, wird dies nicht ohne Auswirkungen auf die europäische Integration bleiben.
Seit der sogenannten Flüchtlingskrise ist zu dieser Nord-Süd-Spannungslinie eine sehr klare West-Ost-Spannungslinie hinzugekommen. Auch hier waren die Grundanlagen bereits vorher vorhanden, nicht zuletzt nach den Wahlerfolgen souveränistischer Parteien in verschiedenen ostmitteleuropäischen Ländern. Der Versuch der EU, diesen Ländern Kontingente von Flüchtlingen aus dem globalen Süden aufzuzwingen, hat diese Spannungen aber enorm verstärkt. Hier geht es nicht mehr nur um Fragen wirtschaftlicher und institutionell-politischer Natur, sondern darum, was von den Menschen als sehr viel tiefer gehende Veränderungsprozesse ihrer Lebenswelt empfunden wird. Im Moment wird diese West-Ost-Spannung allerdings durch einen gegenläufigen Trend einigermaßen kompensiert: Das Erstarken eines revanchistischen Denkens im Russland Wladimir Putins und die Krise um die Ukraine haben den Wert der EU- und der Nato-Mitgliedschaft für die Länder im Osten der EU drastisch erhöht. Dies ändert aber nichts daran, dass die Krisen der vergangenen Jahre ein zusätzliches, sehr problematisches Spannungselement in einen ohnehin unter Stress stehenden europäischen Integrationsprozess gebracht haben. - Die enorm gewachsene Interdependenz der Staaten vor allem der Eurozone: Die Rettungsaktionen, die Bankenunion und die Politik des Quantitative Easing haben eine wechselseitige Abhängigkeit geschaffen, in der jegliche Krise in einem EU-Land nicht ohne gravierende Auswirkungen auf den Rest der Union bleiben wird. Dies ist natürlich das explizite Ziel dieser Initiativen: Nach dem auch in Brüssel gerne zitierten Motto „you can't unscramble scrambled eggs“ geht es auch darum, eine möglichst tiefe Interdependenz zu schaffen, die jeglichen Re-Nationalisierungsversuchen hohe objektive Hindernisse entgegensetzt. Damit ist aber auch das Risiko, dass Krisen einzelner Nationalökonomien kontaminierende Effekte für den Rest des Kontinents haben werden, erheblich gestiegen. Ob jeder europäische Bürger diese Entwicklung tatsächlich für eine gute Idee hält, wird sich erst zeigen, wenn es zu einer solchen Krise wirklich kommt. Aber für den Moment besteht eine seltsame, spannungsgeladene Balance zwischen einer objektiv sehr tief gehenden Vergemeinschaftung in den vergangenen Jahren und einer gewachsenen Sorge, dass dieses System krisenanfällig und kostenträchtig sein könnte. Dieses Spannungsverhältnis klug zu managen, wird die Aufgabe der europäischen Politik in den kommenden Jahren sein.
Anmerkungen:
1 BIP pro Kopf in Euro: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tec00001&plugin=0&tableSelection=1.
2 Siehe hierzu vor allem Joseph Stiglitz: The Euro, London 2016.
3 Zahlen für 2016; vgl. FAZ vom 24.10.2017, S. 17.
4 ETUI: What drives wages gaps in Europe? https://www.etui.org/Publications2/Working-Papers/What-drives-wage-gaps-in-Europe, S. 15 ff.
5 http://tempsreel.nouvelobs.com/monde/20170823.OBS3707/en-europe-de-l-est-la-visite-d-emmanuel-macron-passe-plutot-inapercue.html.
6 Michael Dauderstädt: Konvergenz in der Krise, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, September 2014, library.fes.de/pdf-files/id/ipa/10941.pdf.
7 http://wko.at/statistik/eu/europa-arbeitslosenquoten.pdf.
8 Siehe zum Beispiel das Gespräch mit Ivan Krastev und Oliver-Jens Schmidt in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/iwan-krastew-und-oliver-jens-schmitt-zu-osteuropa-14250809.html
9 The European Union Facing Massive Challenges – What are Citizens' Expectations and. Concerns? A representative 8-country-survey, Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin, 2015, library.fes.de/pdf-files/id/ipa/12346.pdf.
10 Was hält Europa zusammen? Die EU nach dem Brexit, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2017, library.fes.de/pdf-files/id/ipa/13505.pdf.
11 Hans Kundnani: The Paradox of German Power, London 2014.
12 Für den globalen Handel siehe International Monetary Fund, External Sector Report 2017, S. 20, https://www.imf.org/en/Publications/Policy-Papers/Issues/2017/07/27/2017-external-sector-report. Für die deutliche Unterbewertung des „deutschen“ Euro im innereuropäischen Handel siehe: Sur- et sous-évaluations de change en zone euro: vers une correction soutenable des déséquiibres? La Lettre du CEPII, Nr. 375-März 2017. Siehe auch Wolfgang Streeck, Lea Elsässer, Monetary Disunion – The Domestic Politics of Euroland, MPIfG Discussion Paper 14/17, Köln 2014.
13 Interview mit Matteo Renzi in der Financial Times, 21.12.2015, https://www.ft.com/content/08ba78f8-a805-11e5-955c-1e1d6de94879.
Erstveröffentlichung:
Ernst Hillebrand:
Zehn Jahre EU-Stresstest. Mehr Integration und neue Spannungen, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung (politik für europa), Dezember 2017.
Demokratie und Frieden
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Die Eurokrise sei die Folge der strukturellen Divergenz zwischen den exportorientierten Hartwährungsländern im „Norden“ und den von der Binnennachfrage abhängigen Weichwährungsländern im „Süden“, schreibt Fritz W. Scharpf. Das nach der Krise eingeführte neue Euro-Regime benachteilige die Süd-Länder und fordere von ihnen Opfer, während es die Nord-Länder privilegiere. Einen Ausweg sieht der Autor in einem flexiblen, zweistufigen europäischen Währungsverbund, der die politische Zukunft der EU sicherer machen würde als sie es heute ist.
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