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Eckpunkte eines menschenrechtsbasierten globalen Green New Deal. Antwort auf Finanzkrisen und Austeritätspolitik

09.04.2020
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Jens Martens, Dipl. Volkswirt

Foto: Intothewoods7 / Wikimedia Commons (Lizenz) CC BY SA 40Jugendklimastreik, San Franzisco, 15. März 2019. Foto: Intothewoods7 / Wikimedia Commons (Lizenz CC BY SA 40)

 

In vielen Ländern des Globalen Südens hat sich die finanzielle Lage in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert. Bereits heute besteht nach Angaben des Internationalen Währungsfonds für 33 der ärmeren Länder ein hohes Risiko der Überschuldung oder sie sind bereits zahlungsunfähig.

Aber auch reichere Länder sind von neuen Finanzkrisen bedroht. Hier ist es insbesondere der Privatsektor, von dem die Risiken ausgehen. Private Unternehmen haben billiges Geld und niedrige Zinsen genutzt, um sich massiv zu verschulden.

Die Gefahr ist groß, dass sich die Lage in den kommenden zwei Jahren weiter zuspitzt. In einer alarmierenden Zahl von 130 Ländern sind als Folge davon Kürzungen der Staatsausgaben oder andere Sparmaßnahmen zu erwarten. Der Handlungsspielraum vieler Regierungen wird dadurch erheblich eingeschränkt – und somit auch ihre Möglichkeit, die Agenda 2030 und ihre globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) zu verwirklichen. Denn dies erfordert massive öffentliche Investitionen in Bereichen wie Gesundheit und Bildung, soziale Sicherung, Infrastruktur und Klimaschutz.

Durch den Teufelskreis von Verschuldung und Austeritätspolitik drohen viele Länder, sich von den SDGs eher zu entfernen als sie bis 2030 zu verwirklichen.

Aber es gibt Alternativen: Die Herausforderung besteht darin, Konzepte einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftspolitik mit Lösungsansätzen zur SDG-kompatiblen Prävention und Bewältigung von Finanzkrisen und dem Primat der Menschenrechte zu verbinden. Ziel muss ein menschenrechtsbasierter globaler Green New Deal sein.

1. Auslandsverschuldung auf Rekordniveau

Die Schulden des öffentlichen und privaten (nichtfinanziellen) Sektors haben 2018 weltweit einen historischen Höchststand von 188 Billionen US-Dollar erreicht. Das waren 230 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts.1 Zwei Jahre zuvor waren es noch 164 Billionen US-Dollar. Zählt man die Schulden des globalen Finanzsektors hinzu, kommt man auf eine Summe von fast 250 Billionen US-Dollar.
Besonders kritisch ist die Auslandsverschuldung der Länder des Globalen Südens. Auch sie ist auf ein neues Rekordniveau gestiegen. Öffentliche und private Schulden der Entwicklungs- und Schwellenländer summierten sich im Jahr 2018 auf 8,8 Billionen US-Dollar. Sie sind damit heute fast doppelt so hoch wie auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise 2009 (4,5 Billionen US-Dollar) und mehr als viermal so hoch wie im Jahr 2000 (siehe Grafik).

 

Grafik Martens Green New Deal

 

An Zins- und Tilgungszahlungen flossen 2018 aus diesen Ländern 1.064 Milliarden US-Dollar an die ausländischen Gläubiger – und damit rund siebenmal so viel wie die OECD-Länder in diesem Jahr an öffentlicher Entwicklungsfinanzierung (ODA) zur Verfügung stellten (153 Milliarden US-Dollar).

Nach Angaben des IWF ist die Zahl der ärmeren Länder des Globalen Südens, die entweder bereits überschuldet sind oder für die ein hohes Risiko der Überschuldung besteht, in den vergangenen vier Jahren von 18 auf 33 gestiegen.

Ein besonderes Problem sehen Finanzexpert*innen in der rasant wachsenden Verschuldung privater Akteure, insbesondere privater Unternehmen. Die privaten Schulden machen heute mehr als zwei Drittel des globalen Schuldenstands aus.

Der konjunkturelle Aufschwung nach der globalen Finanzkrise von 2008/2009 sowie die offensive Niedrigzinspolitik der Zentralbanken in Europa und den USA haben in den vergangenen Jahren einen regelrechten Ansturm auf rentable Anlagemöglichkeiten in den Entwicklungs- und Schwellenländern ausgelöst. Dadurch kam es zu einem drastischen Anstieg privater Kreditflüsse und substanzieller Veränderungen in der Gläubigerstruktur vieler dieser Länder. Waren die wichtigsten Geldgeber in der Vergangenheit meist ausländische Regierungen, internationale Entwicklungsbanken und der heimische Bankensektor, zählen heute oft private Investoren aus dem In- und Ausland zu den größten Gläubigern. Sie haben in der Regel eine kurzfristigere Anlageperspektive und höhere Renditeerwartungen als etwa die nationalen und internationalen Entwicklungsbanken.

Eine besondere Rolle spielen unter den privaten Gläubigern die international agierenden Pensions- und Investmentfonds sowie die großen transnationalen Vermögensverwalter, allen voran der US-amerikanische Finanzkonzern BlackRock. Sie bilden den Nichtbanken- oder auch Schattenbankensektor, der weit weniger reguliert ist als der formale Bankensektor.

Wachsende Risiken sehen Finanzexpert*innen auch in der gestiegenen Bedeutung Chinas für die globale Finanzmarktstabilität. Auf der einen Seite hat sich das Land seit der letzten globalen Finanzkrise für viele Länder zum größten Kreditgeber und Anleihegläubiger entwickelt, auf der anderen Seite ist aber auch Chinas eigene Verschuldung im In- und Ausland inzwischen dramatisch angestiegen.

Die globalen Herausforderungen und Unsicherheiten müssen nicht zum „größten Crash aller Zeiten“ führen, wie es manche Autor*innen für die kommenden Jahre prophezeien. Unbestritten ist jedoch, dass sich die sozio-ökonomische Situation in vielen Ländern bereits jetzt spürbar verschlechtert hat. Die weltweiten gesellschaftlichen Proteste von Chile bis zum Libanon sind ein Spiegelbild der zugespitzten Lage. Viele Entwicklungsziele, die sich die Regierungen in der Agenda 2030 mit den SDGs gesetzt haben, rücken vor diesem Hintergrund in weite Ferne.

Es wird entscheidend darauf ankommen, wie die Politik nun auf die globalen Herausforderungen reagiert, damit die SDGs nicht einer neuen globalen Finanzkrise zum Opfer fallen. Die bisherigen Reaktionen der Regierungen und das Krisenmanagement internationaler Finanzinstitutionen, insbesondere des IWF, haben die gegenwärtigen Krisentendenzen aber eher verschärft.

2. Die Renaissance weltweiter Austeritätspolitik

Nach dem Höhepunkt der letzten globalen Finanzkrise im Herbst 2008 schwenkten viele Regierungen rasch auf einen Kurs ein, der auf eine Mischung aus expansiver Geldpolitik und restriktiver Fiskalpolitik setzte. In vielen Ländern sank unter dem Motto der fiskalischen Konsolidierung der Anteil der Staatsausgaben am BIP, in einigen Ländern, wie Ägypten, Kamerun, Angola und der Mongolei, sanken die Staatsausgaben auch in absoluten Zahlen.

Die Palette austeritätspolitischer Anpassungsmaßnahmen ist in den vergangenen Jahren immer breiter geworden. Zugleich hat mit der weltweiten Verschuldungswelle auch die Zahl der Länder zugenommen, die solche Maßnahmen umsetzen müssen.

Die am weitesten verbreitete Strukturanpassungsmaßnahme betrifft die Reform der Renten- und Sozialsysteme. In mindestens 86 Ländern gab es Bemühungen, die öffentlichen Sozialausgaben in diesem Bereich zu kürzen oder zumindest zu begrenzen, so etwa in Griechenland. In vielen Ländern war eine (Teil-)Privatisierung der Rentenversicherungen zu beobachten. Häufig führte dies jedoch zu einem eklatanten Missverhältnis zwischen verschlechterten Rentenleistungen und gestiegenen Transaktions- und Verwaltungskosten.

In vielen Ländern kam es zu einer Reduzierung beziehungsweise Begrenzung der Personalkosten im öffentlichen Dienst, sei es durch Kürzung der Gehälter, Entlassungen oder Einstellungsstopps, beispielsweise in Gabun – mit besonders gravierenden Auswirkungen auf die Bereiche Gesundheit und Bildung.

Einen wesentlichen Bestandteil nahezu jedes Sparprogramms bilden die Kürzungen oder Streichungen von Subventionen. Auf regressive Verteilungseffekte und negative soziale Folgen wurde dabei bisher meist wenig Rücksicht genommen. In der Konsequenz sind gerade arme Haushalte vom Subventionsabbau besonders stark betroffen. Ein offensichtliches Beispiel ist die Streichung von Subventionen für Grundnahrungsmittel. Aus ökologischer Sicht ist der Abbau von Subventionen dann dringend geboten, wenn sie umweltschädliches Verhalten fördern. Das betrifft zum Beispiel die Subventionierung fossiler Brennstoffe. Aber auch hier führen die damit verbundenen Preissteigerungen zu einer überproportionalen Belastung der ärmeren Bevölkerungsschichten, wenn keine ausreichende Kompensation stattfindet. In Ländern wie Ecuador, Haiti und dem Iran hat dies 2019 zu massiven Protesten geführt.

Spiegelbildlich zur Senkung der Subventionen sehen viele Regierungen die Erhöhung von Verbrauchssteuern als probates Mittel der Haushaltskonsolidierung. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erhöhung von Umsatz- oder Mehrwertsteuern. Sie ist aber besonders unter sozialen Gesichtspunkten problematisch, weil diese Steuern in der Regel regressiv wirken, das heißt die Armen überproportional belasten. Dennoch haben auf Rat des IWF Länder wie Kolumbien, Costa Rica oder Sri Lanka die Mehrwertsteuer signifikant erhöht.

Austeritätspolitik beschränkt sich nicht auf Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Eine zusätzliche Komponente in den meisten Reformprogrammen und Strukturanpassungsmaßnahmen ist die Privatisierung von Staatsvermögen und öffentlichen Dienstleistungen sowie die Finanzierung staatlicher Aufgaben im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften (PPPs). In den Ländern des Globalen Südens zählt die Weltbank allein im Infrastrukturbereich zwischen 1990 und Mitte 2019 7.981 Projekte mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 1,9 Billionen US-Dollar. Häufig sind mit der Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen aber erhebliche Risiken und Nebenwirkungen verbunden, wie zum Beispiel steigende Preise für privatisierte Dienstleistungen bei zum Teil sinkender Qualität, negative Auswirkungen für Arbeitsplätze und Löhne, höhere Marketing- und Verwaltungskosten sowie langfristige Einnahmeausfälle für die öffentlichen Kassen

3. Die Alternative: Eckpunkte eines menschenrechtsbasierten globalen Green New Deals

In seinem jährlichen Bericht über Schuldentragfähigkeit und Entwicklung konstatierte der UN-Generalsekretär 2019, dass sich die Auslandsverschuldung vieler Entwicklungsländer weiter verschlechtert habe. Das weltwirtschaftliche Umfeld sei geprägt von den Sorgen über die Auswirkungen der Niedrigzinspolitik auf die Finanzstabilität, über die schwache Gesamtnachfrage, die wachsenden Ungleichheiten und die Unsicherheiten, die sich aus eskalierenden Handelskonflikten und instabilen Ölmärkten ergeben. Die Lage habe noch nicht den Punkt erreicht, um von einer erneuten globalen Finanzkrise zu sprechen, aber die internationale Gemeinschaft müsse bedenken, dass in den kommenden Jahren in den Entwicklungsländern ein Berg von Schulden fällig werde, und es bislang keine klar koordinierten politischen Pläne gebe, um darauf zu reagieren.

Die Herausforderung besteht nun darin, Konzepte einer umwelt- und klimagerechten Wirtschaftspolitik mit Lösungsansätzen zur SDG-kompatiblen Prävention und Bewältigung von Finanzkrisen und dem Primat der Menschenrechte zu verbinden. Ziel muss ein menschenrechtsbasierter globaler Green New Deal sein. Dazu muss das Rad nicht neu erfunden werden. Ein entsprechender Maßnahmenkatalog besteht überwiegend aus konventionellen Politikinstrumenten, die aber nun systematisch an den Zielen und Prinzipien eines menschenrechtsbasierten globalen Green New Deals ausgerichtet werden müssen. Sie können zu folgenden neun Punkten zusammengefasst werden:


1. Öko-soziale Steuerreformen: Um Haushaltsdefizite zu reduzieren, Entwicklung auf Pump zu vermeiden und mehr Mittel für die Verwirklichung der SDGs zu mobilisieren, ist eine Steigerung der Steuereinnahmen unerlässlich. Das gängige Rezept einer Erhöhung der Mehrwertsteuer ist aufgrund seiner regressiven Wirkung aber kontraproduktiv. Sinnvoller sind öko-soziale Steuerreformen, die eine höhere Besteuerung der reicheren Einkommensschichten und des Ressourcenverbrauchs zum Ziel haben. Wichtige Elemente solcher Reformen sind Steuern auf Vermögen, Grundbesitz, Erbschaften, Kapitaleinkünfte und Unternehmensgewinne. Ein Schlüsselelement jeder öko-sozialen Steuerreform ist die Besteuerung des Ressourcenverbrauchs. Da derartige Steuern aber arme Haushalte tendenziell stärker belasten als reiche, ist es zwingend erforderlich, gleichzeitige Kompensationsmaßnahmen einzuführen. Dies kann zum Beispiel durch die Subventionierung öffentlicher Infrastruktur (beispielsweise öffentlicher Verkehrsmittel), gestaffelte Preise für öffentliche Dienstleistungen oder direkte Bargeldzuwendungen (cash transfers) an ärmere Haushalte geschehen.

2. Reallokation der Staatsausgaben: Parallel zur Einnahmeseite sind Reformen auch auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte erforderlich. Denn allzu oft werden öffentliche Gelder weiterhin für schädliche oder zumindest fragwürdige Zwecke ausgegeben, seien es exzessive Militärausgaben oder umweltschädliche Subventionen. Um zu überprüfen, welche ökologischen, ökonomischen und sozialen Wirkungen Subventionen haben, müssen sie einem umfassenden Nachhaltigkeits-Check unterzogen werden. Darüber hinaus ist ein systematischer Nachhaltigkeits-Check des gesamten Staatshaushalts notwendig, um zu überprüfen, ob er mit den Verpflichtungen und Zielen der Agenda 2030 übereinstimmt. Wenn Regierungen ihre Ausgabenprioritäten entsprechend neu definieren, können kombinierte Finanzreformen eine fiskalische, ökologische und soziale „Dreifachdividende“ erbringen, das heißt öffentliche Mittel freisetzen, ökologische Steuerungswirkungen erzielen und die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich verringern – und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der SDGs leisten.

3. Soziale Grundsicherung für alle: Der Zugang zu sozialer Sicherung ist ein Menschenrecht (Art. 22 und 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Art. 9 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte [WSK-Pakt]) und auch in der Agenda 2030 (SDG 1.3) verankert. Dies ist gerade in Krisenzeiten auch eine ökonomische und politische Notwendigkeit, denn ein funktionierendes System sozialer Sicherung reduziert Armut, stärkt die Kaufkraft der Bevölkerung, und damit die Binnennachfrage, und beugt gesellschaftlichen Konflikten vor. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat dazu das Konzept einer globalen sozialen Grundsicherung (Global Social Protection Floor) entwickelt, das auf vier Eckpfeilern basiert:

 

• Universeller Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung für alle.
• Garantierte staatliche Mindestzuwendungen für jedes Kind.
• Universelle staatliche Grundrente für alle alten Menschen und Menschen mit Behinderungen.
• Garantierte staatliche Unterstützung für Arbeitslose und Unterbeschäftigte, die in Armut leben.

 

Ein solches Minimalset sozialer Grundsicherung sollte in jedem Land existieren und wäre eine notwendige Voraussetzung, um zu verhindern, dass Menschen infolge ökonomischer Krisen in die Armut abstürzen. Die Privatisierung der sozialen Grundsicherung wäre dabei aber der falsche Weg.

4. Eindämmung von Steuervermeidung und illegalen Finanzflüssen: Den finanziellen Handlungsspielraum der Staaten zu erweitern, erfordert auch, effektive Gegenmaßnahmen gegen Steuerflucht und Steuervermeidung zu ergreifen. Denn durch das weltweite Netz von Steueroasen und Schattenfinanzzentren entgehen den Staaten weltweit jedes Jahr Einnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe. Notwendig ist ein Bündel nationaler und internationaler Maßnahmen, wie etwa:


• erweiterte Transparenzanforderungen für Unternehmen, unter anderem durch öffentliche länderspezifische Berichtspflichten. Diese sollen Unternehmen verpflichten, für sich und alle Tochtergesellschaften bestimmte Informationen wie Umsatz, Gewinn, Mitarbeiterzahl und Steuerzahlungen aufgegliedert nach den Ländern ihrer Tätigkeit zu veröffentlichen.
• effektive Maßnahmen gegen Gewinnverlagerungstricks von Unternehmen, unter anderem durch Einführung einer Gesamtkonzernsteuer, verbunden mit einem Mindeststeuersatz. Bei dieser Steuer werden die Gewinne eines transnationalen Konzerns zusammengefasst („konsolidiert“) und über eine Formel auf alle Länder, in denen der Konzern aktiv ist, verteilt.
• die Stärkung der globalen Steuerkooperation unter dem Dach der Vereinten Nationen, um koordinierte Maßnahmen gegen schädlichen Steuerwettbewerb und den damit verbundenen Steuerwettlauf nach unten zu vereinbaren und Regierungen beim Aufbau leistungsfähiger und gerechter Steuersysteme zu unterstützen.


5. Zusätzliche Mittel zur Klimafinanzierung: Immer mehr Länder stecken in einem Teufelskreis von Klimaschäden und Verschuldung, der sich mit jedem Jahr weiter verschärft. Besonders gefährdet sind die kleinen Inselstaaten der Karibik und des Pazifik. Notwendig sind ein Schuldenmoratorium und effektive Umschuldungsverhandlungen für die betroffenen Länder, um nach einer Katastrophe dringend benötigte Mittel für Nothilfe und Wiederaufbau schnell zu mobilisieren. Erforderlich ist zusätzlich eine massive Aufstockung der öffentlichen Mittel für die Finanzierung von Maßnahmen zur Vermeidung beziehungsweise Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen und zur Anpassung an die Folgen der globalen Erwärmung. Die Länder des Globalen Nordens haben sich verpflichtet, ab dem Jahr 2020 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr aus öffentlichen und privaten Quellen für Klimaschutzmaßnahmen in den Ländern des Globalen Südens bereitzustellen. Nach Schätzungen der OECD wurden 2017 dafür insgesamt etwa 71 Milliarden US-Dollar mobilisiert. Damit besteht noch immer eine substanzielle Finanzierungslücke, die im Jahr 2020 geschlossen werden muss.

6. Neue Verschuldungsspirale verhindern: Die Gefahr der Überschuldung hat sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen Ländern erhöht. Um eine neue weltweite Schuldenkrise zu verhindern und Überschuldungsprobleme dauerhaft zu lösen, sind vor allem folgende drei Schritte notwendig:


• Illegitime Schulden streichen und Gläubigermitverantwortung rechtlich verankern. Kreditgeber sollten grundsätzlich das Prinzip der Gläubigermitverantwortung und das Konzept der illegitimen Schulden anerkennen. Sie sollten sich dafür einsetzen, international anerkannte rechtsverbindliche Standards für die verantwortungsvolle Vergabe und Aufnahme von Krediten zu vereinbaren. Die UNCTAD Principles on Promoting Responsible Sovereign Lending and Borrowing können dafür die Grundlage bilden.
• Neue Indikatoren der Schuldentragfähigkeit definieren. Die von IWF und Weltbank verwendeten makroökonomischen Indikatoren für Schuldentragfähigkeit dienen vor allem dazu, im Interesse der Gläubiger die Zahlungsfähigkeit der Schuldner sicherzustellen. Eine Neudefinition von Schuldentragfähigkeit sollte demgegenüber auch soziale, ökologische und menschenrechtliche Kriterien einbeziehen. Der UN-Menschenrechtsrat hat das Primat der Menschenrechte über den Schuldendienst 2012 mit den Guiding Principles on External Debt and Human Rights anerkannt. Regierungen sind demnach aufgefordert, ihre Budgets so zu gestalten, dass sie menschenrechtsrelevanten Ausgaben Priorität gegenüber Transfers an Gläubiger einräumen.
• Faires und transparentes Staateninsolvenzverfahren einführen. Viele Länder werden die SDGs nur finanzieren können, wenn sie ihre Schuldenlast reduzieren. Für Staaten ist es allerdings schwierig, ihre Schulden so umzustrukturieren, dass sie wieder tragfähig werden, auch weil es derzeit kein Insolvenzrecht für staatliche Schuldner gibt. Zur Lösung von Überschuldungsproblemen sollten die Regierungen daher unter dem Dach der Vereinten Nationen das Modell eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens zur Schuldenumwandlung entwickeln.


7. Menschenrechts-Check von Wirtschaftsreformen und Konditionalitäten: Die Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer Nachhaltigkeitsziele sowie der Verpflichtungen, die sich für die Regierungen aus den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen ergeben, darf gerade in Krisenzeiten nicht durch Auflagen ausländischer Geldgeber, insbesondere des IWF, verhindert werden. Alle austeritätspolitischen Maßnahmen müssen daher grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden. Eine wichtige Rolle können dabei die Guiding Principles on Human Rights Impact Assessments of Economic Reforms spielen. Sie wurden im März 2019 vom UN-Menschenrechtsrat angenommen. Die Leitprinzipien können als Richtschnur dienen, um zu überprüfen, ob wirtschaftspolitische Maßnahmen im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen stehen.

8. Rekommunalisierung beziehungsweise Deprivatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen: Den ordnungspolitischen Gestaltungsspielraum des öffentlichen Sektors (wieder) zu erweitern, setzt auch voraus, den Teufelskreis aus Privatisierung und Schwächung des Staates zu durchbrechen. Mittlerweile sind als Reaktion auf die Erfahrungen mit den negativen Wirkungen von Privatisierung und Public-Private-Partnerships (PPPs) in vielen Teilen der Welt Gegenbewegungen entstanden. In den zurückliegenden 15 Jahren gab es weltweit mindestens 835 Beispiele von Städten und Gemeinden, die privatisierte Dienstleistungen wieder in die öffentliche Hand zurückgeführt haben, insbesondere im Bereich der Wasser- und Energieversorgung. Häufig konnten dadurch die Kosten der öffentlichen Güter und Dienstleistungen reduziert, die Qualität verbessert und die Partizipation der betroffenen Bevölkerung gesteigert werden. Die kritische Auseinandersetzung mit den Folgen der Privatisierung darf sich aber nicht auf die kommunale Ebene beschränken. Konsequenzen müssen auch auf nationaler Ebene gezogen werden. So empfiehlt selbst der Europäische Rechnungshof in seinem Sonderbericht über PPPs, dass die Mitgliedstaaten der EU vergleichende Analysen durchführen und die PPP-Option nur dann wählen sollten, wenn diese auch in pessimistischen Szenarien das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis biete. Grundsätzlich sollte die EU aber keine intensivere und breitere Nutzung von PPPs fördern, solange die bestehenden Probleme der PPPs nicht angegangen worden sind.

9. Effektive Regeln für den globalen Schattenbankensektor: Nach der globalen Finanzkrise 2008/2009 haben die Regierungen neue Regeln für das Finanzsystem geschaffen. Sie beschränkten sich aber weitgehend auf den formalen Bankensektor, für den sie unter anderem die Transparenz- und Eigenkapitalvorschriften erweiterten. Für institutionelle Investoren, Vermögensverwalter und andere Finanzmarktakteure außerhalb des formalen Bankensektors gelten die strikteren Regeln dagegen nicht. Sie haben aber in den vergangenen zehn Jahren enorm an Bedeutung gewonnen und drängen zunehmend in das klassische Finanzgeschäft von Kreditinstituten. Aus Sicht des Financial Stability Board (FSB) dürfen die damit verbundenen Risiken nicht außer Acht gelassen werden. Und auch der IWF fordert, den Risiken bei institutionellen Anlegern durch verstärkte Überwachung und Offenlegung zu begegnen. Handlungsbedarf besteht unter anderem mit Blick auf die bessere Regulierung von Investmentfonds, insbesondere börsengehandelten Fonds (Exchange-Traded Funds, ETFs), und von globalen Vermögensverwaltern. Nach der Weltfinanzkrise lautete ein Slogan: „too big to fail = too big to allow“. Unternehmen und Banken sollten nicht so groß werden dürfen, dass ihr Scheitern ein Risiko für das globale Wirtschaftssystem bedeutete. Dies muss auch für die mächtigsten Vermögensverwalter der Welt, allen voran BlackRock, gelten.

Fazit

Die Staats- und Regierungschefs haben bei ihrem SDG-Gipfel im September 2019 die „dringende Notwendigkeit beschleunigten Handelns auf allen Ebenen“ betont und ein „höheres Ambitionsniveau“ bei der weiteren Umsetzung der SDGs versprochen.

Dies müsste sich auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierungen und der zuständigen internationalen Finanzinstitutionen widerspiegeln. Aber dort haben Nachhaltigkeitsziele und Menschenrechte bislang meist keine Priorität.

Angesichts einer drohenden Welle von Schulden- und Finanzkrisen stehen die Regierungen zu Beginn der 2020er-Jahre an einem Scheideweg: Entweder sie folgen weiterhin dem Kurs konventioneller Austeritätspolitik, verabschieden sich damit de facto von den Zielen und Grundsätzen der Agenda 2030 und nehmen angesichts der absehbaren sozialen Folgen weitere Massenproteste und gesellschaftliche Destabilisierung in Kauf. Oder sie schaffen mit konzertierten Strategien eines menschenrechtsbasierten globalen Green New Deal die Grundlage dafür, dass die 2020er-Jahre tatsächlich zu der versprochenen Dekade des Handelns auf dem Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation unserer Welt werden.


Anmerkung

1Alle Quellenangaben zu den in diesem Briefing zitierten Zahlen und ein ausführliches Literaturverzeichnis finden sich in dem längeren GPF-Report „Die SDGs im Schatten drohender Finanzkrisen“ (siehe Literaturhinweis unten).


Literaturhinweis

Jens Martens (2020):
Die SDGs im Schatten drohender Finanzkrisen
Bonn: Global Policy Forum.


Es handelt sich um eine leicht veränderte Fassung des vom Global Policy Forum veröffentlichten Briefings. Zur Erstveröffentlichung siehe:

 

Jens Martens
Eckpunkte eines menschenrechtsbasierten globalen Green New Deal
Antwort auf Finanzkrisen und Austeritätspolitik
Briefing Januar 2020, hrsg. vom Global Policy Forum

 

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Jens Martens
Der SDG-Gipfel der Vereinten Nationen 2019. Ergebnisse – Konflikte – Perspektiven
hrsg. vom Global Policy Forum
Briefing Oktober 2019

 

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UN-Gipfel – Jetzt mal Taten statt Worte? Staats- und Regierungschefs treffen sich zum SDG-Gipfel in New York
SWP Aktuell, Nr.49, September 2019



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