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Christa Zuberbühler / Christine Weiss: Nachhaltigkeit ist nicht gleich Gerechtigkeit. Plädoyer für einen präzisen Nachhaltigkeitsbegriff

02.05.2018
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Autorenprofil
Dipl.-Journ. Wolfgang Denzler, B.A., M. Sc.
München, Oekom 2017

Nachhaltigkeit ungleich Gerechtigkeit – Christa Zuberbühler und Christine Weiss treten sehr meinungsstark auf, das lässt bereits der prononcierte Titel ihres Buches vermuten. Der Begriff Nachhaltigkeit ist für sie zum „inhaltsleeren Modewort verkommen“ (9), der von „Rattenfängern“ (10) missbraucht werde. Mit dieser Klage stehen sie nicht allein da, auch andere kritisierten schon die tatsächlich oft fast bis zur Beliebigkeit überdehnte Anschlussfähigkeit des Nachhaltigkeitsdiskurses. Doch die beiden Autorinnen gehen noch einen Schritt weiter: Sie hinterfragen auch die allgemein als selbstverständlich empfundene enge Verbindung zwischen den Begriffen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Der Aspekt der (Generationen-)Gerechtigkeit gehört spätestens seit der Veröffentlichung des Brundtland-Berichts 1987, der die wohl meistzitierte Definition von Nachhaltigkeit beziehungsweise Nachhaltiger Entwicklung enthält, zur Grundkonzeption dieser Thematik. Man darf also gespannt sein, wie die titelgebende These untermauert wird. Drei Fragen wollen die Autorinnen in drei Buchteilen beantworten:

1. Warum bedarf es einer präzisen Begriffsdefinition für Nachhaltigkeit?
2. Warum eignet sich gemäß den Autorinnen „Gerechtigkeit nicht als Definitionselement“ für Nachhaltigkeit?
3. Und „wo bleibt dann die Gerechtigkeit im Nachhaltigkeitsdiskurs?“ (10)


Zuberbühler, Professorin für Economy, Sustainable Development und Mediation am EMCA Campus Leobersdorf in Österreich, steuert die beiden kürzeren Abschnitte A und C bei, in denen die Fragen eins und drei geklärt werden sollen. Der Hauptteil B basiert auf einer von Zuberbühler betreuten und von Weiss verfassten Dissertation. Weiss arbeitet als freiberufliche Unternehmensberaterin und wissenschaftliche Assistentin. Sie studierte Betriebswirtschaft und Kulturmanagement und promovierte im Rahmen eines Doktoratsprogramms der mexikanischen Universidad Azteca und der nicaraguanischen Universidad Central de Nicaragua in deutscher Sprache am EMCA Campus.

Warnung vor babylonischer Sprachverwirrung

„Präzision in der Sprache, im Umgang mit Begriffen weicht der Kürze, Unverbindlichkeit und Umdeutung von Worten und Ausdrücken in den elektronischen Medien.“ (22) Im ersten Abschnitt beschreibt und kritisiert Zuberbühler eine zunehmende Verwahrlosung der Sprache. Sie sieht eine historische Entwicklung, beginnend mit der Aufklärung über Paul Feyerabends „,Anything Goes‘“ (19) bis hin zu Gegenwart, in der Plattformen wie Facebook das Soziale in der Kommunikation zerstörten: „Höflichkeit war gestern“ (22) und für eine genauere Auseinandersetzung mit Inhalten „reicht die Aufmerksamkeitsspanne“ (22) nicht mehr. So stellt die Autorin ihre kulturpessimistisch wirkende Sicht auf das „postmoderne, beschleunigte Leben“ (23) dar. Wenn Sprache beliebig verwendet werde, drohe „Babylonische[.] Sprachverwirrung“ (27). Noch folgenreicher sei diese Entwicklung in der Wissenschaft: Hier gingen Erkenntnisse in einer Flut „abweichender Terminologie“ (31) unter, besonders wenn Wissenschaftler*innen sich aus Distinktionsgründen oft „krampfhaft“ (31) um neue originelle Begrifflichkeiten bemühten. Auch im sensiblen Feld der Politik fordert Zuberbühler „Explizitheit im Umgang mit Begriffen“ (32) und schließt damit das Kapitel, in dem sie erklärt, warum klare Begriffe gerade in einer komplexen Welt von hoher Bedeutung seien. Ein Bezug dieser Thesen zum Begriff der Nachhaltigkeit erfolgt in diesem Abschnitt allerdings noch nicht.

Plädoyer für einen präzisen Nachhaltigkeitsbegriff

Christine Weiss führt in den Hauptteil des Buches und damit in das Thema ihrer Doktorarbeit ein, indem sie grundsätzliche Problematiken beschreibt, die sie bei der Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs sieht. Nachhaltigkeit benötige heutzutage einen Nutzen, der über den Eigenwert der Natur hinausgehe, da, so meint die Autorin, „viele Menschen, besonders in den Industrieländern, schon zu weit von einem echten Naturverständnis entfernt sind.“ (36) Des Weiteren nimmt sie an, dass Nachhaltigkeit aufgrund der Verknüpfung von ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten „als globale Aufgabenstellung angesehen werden“ müsse und somit der Bezug von Nachhaltigkeit auf Gerechtigkeit „ein global geteiltes Gerechtigkeitsverständnis“ (37) voraussetze. Hier beginnt für sie die Problemstellung: Beim Gedanken an einen nötigen globalen Konsens über Gerechtigkeit müsse einen ein „Unbehagen“ (37) befallen. Ihre Skepsis begründet sie mit einem an dieser Stelle etwas irritierenden Beispiel: „Selbst die schlimmsten Ungerechtigkeitserfahrungen befähigen Menschen nicht dazu, ein tieferes Verständnis für Gerechtigkeit zu entwickeln, wie sich an dem Verhalten Israels gegenüber seinen Mitbürgern palästinensischer Herkunft zeigt.“ (37 f.) Warum Weiss gerade ein israelkritisches, in der antisemitischen Argumentation gängiges Beispiel wählt, das mindestens unzulässig pauschalisiert und überhaupt aus dem thematischen Kontext fällt, bleibt unklar.

Nachhaltigkeit entwirren

Weiss will mit ihrer Arbeit zeigen, dass die Verwirrung um den Inhalt des Begriffs Nachhaltigkeit „darin liegt, dass hier verschiedene Fragestellungen vermischt und in einem Begriff verbunden werden“ (41). Nachhaltigkeit solle besser nur noch als Funktionsbeschreibung verstanden werden, entwirrt von „emotionalen Aufladungen“ (41) wie eben der „Gerechtigkeitsfrage“ (42). Denn, so argumentiert die Autorin, der Raubbau an den natürlichen Grundlagen allen Lebens oder der klimaschädliche CO2-Ausstoss müssten gestoppt werden, ob mit oder ohne Gerechtigkeit. In einem theoretischen Teil legt Weiss dar, dass Gerechtigkeit als Definitionselement von Nachhaltigkeit ungeeignet sei, da „die Eigenlogik der beiden Systeme zu unterschiedlich ist, um sie aufeinander zu beziehen“ (43). Diese Annahme will sie auch empirisch prüfen und setzt dafür zum einen auf eine Literaturanalyse unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen. Außerdem untersucht sie Nachhaltigkeitsdefinitionen daraufhin, welchen Stellenwert der Begriff Gerechtigkeit in ihnen einnimmt. Die Autorin führte zwölf explorative Interviews durch, um die Bandbreite möglicher Themenzugänge zu erkunden. Darauf aufbauend nahm sie 2014 eine quantitative Onlineumfrage vor, mit der sie ihre Teilhypothesen testet, indem sie das Alltagsverständnis von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit untersucht. Ihre Ergebnisse basieren auf den Antworten von 205 Personen. Ihre Unterhypothese „Das Nachhaltigkeitsverständnis basiert nicht vorrangig auf Gerechtigkeitsaspekten“ (166) sieht sie als bestätigt an, da soziale Gerechtigkeit „nur von 53 % als sehr bedeutend für das Nachhaltigkeitsverständnis bezeichnet“ wird und andere Aspekte häufiger genannt wurden. Eine weitere Frage bezieht sich auf die jeweils eigene Motivation für nachhaltiges Verhalten. In ihrer zugehörigen Unterhypothese geht die Autorin davon aus, dass der „Schutz der natürlichen Umwelt“ (167) wichtiger ist als Gerechtigkeit. Auch hier sieht sie sich bestätigt, weil 85 Prozent der Befragten ökologische Motive nennen und 64 Prozent Gerechtigkeitsmotive (167).

Nachhaltigkeit als kompromissloses Konzept

Die Autorin fühlt sich durch den „hier geführte[n] Nachweis, dass sich Gerechtigkeit nicht als Definitionselement für Nachhaltigkeit eignet“ (173), in ihren Grundannahmen bestärkt und fordert resümierend nochmals vehement mehr Genauigkeit in Sprache, Denken und Verständnis, um der „Nachhaltigkeit als kompromisslose[n] Konzept“ (174) gerecht zu werden. Da Nachhaltigkeit klar definierbare Eigenschaften besitze, plädiert Weiss dafür, es zu vermeiden, sprachliche „Konstrukte wie ,schwache‘ oder ,starke Nachhaltigkeit‘ zu schaffen“ (173). Anzumerken wäre hier, dass gerade diese Abstufung, für die es detailliert ausformulierte Konzepte gibt (siehe etwa das Greifswalder Modell starker Nachhaltigkeit von Konrad Ott und Ralf Döring), eine differenzierte Betrachtung erst ermöglicht. Denn nur dadurch lassen sich problematische Nachhaltigkeitsverständnisse bestimmter Ökonomen, „die verbissen an einer Wachstumsökonomie festhalten“ (173) und dabei ökologische Grenzen ignorieren, auf begründete Weise als ‚zu schwach‘ kritisieren und ablehnen. Ein rein technokratisches Verständnis von Nachhaltigkeit würde den Begriff dem Bereich des Politischen entziehen.

 

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Rezension

Kommende Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive

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Aus der Annotierten Bibliografie

Reinhard Loske

Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016 (Forum für Verantwortung); 302 S.; 12,99 €; ISBN 978-3-596-03221-1
Reinhard Loske, Professor für Politik, Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke sowie ehemaliges Bundestagsmitglied von Bündnis 90/Die Grünen, skizziert in seinem Werk die Konturen einer Nachhaltigkeitswende hin zu einer zukunftsfähigen Transformation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Mit diesem Buch wird zugleich die neue Reihe „Forum für Verantwortung“ eröffnet, die Fragen nach den Chancen und Möglichkeiten konkreter nachhaltiger Utopien ...weiterlesen

 

Hartmut Marhold / Michael Meimeth (Hrsg.)

Sustainable Development in Europe: A Comparative discourse analysis

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2009 (Denkart Europa 10); 232 S.; brosch., 32, €; ISBN 978-3-8329-4997-6
Die Autoren untersuchen die Frage, ob es in Europa ein gemeinsames Verständnis nachhaltiger Entwicklung gibt und inwieweit Nachhaltigkeit ein, wenn nicht das integrierende und umfassende politische Projekt der kommenden Jahre werden kann. Zu diesem Zweck werden die politischen Strukturen und zentralen Akteure im Diskurs der Nachhaltigkeit in Deutschland, Frankreich, Italien, Ungarn, Polen, Norwegen und Schweden sowie in der EU selbst analysiert. Marhold untersucht den deutschen Fall. In der Bund...weiterlesen


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