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Nutzung und Nutzen der „europäischen Säule sozialer Rechte“. Bestandsaufnahme und Empfehlungen

22.11.2018
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Prof. Dr. Björn Hacker

 Marianne Thyssen, Kommissarin für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, am 21. Dezember 2017 auf dem Weg zu einer Pressekonferenz, bei der es um die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte ging. Foto: Europäische KommissionMarianne Thyssen, Kommissarin für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, am 21. Dezember 2017 auf dem Weg zu einer Pressekonferenz, bei der es um die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte ging. Foto: Europäische Kommission

 

1. Der sozial gespaltene Kontinent

Das Social Scoreboard der Europäischen Kommission (2018a) zeigt, dass Europa sozial gespalten ist: Ein Drittel aller Indikatoren weist unterdurchschnittliche Werte auf. Zwar warten nicht alle Mitgliedstaaten mit schlechten Ergebnissen auf, aber die negative Gesamtbilanz kommt durch eine hohe Anzahl sozial abgeschlagener Mitgliedstaaten zustande. Andere Länder stehen währenddessen sehr gut da. Die Verteilung innerhalb der beiden besonders negativ gekennzeichneten Kategorien „kritische Lage“ und „zu beobachten“ (siehe Abbildung 1) kann zur Veranschaulichung dienen: Süd- und Südosteuropa bilden die Schlusslichter, während West- und Nordeuropa sehr gut abschneiden; viele mittelosteuropäische Staaten liegen zwischen diesen beiden Positionen. Deutlich wird so die vertiefte Spaltung der EU. War bereits lange bekannt, dass es für die erst seit 2004 der EU beigetretenen Staaten Mittelosteuropas noch dauern wird, ehe sie ökonomisch und sozial zu den westlichen EU-15 aufrücken können, sind infolge der Krise der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und ihres allein wirtschaftspolitisch orientierten, die soziale Dimension vernachlässigenden und diese verschlimmernden Managements nun auch Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Zypern vom sozialen Konvergenz- und Fortschrittsversprechen abgehängt.

 

Abbildung 1: Negativabweichungen im Social Scoreboard für die EU-28 2017/2018

 

Rating nach Häufigkeit von stark unterdurchschnittlichen Werten für die zwölf genutzten Indikatoren, die als „kritische Lage“ und „zu beobachten“ markiert sind. Die Farbgebung erfolgt unabhängig von der Farbgebung der Europäischen Kommission im Social Scoreboard. Quelle: Länderberichte als Begleitunterlagen zu Europäische Kommission (2018b). Daten für Griechenland aus Europäische Kommission (2018c: 19).Rating nach Häufigkeit von stark unterdurchschnittlichen Werten für die zwölf genutzten Indikatoren, die als „kritische Lage“ und „zu beobachten“ markiert sind. Die Farbgebung erfolgt unabhängig von der Farbgebung der Europäischen Kommission im Social Scoreboard. Quelle: Länderberichte als Begleitunterlagen zu Europäische Kommission (2018b). Daten für Griechenland aus Europäische Kommission (2018c: 19).



Die soziale Divergenz der EU entspringt aktuell einem grundlegenden Ungleichgewicht des Integrationsprozesses: Für die Regierungen der Mitgliedstaaten war es immer einfacher und in ihren jeweiligen nationalen Politikarenen besser zu begründen, zum Zwecke der Marktschaffung Handelshemmnisse wie Grenzen, Zölle, Subventionen, Preisdifferenziale und andere abzubauen. Dagegen war der Aufbau gemeinsamer Politiken mit dem Ziel der Marktkorrektur und -gestaltung zwischen den Partnern strittiger. Im Ergebnis ist eine „konstitutionelle Asymmetrie“ (Scharpf 2002) zwischen einer weit fortgeschrittenen, marktschaffenden Wirtschaftsintegration und einer dieser gegenüber zurückbleibenden, marktkorrigierenden sozialen Integration entstanden.

Auch die seit Mitte der 1990er-Jahre immer weiter ausgebaute beschäftigungs- und sozialpolitische Koordinierung konnte diese Schieflage der Integrationsentwicklung nicht beheben. In der Krise der Eurozone zeigte sich ihre Nachrangigkeit gegenüber dem ausgebauten und durch das Krisenmanagement gestärkten System der wirtschaftspolitischen Governance im Rahmen des Europäischen Semesters. Besonders in den Krisenstaaten war die Dominanz budgetpolitischer Ansätze und solcher zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber sozialen Investitionen sowie Politiken zur Nachfragestützung und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts spürbar. Trotz des wiedereinsetzenden Wirtschaftsaufschwungs leiden einige Länder weiterhin unter sehr hohen und verfestigten Erwerbslosen- und Armutsgefährdungsquoten.

Europa hat in zehn Jahren Finanz- und Eurokrise viel zur Rettung von Bankinstituten sowie zur Straffung und Kontrolle staatlicher Ausgabenpolitiken beigetragen, aber wenig getan, um die Bürgerinnen und Bürger vor Arbeitslosigkeit und Armut zu schützen. Mehr noch: Im Zuge des Krisenmanagements hat die Austeritätspolitik der EU die soziale Krise erst richtig befeuert. Einer in erster Linie dem Markt verpflichteten EU verweigern die Bürgerinnen und Bürger angesichts wachsender Sorgen vor sozialem Abstieg und Unbehagen im Hinblick auf Globalisierung und Migration jedoch die Zustimmung. Stattdessen gewinnen Nationalpopulismus und Wohlfahrtschauvinismus in der politischen Debatte an Relevanz. So wird das blinde soziale Auge der EU gerade im Vorfeld der Europawahlen im Mai 2019 als Problem akut.

Mit der europäischen Säule sozialer Rechte ist auf dem Sozialgipfel am 17. November 2017 in Göteborg zwar ein von der Kommission vorangetriebener Ansatz zur Stärkung der sozialen Dimension der europäischen Integration proklamiert worden. Ein Jahr später scheint der neue Anlauf für das Soziale in Europa jedoch bereits zu erlahmen: Der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker erwähnt das Thema in seiner Rede zur Lage der Union 2018 nur noch am Rande und spricht unspezifisch davon, „die Ankündigungen vom Sozialen Gipfel in Göteborg zu goldenen Regeln [zu] machen“ (Juncker 2018: 12). Derweil sagt die österreichische Ratspräsidentschaft das reguläre Oktobertreffen des Arbeits- und Sozialministerrates (EPSCO) mangels Fortschritten in den sozialen Dossiers ab. Will der Kommissionspräsident sein zu Beginn der Amtszeit ausgegebenes Ziel eines „sozialen ‚Triple-A‘“ für die EU (Juncker 2014) noch erreichen, muss die Kommission nun angesichts der sozialen Spaltung Europas gemeinsam mit dem Parlament und insbesondere dem Rat handeln.

 

2. Die Unverbindlichkeit der „europäischen Säule sozialer Rechte“

Bislang bleiben schnelle Erfolge bei der Umsetzung der ESSR aus, da sie nicht Bestandteil des europäischen Primärrechts ist und daher keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Sie bietet der Kommission nur eine schwache Basis zum Vorschlag von Sekundärrechtsakten. Entsprechende Initiativen wie die Schaffung eines gemeinsamen Arbeitnehmerbegriffs, eine europäische (Neu-)Regelung der Vaterschafts-, Eltern- und Pflegeurlaube sowie die Einrichtung einer europäischen Arbeitsbehörde kommen nur schleppend voran.

Als Ersatzlösung hat die Kommission die Nutzung der ESSR im Bereich der koordinierenden Politiken vorangetrieben, indem sie deren Grundsätze in hohem Maße in das Europäische Semester 2017/2018 eingeflochten hat. So werden zentrale Inhalte der ESSR im Jahreswachstumsbericht, im Beschäftigungsbericht und in neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien aufgegriffen. Doch die Politikkoordinierung im Sozialbereich erfolgt auf freiwilliger Basis durch die Mitgliedstaaten und ohne verbindliche Zielwerte, wie sie etwa im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) gelten. Das mit der ESSR zu ihrer Operationalisierung beschlossene Social Scoreboard von 14 Sozialindikatoren (Europäische Kommission 2018a) zeigt zwar deutlich die Missstände mangelnder sozialer Konvergenz auf (siehe Abbildung 1), orientiert sich aber lediglich an Durchschnittswerten der EU-Mitgliedstaaten. Benchmarks und Mindeststandards sind nicht vorgesehen. Dies kann dazu führen, dass bei einer schlechten Performanz aller Länder einem Mitgliedstaat mit einer problematischen Sozialbilanz dennoch eine hervorragende Bewertung ausgestellt wird, weil sie relativ besser als die Bilanzen der anderen Mitgliedstaaten ist.Foto: Europäische KommissionFoto: Europäische Kommission

Die Mitgliedstaaten haben zwar der ESSR zugestimmt, zeigen sich in der Praxis jedoch sehr zurückhaltend, was ihre Nutzung betrifft. Nur elf von 27 Regierungen gehen in ihren 2018 vorgelegten Nationalen Reformprogrammen (NRP) überhaupt auf die ESSR ein. Zugleich wird erneut die tradierte Reihung zwischen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren im Governance-Prozess deutlich. Die NRP werden zumeist von den Wirtschafts- und Finanzministerien erstellt – hier werden andere Prioritäten gesetzt als die Erneuerung des sozialen Europas und lieber Themen im Zusammenhang mit dem SWP und dem Verfahren zur Vermeidung und Korrektur des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten (MIP) verfolgt. Was die Ministerkolleginnen und -kollegen im EPSCO-Rat beschließen und im Europäischen Semester gerne angewendet sehen würden, ist im mächtigen Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) von untergeordneter Bedeutung.

Diese Reihung zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen zeigt sich auch mit Blick auf die länderspezifischen Empfehlungen (CSR), die am Ende des Europäischen Semesters im Juli 2018 ausgesprochen wurden. Zwar binden Kommission und Rat hier die Grundsätze der ESSR erstmals ein. Doch dies funktioniert primär dann, wenn die ESSR Ziele eines gerechten Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt, der human-kapitalintensiven Produktivitätssteigerung und der Flexicurity verfolgt. Hierauf gestützte Empfehlungen sind nahezu immer kompatibel mit den Ratschlägen und Empfehlungen im Rahmen des SWP und der MIP. Konfliktträchtige Grundsätze der ESSR, die eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte oder kostenintensive Sozialleistungen fordern, finden sich dagegen nur vereinzelt. Insbesondere für die Länder der WWU ist eine Ausweitung sozialer Sicherheit nach den Grundsätzen der ESSR demnach – trotz festgestellter sozialer Defizite – in den CSR nur dann angezeigt, wenn dies keinen Konflikt mit den als wichtiger eingestuften budget- und wettbewerbspolitischen Zielen provoziert.

Die Nutzung der ESSR im Europäischen Semester birgt das Potenzial zu einer Stärkung sozialer Politiken innerhalb der Mitgliedstaaten. Würde dieses voll ausgeschöpft, könnte die ESSR zu einer neuen sozialen Aufwärtskonvergenz in der EU führen, auch ohne dass das zentrale Problem fehlender Fortschritte bei der Schaffung einer regulativen Sozialpolitik auf europäischer Ebene angegangen wird.

 

3. Empfehlungen zur Stärkung sozialer Rechte in der EU

Um dieses Potenzial der ESSR auszuschöpfen, müssten die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen die ESSR innerhalb des Koordinierungszyklus stärken. Konkret sollten dazu die folgenden Lösungsoptionen für die Probleme mangelnder Verbindlichkeit, fehlender Zielwerte, ausbleibender Unterstützung durch die Mitgliedstaaten und Subordination unter die Wirtschaftsgovernance umgesetzt werden. Nur dann kann die ESSR trotz fehlender Rechtsverbindlichkeit und schwacher Koordinierungserfolge noch zu einem erfolgreichen Projekt und die soziale Spaltung Europas gelindert werden.

 

(1) Mit einem Sozialprotokoll wirtschaftliche Freiheiten und soziale Rechte gleichstellen:
Die ESSR wird ihre volle Wirkung erst entfalten können, wenn die von ihr beschriebenen Rechte für die Bürgerinnen und Bürger einklagbar sind. So schnell wie möglich sollte sie daher in die Verträge eingegliedert werden. Wenn dies an der Zustimmung einzelner Mitgliedstaaten scheitert, sollte wie im Vertrag von Maastricht eine kleinere Gruppe von Staaten mit einem Sozialprotokoll vorangehen. Die Eingliederung in das Primärrecht würde sekundärrechtliche Initiativen im Sozialbereich stützen sowie wirtschafts- und sozialpolitische Ziele gleichstellen.

(2) Mit gemeinsamen Mindeststandards und Zielwerten soziale Kohäsion sichern:
Die ESSR benötigt klare Ziele in ihrem Social Scoreboard. Die Mitgliedstaaten sollten sich schrittweise auf die Ablösung des EU-Durchschnitts als Orientierungsgröße zugunsten der Einführung quantifizierbarer Zielwerte und Mindeststandards einigen. Dabei sollte von einer One-size-fits-all-Lösung wie zu Zeiten der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) abgesehen werden: Die institutionellen und sozioökonomischen Unterschiede der Mitgliedstaaten gilt es zu achten, indem eine relative Orientierung an nationalen Größen erfolgt. Denkbar sind ein Rahmen für eine Mindestlohnnorm nach Grundsatz Nr. 6b der ESSR („Löhne und Gehälter“) bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns (Schulten et al. 2016), ein Rahmen für existenzsichernde Grundsicherungssysteme nach Grundsatz Nr. 14 der ESSR („Mindesteinkommen“), dessen Leistungen sich nach der jeweiligen nationalen Armutsquote bemessen (Kingreen 2017), und ein Rahmen für das Vorhalten von Sozialausgaben pro Kopf nach Grundsatz Nr. 12 der ESSR („Sozialschutz“), die der langfristigen Entwicklungen des Bruttoinlandsprodukts entsprechen (Busch 2011). Ein so geschaffenes Netz aus sozialen Zielen und Mindeststandards könnte die Nachfolge der Europa 2020-Strategie antreten. Ihre Ausarbeitung sollte im Rahmen des Sozialen Dialogs auf europäischer Ebene nach Art. 155 AEUV erfolgen. Zur Umsetzung der sozialen Ziele sollten im mehrjährigen Finanzrahmen der EU zielgerichtete Mittel bereitgestellt werden.

(3) Mit einer Aufwertung sozialpolitischer Akteure auf europäischer Ebene die Politikkoordinierung ausbalancieren:
Die strukturelle Benachteiligung des EPSCO-Rates im Governance-Gebäude der EU könnte auch ohne Vertragsreform behoben werden. Das erklärte Ziel einer besseren Abstimmung wirtschaftlicher und sozialer Koordinierungsgegenstände kann nur funktionieren, wenn die Dominanz des ECOFIN-Rates im Europäischen Semester gebrochen wird. Gemeinsame Sitzungen beider Ratsformationen (Europäisches Parlament 2017: Abs. 39) sind notwendig, um Zielkonflikte zwischen ökonomischen und sozialen Standpunkten zu lösen. Speziell für die Eurozone würde sich hieraus das Zentrum einer makrosozialen Steuerung der WWU im Sinne eines neu aufgestellten Makroökonomischen Dialogs entwickeln (Koll/Watt 2018). Das Ergebnis wäre eine stärkere Auseinandersetzung der Mitgliedstaaten mit den Grundsätzen der ESSR im Rahmen der wirtschaftspolitischen Governance.

(4) Mit einer Nutzung des Social Scoreboards Sozialreformen in den Mitgliedstaaten begründen:
Frankreich, das im Social Scoreboard sehr gut abschneidet, nutzt die ESSR als einziges Land intensiv. So stellt die französische Regierung aus den Ergebnissen des Social Scoreboards ein eigenes Ranking zusammen und vergleicht für jeden der 14 Indikatoren die Position Frankreichs mit den fünf jeweils am besten und am schlechtesten abschneidenden Nachbarstaaten. Im Ergebnis identifiziert sie erheblichen Handlungsbedarf und erläutert im NRP unter Rückgriff auf sechs der 20 ESSR-Grundsätze ihre diesbezüglichen Reformpläne (Frankreich 2018). Diesem Beispiel sollten die Regierungen der anderen EU-Länder folgen und dadurch die Grundsätze der ESSR stärker in die politische Debatte einspeisen.

(5) Mit der europäischen Säule sozialer Rechte aktiv Politik machen:
Die Rankings des Social Scoreboards sind nicht allein für das europäische Institutionengefüge und die nationale Ministerialbürokratie von Interesse. Insbesondere in den nationalen Parlamenten sollte die relative soziale Lage des eigenen Landes regelmäßig mit dem Ziel thematisiert werden, wirtschaftspolitische Empfehlungen aus dem Europäischen Semester mit einer sozialen Folgenabschätzung zu versehen. Eine besondere Rolle bei der Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit für die ESSR sollten neben und in der parlamentarischen Ausschussarbeit insbesondere die Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände und weitere zivilgesellschaftliche Interessengruppen spielen.

(6) Mit einem Sozialen Stabilitätspakt Ungleichgewichte eindämmen: Um die Anfälligkeit für asymmetrische Schocks einzudämmen, müssen nicht nur die Ausgabenpolitiken der Mitgliedstaaten, sondern auch die Steuer-, Sozial- und Lohnpolitiken in der WWU untereinander abgestimmt werden. Die Staaten der Eurozone sollten sich auf einen Sozialen Stabilitätspakt verständigen, in dem für die WWU relevante Ziele der ESSR mit einem Verfahren gegen soziale Ungleichgewichte (Andor 2013) verknüpft werden, wenn politisch festzulegende Schwellenwerte im Social Scoreboard über- beziehungsweise unterschritten werden. Äquivalent zum Defizitverfahren des SWP und zur MIP würde so ein Mechanismus geschaffen, der soziale Reformen in den Mitgliedstaaten mit großem Nachdruck empfehlen und verlangen kann. Um in der Eurozone soziale und wirtschaftliche Governance gleichzustellen, sollten der SWP um eine Goldene Regel zur Ausnahme sozialer Investitionen vom budgetären Defizitverfahren ergänzt und in der Planung befindliche Maßnahmen zur Reform der WWU – wie ein Reformumsetzungsinstrument und eine Investitionsstabilisierungsfunktion (Europäische Kommission 2017) – auf die Ziele der ESSR abgestimmt werden.

Mit Ausnahme der Aufnahme der ESSR in die EU-Verträge könnten die Reformvorschläge mit dem Start des Europäischen Semesters 2018/2019 schrittweise umgesetzt werden. Der Soziale Stabilitätspakt könnte im Zuge der Reform der WWU auf den Weg gebracht werden. Die umfassendste Lösung für die hier aufgezeigten Probleme, die Aufnahme der ESSR in das Primärrecht, ist aufgrund der notwendigen Vertragsänderung schwieriger umzusetzen. Deshalb sollte das Sozialprotokoll für die EU das zentrale politische Ziel für die nächste Legislaturperiode des Europäischen Parlaments werden. Denn erst, wenn ein solches in Kraft tritt, kann die EU ihrem Anspruch auf ein „soziales Triple-A“ gerecht werden.

 

Literaturverzeichnis

Andor, László (2013):
Developing the social dimension of a deep and genuine Economic and Monetary Union, European Policy Centre, Policy Brief, 13.09.2013.

Busch, Klaus (2011):
Das Korridormodell – relaunched. Ein Konzept zur Koordinierung wohlfahrtsstaatlicher Politiken in der EU, Friedrich-Ebert-Stiftung.

Europäische Kommission (2017):
Mitteilung: Neue Haushaltsinstrumente für ein stabiles Euro-Währungsgebiet innerhalb des Unionsrahmens, COM(2017) 822 final, 06.12.2017.

Europäische Kommission (2018a):
Social Scoreboard. Supporting the European Pillar of Social Rights, https://ec.europa.eu/eurostat/web/european-pillar-of-social-rights/indicators/social-scoreboard-indicators.

Europäische Kommission (2018b):
Mitteilung. Europäisches Semester 2018: Bewertung der Fortschritte bei den Strukturreformen, Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte und Ergebnisse der eingehenden Überprüfungen gemäß Verordnung (EU) Nr. 1176/2011, COM(2018) 120 final, 07.03.2018.

Europäische Kommission (2018c):
Joint Employment Report 2018. As adopted by the EPSCO Council on 15th March 2018.

Europäisches Parlament (2017):
Eine europäische Säule sozialer Rechte. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2017 zu einer europäischen Säule sozialer Rechte (2016/2095(INI)), P8_TA(2017)0010.

Frankreich (2018):
Programme national de réforme 2018, Premier Ministre, République Française, avril 2018, https:// ec.europa.eu/info/sites/info/files/2018-european-semester-national-reform-programme-france-fr.pdf, letzter Zugriff: 24.09.2018.

Juncker, Jean-Claude (2014):
Zeit zum Handeln – Erklärung in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments vor der Abstimmung über die neue Kommission, Europäische Kommission, 22.10.2014, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-14-705_de.htm.

Juncker, Jean-Claude (2018):
Lage der Union 2018. Die Stunde der europäischen Souveränität. Autorisierte Version der Rede zur Lage der Union 2018, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-speech_de.pdf.

Kingreen, Thorsten (2017):
Ein verbindlicher EU-Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten. Rechtsgutachten für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Forschungsbericht 491, September 2017.

Koll, Willi/Watt, Andrew (2018):
Vertiefung und Konvergenz der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion durch konzeptionelle und institutionelle Reformen der makroökonomischen Koordinierung, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Study Nr. 61, Juni 2018.

Scharpf, Fritz W. (2002):
The European Social Model: Coping with the challenges of diversity, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 40, Nr. 4, 645-670.

Schulten, Thorsten/Müller, Torsten/Eldring, Line (2016):
Für eine europäische Mindestlohnpolitik. Chancen nutzen, Widerstände überwinden, in: Müller, Torsten/Schulten, Thorsten/Van Gyes, Guy (Hrsg.): Lohnpolitik unter europäischer „Economic Governance“. Alternative Strategien für inklusives Wachstum, Hamburg: VSA.


Dieses zunächst vom Institut für Europäische Politik herausgegebene Policy Paper (Nr. 02/18) basiert auf der vom Autor verfassten Studie Soziales Europäisches Semester? Die Europäische Säule sozialer Rechte im Praxistest, IEP Research Paper 2/2018, Institut für Europäische Politik.

 

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Quellen

Europäische Kommission (2017):
Offizieller Text der europäischen Säule sozialer Rechte

 

Europäische Kommission
Zwanzig Grundsätze für ein gerechteres und sozialeres Europa
17. November 2017


Informationen

Europäische Kommission:
Soziale Prioritäten der Kommission Juncker: Dreijahresbilanz
Sozialgipfel für faire Arbeitsplätze und Wachstum, Göteborg, 17. November 2017

 

Europäische Kommission:
Die Europäische Säule sozialer Rechte


Lektüre

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (Hrsg.):
Stellungnahme des Deutschen Vereins zur Europäischen Säule sozialer Rechte
Die Stellungnahme (DV 12/17) wurde am 6. Dezember 2017 vom Präsidium des Deutschen Vereins verabschiedet.

 

Peter Becker:
Europas soziale Dimension. Die Suche nach der Balance zwischen europäischer Solidarität und nationaler Zuständigkeit
SWP-Studie 2015/ S 21, November 2015

 

Gerhard Bosch:
Nach dem Brexit: Vorrang für ein soziales Europa
WSI-Mitteilungen 6/2016

 

Alfred Boss / Klaus Schrader:
Der Irrweg einer „europäischen Arbeitslosenversicherung“
Ifw, Institut für Weltwirtschaft (Hrsg.), Kiel Focus, 11/2018

 

Björn Hacker:
Die Europäische Säule sozialer Rechte: Nutzung und Nutzen
in: Integration, Heft 4/2018, 41. Jahrgang, S. 259-272.

 

Björn Hacker:
Von wegen Transferunion. Eine europäische Arbeitslosenversicherung würde die EU krisenfester machen
IPG, 31. Oktober 2018

 

Björn Hacker:
Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabilitieren
Berlin, J.H.W. Dietz Verlag 2018

 

Martin Höpner:
Illusion: Das Soziale Europa kommt. Warum wir endlich mit liebgewonnenen Mythen brechen müssen
IPG, 16. Oktober 2018

 

Martin Höpner:
Mogelpackung. Warum soziale Individualrechte die Europäische Union nicht sozialer machen
IPG, 25. Mai 2017

 

Andrej Hunko:
Soziale Säule: Sozialpolitisches Placebo
Euractiv, 17. November 2017

 

Torsten Müller / Thorsten Schulten:
Die Europäische Säule sozialer Rechte – ein Schritt zu einer europäischen Mindestlohnpolitik?
A&W blog, 13. Juli 2017

 

Michael Roth:
Von der sozialen Krise zur Sozialunion. Was geschehen muss, damit die EU vom Problem wieder zur Lösung wird.
IPG, 17. März 2014

 

Daniel Seikel:
Was bringt die Europäische Säule Sozialer Rechte?
WSI Policy Brief Nr. 17, November 2017

 

Petra Völkerer:
Soziale Säule mit konkreten Inhalten füllen: Für ein besseres Europa für ArbeitnehmerInnen
A&W blog, 14. November 2017


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