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Kaspar Villiger: Die Durcheinanderwelt. Irrwege und Lösungsansätze

31.05.2017
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Autorenprofil
PD Dr. phil. Matthias Lemke
Zürich, NZZ Libro 2017


Kaspar Villiger ist politisch wie unternehmerisch kein unbeschriebenes Blatt. Als selbstständiger Unternehmer, ehemaliger Schweizer Bundesrat und zuletzt als Präsident des Verwaltungsrats der Schweizer Großbank UBS ist er eine international ebenso erfahrene wie anerkannte Persönlichkeit. Noch zuletzt – im Jahr 2016 – verlieh ihm die Friedrich-Naumann-Stiftung den Freiheitspreis. Gehör zu finden und gehört zu werden ist für Villiger dementsprechend ein Leichtes.

Was ist dann davon zu halten, wenn er sich in der Einleitung zu seinem Buch so überaus bescheiden gibt, ja, man ist versucht zu sagen: damit kokettiert, dass die folgenden einhundertfünfzig Seiten nichts als eine rein private Finger- beziehungsweise Geistesübung gewesen seien. Es sei ihm lediglich darum gegangen, Ordnung in seine Gedanken über die Lage der Welt zu bringen. Erst Freunde hätten ihm dazu geraten, das Ganze öffentlich zu machen und – es ward ein Buch. Im Mittelpunkt dieses Buches, das nun eben nicht mehr bloß einem kleinen Zirkel, sondern einer großen Öffentlichkeit zugänglich ist, geht es um eine sehr einfach formulierte Absicht: „Wir brauchen eine Revitalisierung des Liberalismus, nicht ‚more of the same‘. Das möchte ich in dieser Schrift begründen.“ (10)

Villigers Gegenwartsdiagnose unter liberalen Auspizien sieht die zeitgenössischen Demokratien vor einer Herausforderung durch vier unterschiedliche, einander jedoch überlagernde Krisen. Zunächst zur Krise der Marktwirtschaft: Im Kern bestehe diese in einer Wachstumsschwäche, die ihrerseits wiederum drei Ursachen habe. Es fehlten hinreichende Reformen, der Welthandel sehe sich immer weiteren Hemmnissen ausgesetzt und auch die Geldpolitik sei verfehlt. Stichwort Reformen: Funktionierende Märkte, also solche, die Wachstum generieren, brauchen, so Villiger, einen möglichst flexiblen Zugriff auf Arbeitskräfte. Die nationale Wirtschaft dürfe nicht überschuldet sein, weil das ebenfalls Wachstum hemme. Und nicht zuletzt seien hohe Sozial- und Steuerlasten dafür verantwortlich, dass sich Menschen nicht hinreichend in der Wirtschaft engagierten. Programmatisch umformuliert bedeutet das: Noch mehr Kurzfrist- und Zeitverträge, noch mehr Austerität und noch weitergehende Kommodifizierung von Daseins- und Grundvorsorge, also all derjenigen Dinge, wie Straßen, Renten, Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehren, Wasser- und Stromnetze, die durch Steuern und Abgaben finanziert oder mitfinanziert werden. Das alles mündet dann in einer ebenso einfachen wie bedrückenden Einsicht: „Marktwirtschaft braucht nicht Demokratie, sondern Staatlichkeit.“ (21)

Dennoch konzediert Villiger eine Krise der Demokratie, auch wenn deren sprachliche Herleitung politisch fahrlässig ist. „Die Flüchtlingsströme“, so Villiger, „die derzeit Europa überfluten, belegen die ungebrochene Attraktivität der Demokratie für Menschen aus unfreien und armen Ländern“ (32). Eine derartige Verzahnung von Demokratielob – warum eigentlich, nach der Vorrede über Markt und Staat? – und populistischer Untergangsphantasie muss bedenklich stimmen, denn sie unterminiert den Wert der Demokratie. Die Flüchtenden, die im Übrigen Menschen – Männer, Frauen und Kinder – und keine amorphe Flutmasse sind, strebten gar nicht nach Demokratie, sondern nach Wohlstand. Wer wolle schon in Bulgarien oder Rumänien bleiben, wenn er auch nach Deutschland könne? Wie dem auch sei, es gebe fünf Ursachen, die dazu geführt hätten, dass sich die Demokratie in einem Abwärtstrend befinde, wobei sich, bei genauerer Betrachtung, gar nicht alle von Villiger vorgebrachten Gründe auf Demokratien beziehen. Aber – und dieses Gefühl taucht spätestens an dieser noch sehr frühen Stelle des Buches auf – um eine differenzierte Argumentation geht es hier gar nicht. Es geht vielmehr darum zu beweisen, dass die Demokratie nicht taugt. Also, warum befinden sich zeitgenössische Demokratien in Schieflage? Erstens: Sie haben wirtschaftliche und politische Probleme bekommen. Zweitens: Populismus. Drittens: Demokratie hat Rückschläge erlitten, etwa in Russland, Venezuela oder der Türkei. Viertens: Autoritäre Länder sind wirtschaftlich erfolgreich. Fünftens: Demokratische Revolutionen der letzten Jahre sind gescheitert. „Chinesische Professoren lehren ihre Studenten allen Ernstes, die Demokratie sei ein untaugliches Regierungssystem, weil sie unausweichlich ins Chaos führe.“ (33) Wenn Villiger da schon selbst nicht mehr widerspricht, warum sollte man dann auf derlei anekdotische Evidenz überhaupt noch eingehen?

Bevor es jedoch gilt zu reflektieren, wie denn all diesen unguten Entwicklungen begegnet werden könnte, seien der Vollständigkeit halber noch die anderen beiden der insgesamt vier sich überlappenden Krisen der Gegenwart genannt: Zunächst die Krise der Europäischen Union, die in Villigers Lesart im Wesentlichen eine wirtschaftliche ist. Hätten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur rechtzeitig begonnen, ihre Haushalte zu konsolidieren, dann wären sie besser durch die Weltwirtschafts- und Finanzkrise gekommen, wie auch durch die Flüchtlingskrise. Das ist an Kasuistik nicht nur auf den ersten Blick sehr eindimensional. À propos Flüchtlingskrise: Diese sei primär, so Villiger weiter, durch den Wunsch der Migrantinnen und Migranten bedingt, „von einem dysfunktionalen Sozialmodell, das die Ursache ihrer Armut ist, in ein erfolgreiches Sozialmodell“ (87) überzuwechseln. Damit würden Flüchtende zur Belastung der Aufnahmegesellschaften, denn gut Qualifizierte seien zwar auch unter ihnen, aber nicht nur. Trotzdem gesteht Villiger zu, dass es eine moralische Pflicht der aufnehmenden Staaten sei, den Flüchtenden zu helfen.

Soviel zur Gegenwartsdiagnose, wie sehen nun Villigers Lösungsansätze aus? Es ist, wenn man sein Zehn-Punkte-Programm zur Revitalisierung heranzieht, von allem etwas dabei. Es brauche mehr Subsidiarität, weniger Personenfreizügigkeit, mehr Wettbewerb, mehr direkte Demokratie und mehr Strukturreformen. Das sind alles längst bekannte Forderungen und auch ihre Anhäufung macht sie nicht wirklich attraktiver oder gar plausibler. Im Gegenteil: Wieso sollten sich national oder regional immer stärker abgeschottete, direktdemokratisch organisierte Gemeinschaften auf mehr Wettbewerb einigen oder gar systematisch Strukturreformen durchsetzen? Richtig ärgerlich wird es jedoch, wenn Villiger insinuiert, der europäische Rechtsstaat drohe abgebaut zu werden, dann das Beispiel der Lage in der Türkei anführt und schließlich demokratisch nicht legitimierte Experten- und Kontrollgremien zur Überwachung der Rechtsstaatsqualität vorschlägt. Das ist nicht nur inkohärent in der Diagnose, sondern auch hinsichtlich der eigenen Programmatik. Und die Überzeugung, dass Expertengremien die bessere Politik machten, weil sie so unabhängig seien, ist höchstens als blauäugig zu bezeichnen.

Was also bleibt? In seiner Einleitung hatte Villiger geschrieben, er sei sich darüber im Klaren, dass seine liberale Position derzeit nicht besonders mehrheitsfähig sei: „Ich bin mir darüber bewusst, dass ich mit meinen sehr liberalen wirtschaftspolitischen Überzeugungen gegen den aktuellen Mainstream schwimme. [...] Das beeindruckt mich allerdings nicht sonderlich.“ (13) Bei der Lektüre erweist sich indes als beeindruckend, wie monokausal und patchworkartig sein liberales Denken daherkommt. Die von ihm im Fazit geforderte „liberale Konterrevolution“ (151) – gegen den Zeitgeist, gegen die Political Correctness – wird sich so wohl kaum gestalten, geschweige denn herbeischreiben lassen. Wäre es bei einer privaten Fingerübung geblieben, so müsste man sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen.

 

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