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Bernie Sanders: Unsere Revolution. Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft

27.07.2017
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Autorenprofil
PD Dr. phil. Matthias Lemke
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Born. Berlin, Ullstein Buchverlage 2017

Donald Trump hat die US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 ebenso unerwartet gewonnen wie Hillary Clinton sie in den Augen der meisten Beobachter verloren hat. Die Folgen des Wahlausgangs sind bekannt und in täglicher Empörungsroutine auf Twitter zu besichtigen. Entsprechend lautet die Frage, die bei der Lektüre dieses Buches im Hintergrund immer irgendwie mitschwingt: Wäre Bernie Sanders der bessere Kandidat gewesen? Hätte seine Kandidatur für die Demokraten Trump verhindert? Begibt man sich auf die lange, aber keineswegs langatmige Reise durch die knapp 460 Textseiten des New York Times-Bestsellers, so stößt man auf eine ausgewogene Mischung aus Autobiografie, Gegenwartsdiagnostik und politischer Programmatik.

Sanders, so lernt man, wuchs als Kind polnischer Einwanderer in einfachen Verhältnisse in Brooklyn auf. Dort verbrachten er und sein Bruder ihre gesamte Kindheit. Als einschneidend beschreibt Sanders seinen Weggang aus New York nach Chicago: „Es war gegen Mitternacht am Flughafen LaGuardia. Ich war neunzehn Jahre alt und trat meine erste Flugreise an, mit dem billigsten Ticket, das ich hatte ergattern können, nach Chicago. Ich verabschiedete mich von meinem Vater; ängstlich und voller Bedenken ging ich von zu Hause fort, um an der University of Chicago zu studieren.“ (26) Die Aufnahme eines Studiums der Soziologie, Geschichte und Psychologie war deshalb einschneidend, weil Sanders sich damit in ein Umfeld begab, das hauptsächlich aus Akademikerkindern bestand, zu dem er sich selbst nicht zugehörig fühlte. Nicht nur deswegen wurde das Studium zu einem „persönlichen Kampf“ (27), sondern weil Sanders sich nicht nur auf seine Studienfächer beschränkte, sondern auch Ökonomie, Politik und amerikanische Geschichte studierte. Zudem begann er, sich politisch zu engagieren: „An der Universität wurde ich Mitglied der Young People’s Socialist League (YPSL), der Student Peace Union (SPU) und des Congress of Racial Equality (CORE).“ Politik, so die Einsicht, die sich manifestierte, war weder Zufall noch bloßer Protest – für ihn war sie fortan der Versuch eines gestaltenden Eingriffs in „eine Dynamik aus Ursache und Wirkung“ (29), wie sie sich ihrerseits entlang der sozialen, ökonomischen etc. Strukturen einer Gesellschaft entfaltet.

Schon bald bekam Sanders die Gelegenheit, Politik auch jenseits der Universität zu praktizieren. Von Chicago aus führte sein Weg weiter nach Nordosten, in den kleinen Bundesstaat Vermont, wo er ab 1968 dauerhaft einen Wohnsitz nahm und wo, wie er es beschreibt, sein „politisches Leben“ (37) begann. Egal, ob Sanders zunächst für die Liberty Union für den Senat oder für den Gouverneursposten kandidierte, immer wieder finden sich Hinweise auf lokale Organisationsformen und ausgiebige Diskussionsrunden als Grundpfeiler der jeweiligen politischen Kampagnen. Allerdings führte die Randständigkeit der Partei, für die Sanders kandidierte, auch dazu, dass seine Kampagnen zwar mit der Zeit von zunehmendem, nie aber von politischem Erfolg gekrönt waren, der in ein Amt oder Mandat gemündet wäre. Das änderte sich erst, als er 1981 als unabhängiger Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von Burlington antrat – und unerwarteterweise gewann. Mit dieser Kampagne legte er gleichsam den Grundstein für die Progressive Party, die sich auf Staatsebene von Vermont zu einer veritablen Alternative zu Republikanern und Demokraten entwickelte. 1990 folgte dann die Wahl ins Repräsentantenhaus und 2006 in den Senat – in beiden Fällen jenseits des etablierten bipolaren Parteienspektrums.

Am Ende dieser Kette steht – in der Dramaturgie des Buches unweigerlich – die Verkündung der Kandidatur für das Präsidentenamt, die Sanders „am 26. Mai 2015 in Burlington, Vermont, vor einer Menge von fünftausend Menschen“ (62) bekannt gab. Vier Gründe waren für diesen Schritt ausschlaggebend. Seine Kandidatur jenseits des etablierten Mainstreams der Demokratischen Partei habe durch die Ausweitung des Angebotsspektrums zu einer Demokratisierung der Wahl beigetragen. Es habe darüber hinaus kaum erkennbare Interessent*innen für eine Kandidatur aus dem progressiven Spektrum gegeben: Während Elizabeth Warren eine Kandidatur ausgeschlossen habe, wäre es für Martin O’Malley, dem ehemaligen Gouverneur von Maryland und Bürgermeister von Baltimore, so gut wie aussichtslos gewesen, die Stimmen des progressiven Lagers auf sich zu vereinen. Zudem sei die Kandidatur ein Katalysator für eine intensivere mediale Wahrnehmung der eigenen politischen Anliegen und schließlich sei es an der Zeit gewesen zu testen, ob eine politische Position jenseits von Demokraten und Republikanern landesweit vermittelbar sei. Getragen worden ist die Kampagne von einer Graswurzelbewegung, von der Bereitschaft zuzuhören und vom „Konzept einer radikalen ‚Moral‘“ (76), die unter anderem danach fragte, ob es vertretbar ist, dass sich Millionen alter Menschen mit Armut und mangelhafter medizinischer Versorgung konfrontiert sehen; ob es in Ordnung ist, dass 52 Prozent des neugenerierten Einkommens an das oberste Prozent der Einkommensskala fließen; und warum die Vereinigten Staaten unter den entwickelten Ländern das einzige sind, die weder bezahlte Elternzeit noch bezahlte Krankentage gesetzlich vorschreiben.

Damit ist im Prinzip schon die Brücke zur Gegenwartsdiagnose geschlagen, für die alleine bereits die Lektüre des Bandes lohnt. „Für mich war das Entscheidende“, so Sanders im Zusammenhang mit der Erklärung seiner Kandidatur für das Präsidentenamt, „dass unser Land in einer enormen Krise steckte: der anhaltende Niedergang der Mittelschicht, ein groteskes Ausmaß von Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, eine hohe Arbeitslosenquote, eine verheerende Handelspolitik, ein mangelhaftes Bildungssystem und kollabierende Infrastruktur. Und obendrein brauchten wir wagemutige Maßnahmen, um den Klimawandel zu bekämpfen, damit dieser Planet für unsere Kinder und Enkel gesund und bewohnbar bleibt.“ (66) Diese Quintessenz seiner Gegenwartsdiagnose der US-amerikanischen Gesellschaft geht einher mit seinen politisch-programmatischen Forderungen. Und vieles von dem, was sich da findet, klingt aus europäischer Sicht nachgerade wie eine Selbstverständlichkeit. Egal ob es sich um die Forderung nach einer gerechten Besteuerung großer Einkommen, einer allgemeinen Krankenversicherung, bezahlbarer höherer Bildung, einer Straf- und Einwanderungsrechtsreform, einer angemessenen Klimapolitik jenseits fossiler Energieträger oder aber um die Kritik an zu großen Medienkonglomeraten handelt – fast durchweg sind es Forderungen und Positionen, die aus europäischer Perspektive (noch) einen gesellschaftlichen Konsens markieren, die aber in den USA hochgradig umstritten sind. Aus dieser Warte liest sich Sanders Programmatik als Beschreibung einer zwar liberalen, westlich orientierten Demokratie, die jedoch aufgrund der Auswüchse ihrer kapitalistischen Wirtschaft immer mehr verroht und schließlich zu zerfallen droht.

Über all diesen konkreten Zielen, die die USA vor dem gesellschaftlichen Zerfall bewahren sollen, schwebt die Vorstellung einer beständig zu erneuernden demokratischen Gemeinschaft, die sich derzeit wie noch nie der Herausforderung ausgesetzt sieht, dass ökonomisch einflussreiche Kräfte einer Angleichung der Lebensbedingungen aktiv entgegenwirken. Spätestens nach der Wahl Donald Trumps wird wohl niemand mehr ernsthaft diese Position als Klassenkampfrhetorik oder überspitzte Gegenposition zum Neoliberalismus abtun können, die mit ihrer Kritik an der zersetzenden Wirkung neoliberaler Oligarchien noch fast zu zaghaft erscheint. Vielmehr, so wird man im Lichte der Präsidentschaft Trumps feststellen müssen, handelt es sich um eine ebenso aufrichtige wie konstruktive, zukunftsweisende politische Position, die allerdings im Jahr 2016 nicht mehrheitsfähig war. Warum das der Fall gewesen sein mag, könnte Gegenstand einer weiteren Studie sein.

Das alles jedenfalls führt zurück zum Anfang. Doch wie genau lautet nun die Antwort auf die Frage nach der Qualität des Kandidaten Sanders? Sanders persönliche wie politische Aufsteigerbiografie spiegelt das unermüdliche Anrennen, das Nicht-Aufgeben, das Kämpfen ebenso glaubhaft wider wie seine Distanz zum politischen und ökonomischen Establishment. Seine politische Agenda zielte zweifelsohne auf die Verbesserung der Lage jener Bevölkerungsgruppen ab, die sich als Globalisierungs- oder Modernisierungsverlierer beschreiben lassen und die angesichts der Alternative Trump oder Clinton überwiegend für Ersteren stimmten. Insofern besteht hinreichend Grund zu der Annahme, dass Sanders in der Tat der bessere Kandidat gewesen wäre, auch wenn sein progressives – oder in anderen Worten: klassisch sozialdemokratisches – Programm sicherlich auch kein Selbstläufer gewesen wäre.

Tragisch ist, dass mit dem Scheitern seiner Kandidatur und dem Wahlsieg Trumps nicht nur die US-amerikanische Gesellschaft, sondern auch die demokratische politische Kultur und die sie tragenden Institutionen empfindlich geschwächt worden sind und täglich weiter ausgehöhlt werden. Was sich bei Sanders im Jahr 2016, dem Entstehungsjahr der amerikanischen Originalausgabe, als treffender politischer Aufruf liest, nämlich, dass es gelte, die Demokratie nicht nur „aus Zuschauerperspektive“ zu betrachten, sondern selber zu handeln und sie zu gestalten, könnte sich für die Post-Trump-Ära als obsolet erweisen. „Ja, wir können die heute herrschende unersättliche Gier beenden und eine Wirtschaft aufbauen, die der Armut ein Ende setzt [...]. Ja, wir können eine lebendige Demokratie schaffen, in der informierte Staatsbürger [...] debattieren.“ (456) – Natürlich geht all das, nur sind nach dem 8. November 2016 die Chancen dafür signifikant gesunken.

 

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Literatur

Jonathan Tasini
The Essential Bernie Sanders and His Vision for America
Vermont, Chelsea Green Publishing 2015


Aus den Denkfabriken

Sarah Chayes / Bernie Sanders
U.S. Senator Bernie Sanders on Threats to Democracy
Carnegie Endowment for International Peace, 22. Juni 2017


In diesem Livemitschnitt einer öffentlichen Veranstaltung spricht Bernie Sanders über den Aufstieg des Autoritarismus und die Bedrohungen der Demokratie in den USA und anderen Teilen der Welt.


Rezensionen

Snyder

Timothy Snyder
Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand
Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. München, C.H.Beck 2017

Dass sich der renommierte Osteuropa-Forscher Timothy Snyder genötigt sieht, dieses Buch zu schreiben, ist ein sehr schlechtes Zeichen: Es ist nicht auszuschließen, dass die USA 2017 die vorerst letzten freien Wahlen erlebt haben. Ist diese Befürchtung Snyders zu dramatisch? 1932 in Deutschland, 1946 in der Tschechoslowakei und 1990 in Russland hätten die Bürger in der Mehrheit ebenfalls nicht geglaubt, so sein Hinweis, dass sie für lange Zeit keine Möglichkeit mehr haben würden, frei zu wählen. Kurz und knapp erläutert er, woran zu erkennen ist, ob die USA Gefahr laufen, eine ähnliche Erfahrung zu machen, und was dagegen unternommen werden kann.
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Klein Cover

Naomi Klein
Gegen Trump. Wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Sonja Schuhmacher und Claus Varrelmann. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2017

Nein, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist bei genauerem Hinsehen kein Schock, sondern die logische Konsequenz einer seit Jahrzehnten andauernden Entwicklung, ist Naomi Klein überzeugt: Der Neoliberalismus sei damit an einem Kulminationspunkt angekommen. Trump und sein Team hätten jetzt dem öffentlichen Sektor und dem Gemeinwohl den Krieg erklärt, die Gesellschaft werde gespalten und die Angst vor den „Anderen“ geschürt, der Klimawandel geleugnet und die Macht der Konzerne weiter vergrößert. Klein will mit ihrem Buch daher die Schockresilienz der Gesellschaft fördern.
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