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Jaime E. Settle: Frenemies. How Social Media Polarizes America

16.09.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Cambridge, Cambridge University Press 2018

Freundfeinde. Wie die sozialen Medien Amerika polarisieren

Viele von uns haben die Vermutung, dass soziale Medien erheblich zu den Turbulenzen beitragen, in denen unsere demokratischen Systeme derzeit gefangen scheinen. Verlässliche empirische Untersuchungen zu diesen hausgemachten Thesen gibt es bisher wenige. Nun hat Jaime E. Settle eine solche vorgelegt und sie zu lesen, ist streckenweise atemberaubend.

Die Autorin versucht das Beste aus drei Disziplinen (Kommunikations- und Politikwissenschaft sowie Psychologie) zu verbinden, was ihr in ausgesprochen guter und wohlstrukturierter Weise gelingt. Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt. Zunächst werden fundamentale Veränderungen in der politischen Kommunikation durch soziale Medien besprochen, danach die genaue Funktionsweise von Facebook als politischem Medium analysiert. Anschließend stellt die Autorin ein eigenes theoretisches Interpretationsmuster vor („END-Framework“, 50 ff.), anhand dessen sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen klassischer politischer Kommunikation und den veränderten Gegebenheiten durch soziale Medien vergleicht. In den Kapiteln 4 bis 8 werden dann die einzelnen Argumente der Kernthese im Detail empirisch analysiert und diskutiert.

Settle ist davon überzeugt, dass Facebook ein politisches Medium ist. Der Mechanismus, den sie aufdeckt, wirkt aber anders, als es sich die meisten von uns vorstellen und daher sollte man sich ihrer Meinung nach von den eher klassischen politikwissenschaftlichen Analysekategorien (Agenda Setting etc.) verabschieden. Sie versucht nachzuweisen, dass das scheinbar Unpolitische auf Facebook hochpolitisch werden kann und wesentlich zur Polarisierung des politischen Konflikts in den USA beiträgt. In ihrem Fokus stehen dabei nicht die politisch Engagierten und Interessierten, sondern die bei weitem größere Mehrheit der Menschen in den USA, die sich selbst als politisch mäßig oder gar desinteressiert bezeichnet. Settle glaubt, dass vor allem diese Menschen im Vergleich zu früher heute stärker polarisiert sind und Facebook hieran eine erhebliche Mitschuld trägt.

Das satt mit Empirie unterfütterte Argument verläuft folgendermaßen: Durch die Einführung des Newsfeeds bei Facebook wurde in Teilen eine alte, überwunden geglaubte Medienwelt wiederhergestellt: die des/der ‚gefangenen‘ Nutzers/Nutzerin. Es ist nun wieder ein Unternehmen, das den Leuten – vermittelt durch einen Algorithmus – vorsetzt, was sie medial konsumieren. Anders als bei Zeitungen oder wenigen Fernsehkanälen in der Zeit vor der Privatisierung des Mediensektors handelt es sich aber nicht mehr um professionelle, ‚kuratierende‘ Gatekeeper. Facebook mischt in viel stärkerem Maße politische Neuigkeiten mit persönlichen Informationspartikeln von Freunden und Freundesfreunden, denn Letzteres ist der Grund, warum Menschen überhaupt bei Facebook sind. Ein unpolitisches Publikum, welches früher politischen Medien und Neuigkeiten bequem ausweichen konnte, wird nun per Facebook mit Politik-Nachrichten ‚druckluftbetankt‘. Die eher Desinteressierten nehmen also durch Facebook Politik heute stärker wahr als dies früher der Fall gewesen wäre.

Die politischen Nachrichten selbst, die Facebook in den Newsfeed einspeist, werden nach wie vor von den ‚üblichen Verdächtigen‘ zirkuliert – nur heute radikaler als früher. Jeder von uns weiß, dass politisch involvierte Menschen wie Medienmacher und politische Eliten per se polarisierter sind als der Großteil der Bevölkerung. Ihr direkter Einfluss auf das Gros der Menschen ist aber vergleichsweise schwach. Die Durchschnittswähler*innen halten sich weiterhin von den polarisierten Medien selbst eher fern: „The overall impact of exposure to partisan media is relatively weak.“ (90) Aber nun wirkt Facebook wie ein Hebel. Diese im Vergleich zu früher intensiver polarisierten Nachrichten kommen verstärkt an die politisch Desinteressierten heran, weil Facebooks Algorithmus diese bevorzugt herausfischt.

Und dabei geschieht aus Sicht von Settle Folgendes: Die Desinteressierten lernen auf Facebook in der Melange aus politischen Nachrichten und persönlichen Informationsschnipseln der Facebook-‚Freundesfreunde‘ die sehr oft unpolitisch gemeinten Statusmeldungen in einem von den polarisierten Newsfeed-Beiträgen eher beiläufig gelernten politischen Rahmen zu interpretieren. Überspitzt ausgedrückt: Postet jemand ein Bild von seinem schönen neuen Gewehr, seinem tollen SUV oder von einem fantastischen, bio-dynamisch produzierten Mittagessen, dann werden all diese millionenfach unablässig produzierten Statusmeldungen plötzlich ‚politisch‘ gelesen.

Dass ein solcher ‚Lerneffekt‘ nachweisbar ist, will die Autorin durch die akribische Analyse der von ihr Befragten belegen. Hier verknüpft sie die veränderte Medienkonstellation mit wichtigen Erkenntnissen der Psychologie. In den Köpfen vieler Menschen bildet sich infolge eine persönliche Einstellung gegenüber den wahrgenommenen Postings auf Facebook – egal, ob diese politisch gemeint sind oder nicht. Kommen sie dabei aus dem verfeindeten Lager, dann werden sie abgelehnt. ‚Denen, die so etwas (Auto, Gewehr, Bio-Möhren) posten, kann man nicht trauen. Sie sind politisch fehlgeleitet und schlecht informiert‘ – so könnte exemplarisch die Einstellung, die aus dem beschriebenen Mechanismus hervorgeht, aussehen. Und genau so haben die Menschen in ihrem Sample auch geantwortet. Entsprechend der ingroup-Theorie der Psychologie heizen permanente Wahrnehmungen dieser Art latent aggressive Stimmungen in der Bevölkerung auf. Das Land polarisiert sich weiter.

Man könnte also mit Jaime Settle argumentieren, dass die politische Polarisierung in den USA viel weniger entlang von inhaltlichen Streitfragen verläuft und mehr über die Ablehnung von Personen generiert ist. Dies würde auch erklären, warum zum Beispiel die Demokraten mit ihren objektiv durchaus auf weite Teile der Wählerschaft Donald Trumps zugeschnittenen Politikvorschlägen nicht durchdringen. Die Menschen interessieren sich hier nicht für die inhaltliche Ebene. Sie reagieren menschlich ablehnend auf die ‚fremde‘ Gruppe.

Settle kann mit ihrer Untersuchung nicht erklären, wie die ursprüngliche Polarisierung entstanden ist. Dies möchte sie nach eigenem Bekunden auch nicht tun. Hier gibt es allerdings zahlreiche Theorieansätze anderer Kolleginnen und Kollegen, exemplarisch sei auf Steven Levitsky und Daniel Ziblatt („Wie Demokratien sterben“, 2018) verwiesen.

Facebook ist kein deliberatives Forum zur Diskussion von Politik. Im Gegenteil: So wie Facebook derzeit wirkt, stellt es für die Autorin eine Gefährdung der Demokratie dar – wenngleich der Mechanismus aus ihrer Sicht anders wirkt als derzeit diskutiert wird. Genau hier bietet sich aber auch eine Chance, Probleme zu heilen. Im letzten Kapitel führt Settle ‚entlastende Fakten‘ gegenüber Facebook auf. So sieht sie die letztendliche Ursache für das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer in ganz grundsätzlichen psychologischen Mechanismen, für die Facebook nicht verantwortlich ist, die es ‚nur‘ befeuert: „Social media technology did not create the processes that lead to psychological polarization. Rather, it is the way in which people use technology that has amplified the cognitive and affective biases to which we already are predisposed.“ (237) Sehr konstruktiv sind daher konkrete Vorschläge ihrerseits, wie das Problem angegangen werden könnte – zum Beispiel durch Veränderungen im Algorithmus (Nüchternheit vor Spektakulärem im Feed) oder durch die erzwungene Einführung von Moderatoren, die im Sinne des Wortes für eine moderatere Verhaltensweise sorgen könnten.

Für den Vergleich zur Bundesrepublik sollten die Leser*innen im Hinterkopf behalten, dass die Durchdringung mit Facebook in Deutschland (39 Prozent der Bevölkerung) bei weitem nicht so stark ist wie in den USA (67 Prozent der Bevölkerung).

Der Text ist insgesamt trocken, aber gut lesbar geschrieben. Nur manchmal merkt man, dass es sich um die kumulative Zusammenfassung einer ganzen Reihe von Einzelaufsätzen handelt, die im Rahmen der Post-Doc-Phase durchgeführt wurden. Jedes einzelne Kapitel enthält ein brauchbares Zwischenfazit, sodass man bereits nach 20 Minuten einen guten Überblick über die zentralen Aussagen und Befunde des Buches verfügt.

Methodisch verfolgt die Autorin einen mixed method-Ansatz. Zunächst stellte sie ein großes Sample an Facebook-Nutzern auf (n=3.030), die mehrfach zu bestimmten Aspekten befragt wurden und die den Kern der Untersuchung bilden. Dabei kamen unter anderem gut durchgetestete psychologische Fragebatterien zum Einsatz. In drei Einzelstudien wurden fiktive Facebook-Posts auf ihre politische Wirkung hin untersucht. Im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2016 fanden zwei weitere Unterstudien statt, die sich mit der Parteiidentifikation und dem politischen Wissen der Befragten beschäftigten. Zuletzt gab es noch eine laborbasierte Untersuchung mit Studierenden. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgt ebenso sorgsam und gründlich wie die des gesamten Methodensets.

Allenfalls die sehr häufige Betonung des von ihr entwickelten END-Theorierahmens wirkt auf die Dauer ermüdend. Man kann der jungen Kollegin zugutehalten, dass sie für ihren Ansatz werben möchte.

Das Buch ist sehr lesenswert. Von dieser Kollegin wird in Zukunft noch zu hören sein.

 

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München, Deutsche Verlagsanstalt 2018 (DVA Sachbuch)

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