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Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten

22.10.2020
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
München, C. Bertelsmann 2020

Der Globalisierungskritiker Jean Ziegler stellt sich zu Beginn seines sehr emotional geschriebenen Buches als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen vor. In dieser Funktion sei er im Mai 2019 nach Lesbos gereist, zu einem der sogenannten fünf Hotspots der griechischen Ägäisinseln. Kurz zusammengefasst: Er spricht sich zwar nicht prinzipiell gegen Rückführungen aus, aber für das Recht, einen Asylantrag stellen zu können – in dieser Phase sollten die Bewerber in menschenwürdigen Unterkünften leben können, was derzeit in Hotspots nicht möglich sei.

In Hotspots werden die Asylbewerber identifiziert, registriert, dabei werden ihnen Fingerabdrücke abgenommen. Nach Schätzungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge lebten dort im November 2019 etwa 39.000 Flüchtlinge. Doch die Ausstattung dieser Lager sei nur für die „Aufnahme von 6.400 Personen“ (10) ausgerichtet.

Die „Jagd auf die Flüchtlinge“ (11), die von EU-finanzierten türkischen und griechischen Instanzen organisiert werden, beklagt der Autor. FRONTEX, deren Polizisten unter anderem aus Dänemark, Frankreich, Bulgarien und Deutschland stammen, versuche, die grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen und werde auch von den Geheimdienstoffizieren von EUROPOL, die aus den Mitgliedstaaten stammen, unterstützt. Die Aufgabe dieser Institutionen sei es, Terroristen, die sich unter Flüchtlinge mischen, zu enttarnen und abzufangen. Ziegler hält „die Gefahr [für] real“ (12), so seien zwei Täter des Attentats im Pariser Bataclan im Jahre 2015 als Flüchtlinge nach Europa gereist.

Er weist auf eine „Ungereimtheit“ (13) hin: Durch das Schengener Abkommen seien die Binnengrenzen der EU aufgehoben worden, doch Schengen überlebe nur unter der Bedingung, dass die Außengrenzen der Union von FRONTEX streng überwacht werden, um den Andrang der Flüchtlinge zu stoppen. Diese Flüchtlinge stammten meist aus der Mittelschicht, denn man brauche „Geld, um aus seinem Dorf oder seiner Stadt zu fliehen“ (14).

Die Push-Back-Operationen seien „gewaltsame Abdrängaktionen – illegale Zurückweisungen – durch Schiffe der türkischen und griechischen Küstenwachen, der FRONTEX“ (18). Auch die NATO sei Berichten zufolge an den Operationen beteiligt. Ziel sei es, zu verhindern, dass Flüchtlinge in Europa einen Asylantrag stellen. Push-Back-Operationen würden von „den Bürokraten der EU finanziert“ (25), weshalb er sie als „finstere Bürokraten“ (138) bezeichnet. Die von der EU-Behörde European Border Surveillance System (EUROSCUR) organisierte „Menschenjagd“ (30) werde mithilfe von Hochleistungsdrohnen und Radargeräten geführt, um die Bewegungen der Flüchtlinge zu beobachten. Neue Technologien, wie Röntgenscanner, Herzschlagmessgeräte und Atemluftscanner könnten indessen blinde Passagiere in LKWs aufspüren. Die Türkei habe für „Selbstschussanlagen“ (32) an der syrischen Grenze eine EU-Finanzierung erhalten, kritisiert Ziegler. Jede Push-Back-Operation stelle eine „eklatante Völkerrechtsverletzung dar“ (42), weil sie dem Asylbewerber das Recht nehme, seinen Antrag zu stellen.

Wirtschaftsflüchtlinge, die aus Hungersnot fliehen, sollte der Flüchtlingsstatus gewährt werden. Es werde „der Tag kommen […], an dem man die Geltung der Konvention von 1951 so ausweiten muss, dass auch die Hungermigranten den Schutz erhalten, den ihr Leiden verlangt“ (49).

Nach dem Massenexodus im Sommer 2015 hat die Europäische Union Erstregistrierungszentren, Hotspots, errichtet. Die Flüchtlinge sollten auf 28 Mitgliedstaaten verteilt werden. Doch das „Relokalisierungssystem hat bis heute nie funktioniert“ (51), schreibt Ziegler. Die Klage der Europäischen Kommission im Jahre 2017 gegen Ungarn, Polen und Tschechien habe keine Erfolge gezeitigt. Die Hotspots im Ägäischen Meer seien überbelegt, es herrschten dort Missstände und menschliches Elend. Unter Verweis auf Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte weist Ziegler darauf hin, dass das „Recht auf angemessene Ernährung“ (78) in den Hotspots des Ägäischen Meeres massiv verletzt werde. Da er hierzu bisher geschwiegen habe, habe er zur „Verschwörung des Schweigens, das diese Gräuel“ (65) ermöglichte, beigetragen.

Ziegler erinnert an den Entwurf eines Abkommens, das von Bundeskanzlerin Angela Merkel stammte, in dem sich die Türkei verpflichtete, die Asylbewerber wiederaufzunehmen, denen in Griechenland kein Asyl gewährt wurde. Für jeden Asylsuchenden aus Griechenland sollte die EU einen syrischen Flüchtling, der legal in der Türkei lebte, aufnehmen. Ankara sollte bis 2018 rund sechs Milliarden Euro erhalten und die Europäische Union im Gegenzug wieder Dynamik in die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bringen.

Dieses Abkommen habe in der „europäischen Zivilgesellschaft ein vernichtendes Echo“ (96) gefunden. Die französische Regierung, die zunächst ablehnend gegenüber diesem Abkommen war, begnügte sich dennoch damit, die Entscheidung von Angela Merkel „passiv hinzunehmen“ (97). Die Rechnung sei nicht aufgegangen, denn es reisten weiterhin Flüchtlinge nach Europa und die türkische Regierung nutzte die sechs Milliarden Euro nicht dafür, „den syrischen Flüchtlingen einen leichteren Zugang zur Türkei zu verschaffen“ (98), sondern sie habe das Geld für den Bau einer Grenzmauer an der syrischen Grenze von 750 Kilometern ausgegeben. Die Türkei könne die Menschenrechte der Geflüchteten nicht ausreichend schützen, auch wenn dort zu Beginn des Jahres 2020 3,6 Millionen Syrer lebten – für eine zeitlich beschränkte Zeit.

Ziegler kritisiert den Machtzuwachs des European Asylum Support Office (EASO), dessen Beamten die ersten Gespräche mit den Geflüchteten führen und hierüber Akten anlegen. In Anlehnung an die Positionen der Grünen hebt Ziegler hervor, dass die nationalen Behörden „die alleinige Verantwortung dafür haben, dass der Rechtsanspruch auf Asyl in jeder Etappe der Antragsprüfung berücksichtigt“ (101) wird.

Der Autor geht auf die Internationale Konvention über die Rechte des Kindes ein und schreibt, dass 2019 „mehr als 35 Prozent der Flüchtlinge, die in den fünf Hotspots der Ägäis gefangen gehalten werden, Kinder“ (106) sind. Diesen fehle es an angemessenem Trinkwasser, sie seien traumatisiert und sie hätten keinerlei Zugang zu Bildungseinrichtungen.

Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge suchten gegenwärtig „fast 60 Millionen Kinder, Frauen und Männer, darunter 25 Millionen Gewaltflüchtlinge“ (114) internationalen Schutz.

Ziegler gehört nicht zu denjenigen, die eine Rückführung von Geflüchteten gänzlich ausschließen: Er hält sie dann für möglich, wenn sie unter erträglichen Bedingungen in ihre Heimat zurückkehren können, „der Krieg beendet und ein normales Leben dort wieder möglich ist“ (116). Als Beispiel führt er die Rückkehr von mehreren Hunderttausend kambodschanischen Flüchtlingen aus Lagern im Norden von Thailand an. Eine solche Repatriierung benötige Geduld und diplomatisches Geschick.

Hotspots in ihrer gegenwärtigen Form lehnt der Autor ab, weil diese gegen die Menschenrechte verstoßen. Die Europäische Union als eine Wertegemeinschaft höhle gegenwärtig das Asylrecht aus und zerstöre damit ihre eigenen Grundlagen. Die Hotspots dienten einer europäischen Abschreckungsstrategie, die er als „zutiefst unmoralisch“ (140) bezeichnet.

Ziegler bietet nicht wirklich eine Lösung für die Probleme der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, er schlägt jedoch vor, dass den europäischen Staaten, die die Verteilung der Flüchtlinge ablehnen, die „Zahlungen gestrichen werden“ (141) sollten. Jedenfalls gelingt es ihm, mit vielen sehr emotionalen Fallbeispielen die unleugbare Misere des Flüchtlingsproblems in den Hotspots zu verdeutlichen.

 

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