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Steffen Mau: Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

18.06.2020
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Suhrkamp Verlag 2019

Vom 9. auf den 10. November 1989 war Steffen Mau, damals gut zwanzigjährig, als Soldat der Nationalen Volksarmee in Schwerin zum Wachdienst eingeteilt und konnte dort am Radio die Grenzöffnung in Berlin verfolgen. Mit der Beschreibung dieser Szene, in der sich individuelles Erleben und der sich abzeichnende Systemumbruch überlagern, beginnt Mau seine inhaltlich dichte und argumentativ überzeugende Auseinandersetzung mit dem Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Aufgewachsen in einem Rostocker DDR-typischen Neubaugebiet (Lütten-Klein) hat Mau nach der Wende an der Freien Universität Berlin Soziologie studiert; heute hat er eine Professur für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Seiner Studie kommt gegenwärtig besondere Relevanz zu, da in nicht wenigen aktuellen Kommentaren die ostdeutschen Bundesländer als Region beschrieben werden, die in ihrer ökonomischen („Produktivitätsrückstände“), politischen („Distanz gegenüber Institutionen“) und mentalen („Fremdenfeindlichkeit“) Verfasstheit in problematischer Weise von den Gegebenheiten westdeutscher Länder abweicht.

Zumeist sind diese Darstellungen von einer schlichten Lesart modernisierungstheoretischer Annahmen grundiert, denen zufolge die Transformation der früheren DDR absehbar zu einer Angleichung an das westdeutsche Niveau hätte führen sollen. Mau widerspricht derartigen, aus westdeutscher Sicht vorgetragenen Normalisierungserwartungen entschieden. Ausgehend von den strukturellen Differenzen, die in den 1980er-Jahren zwischen BRD und DDR bestanden, sind „viele der [gegenwärtigen] Probleme in Ostdeutschland nicht nur Erblasten des Staatssozialismus […], sondern im Zuge von Vereinigung und Transformation reproduziert, verstärkt oder gar hergestellt worden“ (16). Seiner Analyse, die „absichtsvoll einseitig“ ist, insofern sie besonders auf Dilemmata, Unwuchten und Widersprüche achtet, liegt die These „struktureller Brüche im ostdeutschen Entwicklungspfad“ (14) zugrunde. Dabei sind mit dieser These nicht soziale Pathologien gemeint, sondern Besonderheiten von Sozialstruktur und mentaler Lagerung, die in Ostdeutschland zu einer Form widersprüchlicher Sozialität geführt haben.

Die zentrale Stärke des Buches beruht darin, wie Mau die Binnensicht desjenigen, der den Alltag in der DDR aus eigener biografischer Erfahrung erlebt hat, mit der analytischen Perspektive eines soziologischen Beobachters verbindet, der die Entwicklung der ostdeutschen Gesellschaft im Kontext der dreißigjährigen Einigungsgeschichte interpretiert.

Im ersten Teil des Buches werden in sechs Kapiteln wesentliche Segmente der ostdeutschen Lebenswelt in den 1970er- und 1980er-Jahren beschrieben; Lütten-Klein dient Mau dabei als „Fenster zur Beobachtung“ (25 ff.) des sozialistischen Alltags. Das in den späten 1960er-Jahren errichtete Neubaugebiet mit zuletzt gut 40.000 Einwohner*innen war ein typisches Projekt der Wohnungspolitik der DDR. Sehr funktional in der Verbindung von Wohnen, Dienstleistungen, Einkaufsmöglichkeiten und kulturellen Angeboten war der Stadtteil Ausdruck standardisierter Lebenslagen mit nur geringer Varianz von Lebensformen. In deutlichem Kontrast zur Bundesrepublik gab es in der DDR für die breite Masse der Bevölkerung „kaum wohnbezogene Formen der sozialstrukturellen oder statusmäßigen Segregation“ (37).

Zwar spielte die normative Selbstbindung an gesellschaftliche Gleichheitsziele eine große Rolle – wofür auch die relative geringe Einkommensspreizung stand –, aber der Zugang zu Bildung und Konsumgütern war durch politische Verteilungsmuster überlagert, was in der Tendenz zu Blockaden der sozialen Mobilität führte (43 ff.). Alltagskulturell bildeten sich unter dem Gleichheitsprimat zwei Sphären heraus: der öffentliche Raum als offizieller und kontrollierter Bereich einerseits und andererseits der privatisierte Binnenraum als Rückzugsort gegenüber der politischen Unterordnung im Kollektiv (63 ff.). Dem expliziten Selbstverständnis der DDR als Arbeitsgesellschaft entsprach das Biografiemodell: hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen, frühe Eheschließungen und frühe Elternschaft (mit deutlich höherer Geburtenrate als in der Bundesrepublik) sowie eine sehr hohe Rate an Scheidungen (mehrheitlich von Frauen eingereicht). Die damit einhergehende ausgeprägte Familienorientierung fungierte als Gegengewicht zum Regime der Gesinnungsbildung, das vor allem in Schulen und Ausbildungseinrichtungen hohe, vielfach äußerlich bleibende Anpassungsleistungen verlangte (72 ff.).

Die politische Konstruktion einer DDR-eigenen Identität wäre ohne die innerdeutsche Grenze nicht möglich gewesen. Dabei beruhte der Modus der Identitätskonstruktion – wie Mau hervorhebt – auf einem national konnotierten Selbstverständnis, das sich auf die Idee der Kulturnation und nicht auf das republikanische Konzept der Staatsnation bezog. Der proklamierte Internationalismus blieb weitgehend Fassade; die Gesellschaft der DDR war in ethnischer Hinsicht sehr homogen und die wenigen Ausländerinnen und Ausländer – überwiegend Vertragsarbeiter aus Vietnam, Kuba und Mosambik – lebten sozial separiert (86 ff.). Der Alltag in der DDR war geprägt von der Verschränkung einer umfassenden Organisationsgesellschaft, die alle Bereiche einem politischen Primat unterstellte, und unterschiedlichen Formen einer Schattengesellschaft, in denen sich – zum Teil geduldet – eigene Sozialformen eines spezifischen Klientelismus ausbildeten, der Defizite der offiziellen Konsumversorgung kompensierte und in gewisser Weise zu einer Art Stillhalteabkommen zwischen Herrschenden und Staatsvolk führte (99 ff.). Aber die „privatistische Nischenkultur hatte in diesem Arrangement allenfalls eine Ventilfunktion und war kein emanzipativer Gegenentwurf“ (108 f.).

Der daran anschließende analytische Teil behandelt die zentralen Bruchzonen des mit der Einigung beginnenden Transformationsprozesses (113 ff.). Die kurze Phase zwischen dem mehr und mehr um sich greifenden Zerfall der offiziellen DDR und der mit der Volkskammerwahl im März 1990 erfolgten Weichenstellung für einen Beitritt zur Bundesrepublik mündet für Mau in einer ausgebremsten Demokratisierung (113 ff.). Schon die Wahl selbst stand unter der Dominanz westdeutscher Parteien; das Ergebnis leitete die kollektive Unterordnung unter die Spielregeln der Bonner Politik ein und damit konnten sich „ebenjene etatistischen und nach ‚oben’ gerichteten Orientierungen erneut festsetzen, die man gerade im Begriffe war abzustreifen“ (124).

Die Rechtsform des Beitritts hatte bekanntlich zur Folge, dass das westdeutsche Institutionengefüge als Blaupause für eine Korrektur der Modernisierungsdefizite fungierte, die der DDR nahezu einmütig zugeschrieben wurden (133 ff.). Der Modus der Übernahmepolitik – hier bestätigt Mau die schon früh von Claus Offe (1994, 43 ff.) formulierten Bedenken – erfolgte als Institutionentransfer ohne sonderliche Berücksichtigung bestehender Mentalitäten und zivilgesellschaftlicher Akteure. Der eingeschlagene Pfad einer national grundierten Wiedervereinigung (Habermas 1990, 157 ff.) stand „für eine Unternutzung des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung und für eine Übernutzung des nationalen Potenzials politischer Mobilisierung“ (149). Komplementär dazu glich die ökonomische Restrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft einem „gesellschaftlichen Tsunami“ mit Deindustrialisierung in der Fläche und regionaler Verödung; die umfassende Vermarktlichung ließ die bis dahin geltende Sozialintegration über Erwerbsarbeit und betriebliche Zugehörigkeiten korrodieren (150 ff.). Der sich an den Beitritt anschließende Elitentransfer – in seinem Ausmaß ohne Beispiel unter den anderen mittel- und osteuropäischen Transformationsgesellschaften – führte zu einer „Unterschichtung der alten Bundesrepublik, während der Osten überschichtet wurde“; bis heute werden in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft Führungspositionen in Ostdeutschland zu etwa drei Vierteln von Westdeutschen besetzt (166 ff.).

In der öffentlichen Debatte sind die erheblichen demografischen Umbrüche nach 1990 nicht immer ausreichend wahrgenommen worden; dazu gehören der rapide Geburtenrückgang nach 1990 und die Abwanderung von insgesamt fast 1,8 Millionen Menschen zwischen 1991 und 2013. Weil mehrheitlich Frauen diesen Weg gegangen sind, ist es für die ab 1986 Geborenen zu einem Männerüberschuss gekommen, den Mau als „extreme[…] demografische[…] Fehlstellung“ bezeichnet (186 ff.). Die auch in aktuellen Erhebungen beobachtbaren Einstellungsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind ohne die mit dem Beitritt einhergehende kollektive Entwertung aller Bezüge zu einer DDR-Kultur nicht zu verstehen. Weil in den einschlägigen Debatten – zumal mit Blick auf die Rolle der Stasi – zwischen politischem System und Alltagserfahrungen der früheren DDR nicht unterschieden wurde, waren tradierte Muster ostdeutscher Lebensführung und Soziokultur einer ständigen Problematisierung von Seiten westdeutscher Normalitätsannahmen ausgesetzt und taugten nicht mehr als Ressourcen gesellschaftlicher Anerkennung (200 ff.).

Fazit

Mau hat mit „Lütten Klein“ eine beeindruckende und interpretativ überzeugende Diagnose vorgelegt, die einerseits soziale Deklassierungen und kulturelle Entwertungen herausarbeitet, die die Transformation der früheren DDR bis heute prägen und belasten. Dabei hat er andererseits für das Verständnis von Besonderheiten der ostdeutschen Gesellschaft das Zusammenspiel von historisch tief verankerten Strukturen und Mentalitäten herausgestellt. Legt man beide Perspektiven übereinander, dann wird erkennbar, dass die lange geltende Erwartung einer ‚Normalisierung’ der früheren DDR durch ihre Angleichung an westdeutsche Standards die im Einigungsprozess verstärkten gesellschaftlichen Frakturen ignoriert. Damit wird ebenso erkennbar, in welcher Weise strukturell erzeugte Gemeinschafts- und Sicherheitsverluste den Boden bereiten können für populistische Angebote, die durch Renationalisierung und soziale Schließung Abhilfe gegenüber den Zumutungen einer zunehmend diverser werdenden Gesellschaft versprechen.


Literatur

Habermas, Jürgen (1990): Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII. Frankfurt am Main, Suhrkamp

Offe, Claus (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im neuen Osten. Frankfurt am Main, Campus

 

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