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Die Energiewende ist ein Friedensprojekt! Sie bedeutet nicht nur die Sorge um eine nachhaltige Stromversorgung

30.04.2019
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Prof. Dr. Claudia Kemfert
Autorenprofil
Dr. phil. Jörg Radtke

Wenn die Energiewende gelingen soll, muss auch der Verkehr auf klimafreundliche Technologien umgestellt werden. Foto: Capri23auto / Pixabay

Wenn die Energiewende gelingen soll, muss auch der Verkehr auf klimafreundliche Technologien umgestellt werden. Foto: Capri23auto / Pixabay

 

1. Hoffnungsträger oder Albtraum Energiewende?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird angesichts des immer bedrohlicheren Klimawandels mehr und mehr deutlich, dass in allen Gesellschaftsbereichen eine weitreichende gesellschaftliche Transformation notwendig sein wird, um die Grundlagen und das Funktionieren unseres Zusammenlebens weiterhin zu sichern. Doch was bedeutet das konkret?

In diesem Beitrag betrachten wir das Beispiel der Energiewende. Diese verstehen wir nicht nur als nationales Nachhaltigkeitsprojekt, sondern stellen auch die globale Frage: Was kann eine globale Energiewende bewirken und vor allem: Wie kann sie erreicht werden? Über Stromerzeugung hinaus betrifft Energietransformation auch einen Wandel im Wärme- und Verkehrssektor. Hier hat sich bisher wenig getan, ein Umbruch bei der Mobilität zeichnet sich aber derzeit ab. Nach den Anfängen der Energiewende in Deutschland und einigen anderen Ländern kommt es nun zur Belastungsprobe: Kann eine umfassende Transformation gelingen? Lässt sich diese auch finanzieren? Welche konkreten Vorteile würden sich daraus für die Bürgerinnen und Bürger ergeben?

Wir argumentieren, dass die Energiewende in Industrieländern wie Deutschland im Grunde schneller voranschreiten könnte und gleichzeitig auch dem zukünftigen Wohlstand dienen kann. Das gelingt aber nur, wenn das Themenfeld nicht länger ein Nebenschauplatz in der öffentlichen Wahrnehmung bleibt, sondern wirklich ernst genommen und aktiv von Politik, Energiewende-Unternehmen, Verbänden sowie Bürgerinnen und Bürgern gestaltet wird. Nur so werden Alternativen zu den vorherrschenden Logiken der alten Energiewirtschaft geschaffen.

Global betrachtet kann die Energiewende als Friedensprojekt dienen, denn der Kampf um die Ressourcen verliert eine gewichtige Grundlage, wenn die Abhängigkeit von fossilen Energiequellen verloren geht. Der Ausbau erneuerbarer Energien als dezentrale Energieerzeugung schafft Wohlstand in allen Regionen der Welt, auch in jenen ohne Zugang zum Stromnetz.

Schließlich drängt die Zeit: Wenn wir jetzt nicht mehr Verantwortung übernehmen – wie es nun Jugendliche in ganz Europa vor den Parlamenten vehement einfordern –, dann wird am Ende ein Preis zu zahlen sein, der deutlich mehr umfasst als hohe Stromkosten.

 

2. Die Ausgangslage in sieben Thesen

1. These: Der Klimawandel ist per se ungerecht. Seine größten Verursacher sind die reichsten Profiteure der fossilen Energien, und diese haben am wenigsten mit seinen Folgen zu kämpfen. Die größten Klimaschäden treffen jene, deren Treibhausgasemissionen am allerniedrigsten sind. Hinzu kommt, dass die Emissionen dort zu Buche schlagen, wo produziert, aber nicht dort, wo konsumiert und verbraucht wird. Kritik an dieser Situation üben nicht nur Wissenschaftler*innen, soziale oder politische Aktivist*innen: Auch dem Papst ist es ein Dorn im Auge, dass die Ärmsten der Welt die Folgen eines Energieverbrauchs tragen müssen, den die wohlhabenden Industrieländer zu verantworten haben und nicht zu ändern bereit sind.

2. These: Die Energiewende ist unausweichlich. Das Ende des fossilen Zeitalters und die Dekarbonisierung der Wirtschaft sind nicht aufzuhalten. Die Kosten für die erneuerbaren Energien werden weiter sinken, die wirtschaftlichen Chancen sind enorm. Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien. Die umfassende Energietransformation aller Sektoren (Strom, Wärme, Verkehr) wird ebenso unumgänglich sein wie die Digitalisierung, Industrie 4.0 und eine Agrarwende. Dieses Zukunftsmodell stößt auf Angst und zeitigt negative Zukunftsvisionen.

3. These: Deutschland kann ein Vorbild sein. Wenn Deutschland nicht nur Klimaziele formuliert, sondern auch tatkräftig und entschlossen konkrete Maßnahmen ergreift, um diese Ziele zu erreichen, dann kann von dem im Weltmaßstab kleinen Land in seiner Vorbildfunktion große Wirkung ausgehen – nicht zuletzt als Friedensstifter. Denn die meisten aktuellen Kriege sind schon heute Konflikte um mangelnde Ressourcen – und Energie ist eine der wichtigsten ökonomischen Ressourcen aller Staaten. Wer hier innovative Ideen und zukunftsweisende Impulse liefert, kann so manchen Konflikt aus der Welt schaffen. Wer sich nicht um Ölquellen streiten muss, weil Solarzellen auf den Häuserdächern die regionale Wirtschaft beflügeln, findet vielleicht auch friedliche Wege für ein fruchtbares soziales Miteinander. Erneuerbare Energien sind nicht nur Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung anderer Länder, sondern auch eine wertvolle Antriebskraft für die deutsche Wirtschaft. Das Land der Erfinder und Ingenieure könnte auf diese Weise Energie und Frieden in der Welt verbreiten.

4. These: Die Erneuerbaren sind eine globale Option. Die Internationale Agentur für erneuerbare Energien rechnet gerade vor, dass bis 2050 regenerative Energiequellen bis zu 86 Prozent des weltweiten Bedarfs bereitstellen könnten, selbst wenn ein starker Zuwachs durch den zusätzlichen Bedarf – verursacht durch mehr Elektromobilität, die Herstellung von Wasserstoff oder für den Wärmesektor einkalkuliert wird. Erneuerbare Energien sind inzwischen so billig geworden, dass sich sogar ein armer Bauer im afrikanischen Hinterland Solarzellen aufs Hüttendach schrauben kann und zum ersten Mal in seinem Leben Strom hat. Gerade aufgrund kleinskalierter Optionen wie Photovoltaik oder Mikro-Biomasseanlagen stellen erneuerbare Energien eine gute Alternative zu den Großregimen der Kraftwerke dar. Hierbei wird in vielen Ländern ein Sprung über die fossilen Energieträger hinweg zu bewerkstelligen sein: Ohne Umweg über Kohle oder Atomkraft können Erneuerbare-Energie-Systeme aufgebaut werden. Dabei kann von den derzeit raschen Fortschritten bei der Technologieentwicklung profitiert werden. Viele Länder bringen gute Voraussetzungen mit (Sonneneinstrahlung, Windverhältnisse, Geothermie) und über die Entwicklungshilfe oder Programme von Weltbank und IWF sollten lokale und nationale Anstrengungen zur Etablierung erneuerbarer Energien endlich stark unterstützt werden, denn die fossile Energiewirtschaft tritt beim Aufbau neuer Energiesysteme als mächtiger Konkurrent auf.

5. These: Die globale Energiewende ist dezentral. Dass die Energiewende global, dezentral und partizipativ funktioniert, zeigt ein Start-up-Unternehmen aus Berlin: Es verkauft in Afrika Solaranlagen, zusammen mit kleinen Batterien. Abgerechnet wird mittels digitaler Technik. Wenn man das Unternehmen besucht – welches schon lange kein Start-up mehr ist und mittlerweile über 700 Beschäftigte hat, Tendenz stetig steigend – kann man auf einem großen Bildschirm all die Solarenergienutzer in Afrika bestaunen, die sich im Internet mit einem Foto präsentieren. Die Menschen vor Ort sind stolz darauf, ihren Strom selbst zu produzieren, sie verkaufen ihn an ihre Nachbarn und speichern ihn, um auch abends kochen, fernsehen oder im Internet surfen zu können. So funktioniert die Energiewende dezentral, sie stärkt Wohlstand, schafft Partizipationsmöglichkeiten und erhöht so die direkte Teilhabe.

6. These: Die globale Energiewende steckt noch in den Kinderschuhen. Weltweit gesehen spielen erneuerbare Energien bei der Energieproduktion immer noch eine untergeordnete Rolle. Die mit Abstand wichtigste Energiequelle ist hier die Wasserkraft, die nicht immer als besonders umweltverträglich eingestuft werden kann. Außer einigen Leuchtturm-Projekten und einzelnen Maßnahmenprogrammen sind erneuerbare Energiesysteme – erst recht bezogen auf den Wärmesektor und die Mobilität – eher die Ausnahme als die Regel. Westliche Industrieländer müssen sich hierbei als Vorbild verstehen und das nicht nur vor der eigenen Haustür, indem klimaschädliche Produktion verlagert oder Investitionsgeschäfte getätigt werden, welche den Raubbau in anderen Ländern unterstützen (und dies betrifft auch die Beschaffung von Rohstoffen für Photovoltaik, Speicherzellen und so weiter). Vielmehr braucht es auch Investitionsprogramme, die sich alternativen Energiesystemen weltweit verschreiben und als ernstzunehmende Optionen gehandelt werden können. Der Aufstieg populistischer Kräfte wie etwa in Brasilien erschwert diese Handlungsmöglichkeiten zusehends, aber kontinuierliche Bestrebungen einzelner Projekte, Unternehmen und öffentlicher Förderung bleiben nicht ohne Wirkung und auf lokaler Ebene sind Erfolge allerorten sichtbar.

7. These: Die Energiewende ist weit mehr als eine technische Option. Ob in den USA oder in Afrika, Indien, China oder Deutschland: Die erneuerbaren Energien und der Klimaschutz sorgen überall auf der Welt für Bildung und Wohlstand. Die Energiewende entschärft geopolitische Konflikte und verhindert Kriege um Ressourcen. Die Energiewende bietet Menschen, die sonst mangels Perspektive aus ihrer Heimat flüchten müssten, eine Zukunft und Existenzgrundlage. Die Energiewende sorgt dafür, dass Strom bezahlbar wird, Kinder einen Schulabschluss erzielen und Frauen eine Ausbildung absolvieren können. Kurz: Die Energiewende ist die wichtigste Antwort auf die in aller Welt schwelenden Konflikte: den Terror, die Angst und die Armut.

 

2. Herausforderungen für Deutschland

Ausgerechnet in Deutschland sind nicht alle Weichen auf schnelle Fahrt zum wahrscheinlich inzwischen utopischen, aber immer noch wichtigen Zwei-Grad-Ziel gestellt. So wird das Klima-Musterländle das selbst gesteckte Klimaziel einer 40-Prozent-Minderung des CO2-Ausstoßes bis 2020 nicht erreichen. Der Emissionshandel war bisher aufgrund des niedrigen CO2-Preises nahezu komplett wirkungslos. Nun steigt er aufgrund von Reparaturmaßnahmen zwar etwas an, doch die Lenkungswirkung ist noch immer gering. Von strukturiertem Kohleausstieg kann bisher nicht die Rede sein. Wegen lautstarker Lobby-Proteste wagt man nicht mal simple, aber wirkungsvolle Maßnahmen wie eine Kohlesteuer. Das sonst so innovative Autoland Deutschland hat in der Paradedisziplin nachhaltige Mobilität erstaunlich wenige Erfolge vorzuweisen. Im Gegenteil: Der VW-Abgasskandal schadet dem Ansehen deutscher Umweltpolitik weltweit. So ist die Bundesregierung mehr denn je gefordert, gegen alle widerläufigen Wirtschaftsinteressen Klimaschutzmaßnahmen durchzusetzen. Hierbei scheint es so, als ob einige Unternehmen sogar mehr Druck erzeugen als die Politik selbst: Die Allianz der RE-100-Unternehmen hat sich dem Ziel verschrieben, zu einhundert Prozent auf erneuerbare Energien zu setzen – darunter befinden sich zahlreiche internationale Großkonzerne. Doch diese Energien müssen auch irgendwo erzeugt werden, was den Handlungsdruck als direkter Rückkopplungseffekt zur Energieproduktion entsprechend erhöht.

Deutschland wird in den vor uns liegenden 2020er-Jahren vor allem vor drei Herausforderungen stehen: dem Kohleausstieg, dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Fortschritten bei der Verkehrs- und Wärmewende.

 

3. Der Kohleausstieg

Auch wenn der geplante Kohleausstieg nicht von heute auf morgen zu vollziehen ist:

Die Erfüllung der Klimaschutz-Ziele und die Umsetzung der Energiewende dulden keinen Aufschub. Der Kohleausstieg muss heute eingeleitet und spätestens in den kommenden zwei Jahrzehnten abgeschlossen werden. So würden der Markt bereinigt, ausreichend Platz für erneuerbare Energien sowie in der Übergangszeit für Gaskraftwerke und mittelfristig mehr Speicher geschaffen werden. Die Klimaziele von Paris geben das maximale Emissionsbudget auch im Stromsektor vor, das nicht überschritten werden sollte. Ähnlich wie beim Atomausstieg könnte so ausreichend Flexibilität geschaffen werden, um die Kraftwerksbetreiber im Rahmen des Strukturwandels und Umbaus zu unterstützen. Die älteren und ineffizienten Kohlekraftwerke, solche die vor 1990 gebaut wurden, sollten möglichst rasch vom Netz genommen werden. Dies würde den Umbau erleichtern. Die erneuerbaren Energien müssen weiter wachsen, am besten lastnah und dort, wo es dem System am meisten nützt. Es bedarf dezentraler Netze samt intelligenter Steuerung, um die Energiewende so kosteneffizient wie möglich zu gestalten. Dies gelingt natürlich nur, wenn der Strukturwandel klug begleitet wird. Anstatt „Kohleabwrackprämien“ für das Stilllegen von Kraftwerken zu bezahlen, die ohnehin vom Netz gegangen wären, sollten besser Finanzhilfen für betroffene Regionen und Beschäftigte bereitgestellt werden.

In den betroffenen Regionen – insbesondere im Rheinischen, Helmstedter und Lausitzer Revier – ist die Sorge bei der lokalen Bevölkerung groß, abgehängt zu werden. Die Pläne stoßen bei vielen Betroffenen und Anwohner*innen oftmals nicht auf Zustimmung. Zwar befürwortet ein großer Teil der deutschen Bevölkerung den Kohleausstieg (siehe Soziales Nachhaltigkeitsbarometer der Energiewende), doch die hohe Akzeptanz ist (ebenso wie bei dem Ausbau erneuerbarer Energien oder dem Netzausbau) nicht bei allen Bevölkerungsteilen und sozialen Milieus gegeben und insbesondere Personen in betroffenen Regionen sind immer häufiger kritisch eingestellt. Im Falle des Kohleausstiegs liegt die zentrale Problematik in der Marginalisierung ländlicher Räume, die nach dem radikalen Eingriff in die Landschaft durch den Kohleabbau – zu Recht – danach fragen, welche Perspektiven sich nun nach Abzug der fossilen Energiewirtschaft für sie ergeben. Es ist verfehlt, den Kohleausstieg allein für den möglichen Untergang der Regionen verantwortlich zu machen.

Auch wenn wissensbasierte Start-Ups nicht die Antwort auf den Ersatz der Arbeitsplätze in fossilen Energiebranchen sein können, so bestehen dennoch gute Perspektiven. Die aufblühenden Unternehmen der Erneuerbare-Energien-Branche und deren zumeist ländlich geprägten Standorte zeigen: Es kann gerade auch in ländlichen Räumen gelingen, von den Transformationsprozessen der Digitalisierung, der Energie-, Verkehrs- und Agrarwende zu profitieren. Zweifelsohne ist gerade in solchen Umbruchszeiten und zur Schaffung der im Grundgesetz verankerten gleichwertigen Lebensverhältnisse eine staatliche Unterstützungsstrategie ein probates Mittel, um lokale Innovationsprozesse anzustoßen. Bei allem Für und Wider von öffentlicher Förderung ist unter dem Strich eine staatliche Anschubhilfe und die Schaffung geeigneter zeitgemäßer Infrastrukturen noch immer sehr viel erfolgversprechender als die Regionen sich selbst zu überlassen oder einfach nur auf Marktkräfte zu hoffen, die in diesen Fällen (zumindest anfangs) eben nicht greifen. Neue Digitaltechnologien und ökologische Produktionsformen sind gerade eine Chance, das alte Muster der standortfixierten Industrien (siehe Automobilindustrie) zu durchbrechen und so unabhängiger von klassischen Standortvorteilen agieren zu können.

Der Umbau des Energiesystems muss heute eingeleitet und die Rahmenbedingungen für die kommenden Jahrzehnte vorgegeben werden. Schnell warnen die Mahner: Innovationen und einen Wettbewerb um die besten Technologien sind notwendig. Die viel gepriesene „Technologieoffenheit“ im Rahmen einer Transformation des kompletten Energiesystems kann zu Fehlentwicklungen, einseitigen Ausrichtungen und Lock-in-Effekten führen, die man durchaus vermeiden kann. Technologieoffenheit kann zu erheblichen Diskriminierungen von für die Energiewende wichtigen Technologien führen – das verdeutlicht das Beispiel Verkehr. Eine gezielte Technologieförderung ist sinnvoll, da ein vermeintlich neutraler Regulierungsrahmen angesichts der privilegierten Ausgangslage des Verbrennungsmotors die neuen Technologien benachteiligen würde.

Auch mit Blick auf die zu schaffenden Infrastrukturen sollten diejenigen Technologien gefördert werden, die langfristig die Einhaltung der Klimaziele gewährleisten. Mehrere unterschiedliche Infrastrukturen aufzubauen ist teuer und ineffizient. Es gilt, die Emissionen in den kommenden fünfzehn Jahren zu halbieren. Die Erfüllung der Treibhausgasminderungen im Verkehrssektor hat unbequeme Wahrheiten zur Folge, die kein politischer Entscheidungsträger gern offen ausspricht: Es kann nicht weitergehen wie bisher. Es wird weniger und optimierten Verkehr geben müssen. 45 Millionen Fahrzeuge, die durchschnittlich knapp 23 Stunden am Tag als ungenutzte Ressourcen herumstehen, wird es nicht mehr geben können. Autogerechte Städte werden zu Menschengerechten Städten. Die Digitalisierung wird die Mobilitätsdienstleistungen völlig verändern, hin zum Car-Sharing und autonomen Fahren.

 

4. Der Ausbau der Erneuerbaren 2.0

Wenn wir weiterhin die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien erhöhen wollen, zumal wir mehr Strom für Elektromobilität oder Wärmesysteme benötigen, dann ist der weitere Ausbau der Erneuerbaren unausweichlich. Insbesondere die Windenergie wird eine entscheidende Rolle spielen und das bedeutet konkret: Wo bereits Windräder stehen, werden noch mehr Anlagen konzentriert und an zahlreichen weiteren Standorten Windparks installiert werden. Dies wird verstärkt den Einbezug betroffener Bürger und Bürger*innen und lokaler Ortschaften erfordern, hier besteht die Chance auf Mitgestaltung. Wenn der Ausbau der Erneuerbaren unausweichlich ist, dann sollten beste Kompromisslösungen gefunden, Details ausgehandelt und bestimmte Standorte – im Sinne des Gemeinwohls – sogar ausgeschlossen werden. Der befürchtete Wildwuchs von Windrädern ist eine Mär, aber eine deutlich (pro)aktivere Gestaltung (Festlegung geeigneter Standorte, Förderung lokaler Betreibung und Bürgerbeteiligung) ist natürlich eine Voraussetzung dafür, weniger erwünschte Investorenpläne und negative Auswirkungen auf Mensch und Natur effektiv zu verhindern. Der typische Modus des Diskursverlaufes bei Energiewende-Konflikten (Veröffentlichung von Plänen – zunehmender Widerstand bei der Bevölkerung – hitzige Debatten – Entweder-Oder-Bürgerentscheide – Ad-hoc-Entschwinden der Thematik aus der öffentlichen Debatte) ist völlig kontraproduktiv: Ein an vielen Standorten hart geführter Kampf gegen Windräder, Stromtrassen und Biogasanlagen, der entweder schließlich gewonnen oder verloren wird, verhindert einen konstruktiven Prozess. Ohne Frage sind Schein-Beteiligungen der falsche Ansatz und Konflikte müssen in einer Demokratie unbedingt ausgetragen werden, aber hierbei kommt es immer entscheidend auf das WIE an.

Hier hakt es auf beiden Seiten: Aus Sicht der Vorhaben- und Entscheidungsträger sollten Bürgerinnen und Bürger nicht als zu lösende Probleme behandelt werden und die lokale Bevölkerung muss sich von der Perspektive lösen, dass ein negatives externes Ereignis gleich einem Gewitter über sie hereinbricht. Die Ausgangsvoraussetzungen für einen demokratischen (und das heißt konsensorientierten Diskurs) haben sich leider in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert: Denn kritische Bürgerinnen und Bürger müssen zunächst die Notwendigkeit des Klimaschutzes anerkennen – und gleichzeitig Entscheidungsträger, Planer und Betreiber ein Recht der lokalen Bevölkerung auf Einfluss der Entscheidungen über ihren lokalen Lebensraum respektieren und entsprechend berücksichtigen. Das typische Dilemma besteht hierbei letztlich sehr häufig darin, dass schließlich irgendwo gebaut werden muss. Manche Kommunen oder Bürgerinitiativen, die sich freuen, etwa per Verhinderungsplanung oder Bürgerentscheid einen Windpark-Standort ausgeschlossen zu haben, werden zum einen nicht den Ansprüchen an Beiträgen zum Gemeinwohl gerecht und zum anderen werden sie womöglich am Ende bei zunehmendem politischen Druck doch Standorte hergeben müssen. Das erinnert an Kindergarten-Verhältnisse im Sandkasten und macht deutlich, dass nur der reflektierte und besonnene Handlungsansatz angemessen sein kann. Der bedeutet: die Energiewende positiv annehmen, gemeinsam mit der Bevölkerung und möglichen Betreibern nach Standorten suchen, den Diskurs führen, Foren bieten, um bestenfalls ein stärker gemeinwohlorientiertes, beispielsweise kommunales Betreibungsmodell zu realisieren. Positive Beispiele hierfür existieren, durchgesetzt hat sich dieser Modus allerdings bislang nicht.

Wird die Energiewende nicht lokal aktiv in die Hand genommen, so bedeutet dies Wind in den Segeln der großen Energieversorger: Besonders lukrative Standorte offshore wie onshore werden von ihnen besetzt – das führt tendenziell wieder zu einer Renaissance alter Marktstrukturen. Das Energie-Regime der Zukunft bestünde dann aus großen Windparks in Nord- und Ostsee sowie an ausgewählten konzentrierten Standorten an Land, verbunden durch die großen Stromtrassen des Netzausbaus. Das erinnert wieder an das konventionelle Energiesystem bestehend aus Kraftwerkparks und Stromtransport über große Entfernungen. Photovoltaik, Windenergie und Biomasse stehen für den kleinskalierten, dezentralen Ansatz, wie er an vielen Orten umgesetzt wurde und selbst in jedem Solartaschenrechner steckt.

Im zwanzigsten Jahrhundert folgte das Energieregime noch der Logik von Versorgungssicherheit, Konzentration von Anlagen und räumlichen Ressourcen (zum Beispiel Abbau und Transport von Energieträgern, Kühlung, Verkehrsanbindung). Heute hat diese Logik ihre bestechende Kraft verloren, dennoch wirkt die Energiewende eher träge als radikal, eine komplette Dezentralisierung wird wohl ausbleiben. Hingegen erleben wir die Erfahrung, dass es trotz günstiger Bedingungen und guter Optionen auch Mut und Handlungswillen braucht, die Umsetzung einer dezentralen Energiewende zu verwirklichen. Dabei wirkt die Ko-Existenz des alten zentralisierten Energiesystems wie ein Hemmschuh: Warum handeln, wenn es doch auch so läuft und der Strom ja schließlich absolut zuverlässig aus der Steckdose kommt? Die Tragik besteht darin, dass jetzt vertane Chancen nicht einfach wiederkehren und heute getroffene oder unterlassene Entscheidungen lange nachwirken. Was wir derzeit in das System einschreiben, das wird auch zementiert.

 

5. Die Verkehrs- und Wärmewende

Wenn die Energiewende wirklich umfassend gelingen soll, dann müssen auch der Wärmesektor und der Verkehr auf klimafreundliche Technologien umgestellt werden. Die Gebäudeheizungen basieren nach wie vor überwiegend auf fossilen Energieträgern (Gas, Öl, Kohle), zudem sind sehr viele Anlagen veraltet. Der Anteil an erneuerbaren Energien beim Endenergieverbrauch liegt gerade einmal bei 13 Prozent. Mögliche Strategien wurden schon lange ergriffen, ein wesentlicher Ansatzpunkt liegt bei erhöhter Effizienz und besserer Dämmung, worin in den vergangenen Jahren auch investiert wurde, ohne allerdings einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen. Hierzu müsste eine Wende bei den Heizanlagen erfolgen: etwa durch Holzheizungen, Solarthermie oder auch Wärmepumpen (sofern diese über verträgliche Kühlmittel verfügen und mit erneuerbaren Energien gekoppelt werden). Die Verbreitung derartiger Heizanlagen ist bislang nach wie vor gering, obgleich moderne Holz- und Solartechnologien viele Probleme (wie Feinstaub) in den Griff bekommen. Hier kommt es auf Initiativen der Kommunen und Betriebe an, welche die Anlagen vertreiben. Der öffentliche Sektor wurde durch das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz dazu verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen – für den privaten Bereich gelten diese gesetzlichen Vorgaben nicht. Damit bleibt die Schieflage bestehen: Es wird energetisch saniert und Ökostrom bezogen – doch im Keller bleibt alles beim Alten. Die Tatsache, dass über 50 Prozent des Endenergiebedarfs in Deutschland zur Wärmeerzeugung eingesetzt wird, macht deutlich: ohne Wärmewende keine Energiewende!

Ein zentrales Element eines klimagerechten und nachhaltigen Verkehrssystems muss die Verringerung des motorisierten Individualverkehrs sowie die Stärkung intelligenter und integrierter Mobilitätslösungen sein. Dabei können eine Verkehrsvermeidung und Verlagerung auf die Schiene, den ÖPNV, auf den Rad- sowie Fußverkehr die Emission von Treibhausgasen und den Energieverbrauch verringern, sowie weitere Probleme des Verkehrs wie Flächenverbrauch, Lärm und Unfallrisiken berücksichtigen.
Neben der technologischen Transformation muss eine offensive Effizienzstrategie verfolgt werden: Zum einen gilt es, die Energieeffizienz von Personenkraft- und Lastkraftwagen mit Verbrennungsmotoren zu verbessern. Ohne Effizienzsteigerung drohen die kumulierten Emissionen bereits innerhalb der nächsten 15 Jahre ein mit den Paris-Zielen zu vereinbarendes CO2-Budget für den Verkehrssektor zu übersteigen. Zum anderen müssen auch Fahrzeuge mit alternativen Antrieben möglichst energieeffizient sein, um den erforderlichen Zubau Erneuerbarer-Energien-Anlagen zu begrenzen.

Nachhaltige Mobilität sollte vor allem klimaschonend sein und überflüssigen Verkehr, Feinstaub, Lärm und Staus vermeiden, somit auch auf alternative und nachhaltige Antriebsstoffe und -technologien setzen. Gerade in Großstädten spielt neben dem öffentlichen Personennahverkehr auch der Individualverkehr eine erhebliche Rolle. In der Zukunft werden zwei Drittel der Menschheit in Ballungsräumen mit mehr als eine Million Einwohner leben. Zukünftig werden nachhaltige „Mobilitätsdienstleistungen“, wie auch Car-Sharing immer gerade in Ballungsräumen an Bedeutung gewinnen.

Der Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung hat sich für den Verkehrssektor das ambitionierte Zwischenziel einer Treibhausgasminderung von 40 bis 42 Prozent bis zum Jahr 2030 gesetzt. Angesichts des damit einhergehenden verbleibenden Emissionsbudgets ist ein unverzügliches und konsequentes Umsteuern erforderlich. Eine innovative und nachhaltige Verkehrspolitik ist jedoch nicht nur ein umwelt- und klimapolitisches Gebot, sondern auch eine zentrale Bedingung für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Durch alternative Antriebstechnologien und -kraftstoffe lassen sich neue Märkte erschließen, eine höhere Wertschöpfung erzielen und Arbeitsplätze schaffen.

 

6. Aufgaben für die Zukunft

Die erneuerbaren Energien als Basis der Verkehrswende

Da die erneuerbaren Energien im Zentrum des künftigen Energiesystems stehen werden, ist eine direkte Elektrifizierung des Verkehrs technologisch und wirtschaftlich effizient und mit einem realisierbaren Zubau der Anlagen vereinbar. Die Einbindung von Batterien kann systemdienlich zur Stromspeicherung und Entlastung der dezentralen Netze beitragen. Der Güterverkehr kann ebenso mit elektrischen Lastkraftwagen oder aber direkt auf der Schiene stattfinden. Für lange Distanzen bieten sich flüssige Treibstoffe an, die aus erneuerbaren Energien gewonnen werden, wie beispielsweise Power-to-Gas. Der großflächige Einsatz von Power-to-Gas oder Wasserstoff für alle Verkehrsbereiche würde einen bis zu siebenfachen Mehr-Ausbau erneuerbarer Energien nach sich ziehen. Und es bedarf einer adäquaten Infrastruktur, die heute errichtet werden muss. „Technologieoffenheit“ kann zu erheblichen Fehlentwicklungen führen, welche sunk investments (verlorene Erstinvestitionen) nach sich ziehen. Mehrere unterschiedliche Infrastrukturen aufzubauen, ist teuer und ineffizient.

Bei den Ausschreibungen erneuerbarer Energien würde Technologieoffenheit vor allem preiswerte Anlagen, somit Onshore-Windanlagen favorisieren. Zum Gelingen der Energiewende sind aber ebenso lastnahe Stromerzeugungsanlagen wichtig, die Energie bedarfsgerecht und versorgungssicher herstellen. Dazu können Solaranlagen oder Biomasse-Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen genauso gehören wie mittelfristig jedwede Speicherlösungen. Diese würden bei technologieoffenen Ausschreibungen kaum eine Chance bekommen. Erneuerbare Energien sind Teamplayer, man darf sie nicht gegeneinander ausspielen.

 

Netzentgelte

Wenn man schon unbedingt markt- statt planwirtschaftliche Lösungen einbringen will, sollte man bei den Netzentgelten beginnen. Die staatlich garantierten Traumrenditen für Netzbetreiber führen zu hohen Netzentgelten und Kosten für Verbraucher. Man könnte systemdienliche Ausschreibungen auch für Netze einführen, ähnlich wie es jüngst die Monopolkommission vorgeschlagen hat. Müssten sich auch die Netzbetreiber einem Wettbewerb um günstigste Lösungen stellen, würden die Kosten sicherlich sinken, und wir könnten einen optimierten und auf Systemdienlichkeit ausgerichteten Netzbedarf steuern und umsetzen.

 

Steuern

Die Energiesteuern müssen reformiert werden. Strom ist zu stark, fossile Energien allen voran Diesel, sind viel zu niedrig besteuert. Eine konsequent auf Klimaschutz ausgerichtete Steuerreform sollte vor allem die Nutzung von Heizöl, Diesel und Benzin deutlich stärker besteuern. Die Steuereinnahmen sollten für die energetische Gebäudesanierung und den Umbau des Verkehrssystems genutzt werden, sodass die umweltbewussten Heizungs- und Autokäufer finanziell bevorteilt werden.

 

Arbeitsplätze

Klimaschutz schafft Arbeitsplätze, Deutschland ist Weltmarktführer als Anbieter von Klimaschutztechnologien, über zwei Millionen Menschen arbeiten in diesem Sektor. Eine jüngst veröffentlichte Studie des BDI bestätigt ebenfalls, dass sich Klimaschutz wirtschaftlich lohnt und die Wirtschaft und Industrie stärkt. Durch Investitionen in klimaschonende Zukunftsmärkte werden Wertschöpfung und Arbeitsplätze generiert. Ökonomie und Ökologie sind zwei Seiten einer Medaille.

 

Sektorkopplung

Die angesprochene erweiterte Energiewende im Verkehrs- und Wärmesektor wird auch unter dem Begriff Sektorkopplung zusammengefasst. Letztlich können hier alle gesellschaftlichen beziehungsweise wirtschaftlichen Bereiche in den Blick genommen werden: Auch in der Industrie, im Bausektor und bei der Landwirtschaft spielt die Energie- beziehungsweise Nachhaltigkeitswende eine entscheidende Rolle – denn diese erwähnten Sektoren sind ebenso fossil wie wenig nachhaltig sowie für immense Mengen an C02 verantwortlich. Die Idee der Sektorkopplung will intelligente Verknüpfungen vornehmen: Warum sollte ein Stahlwerk seine hohe bereitgestellte Energie für die Einschmelzung der Abwärme beziehungsweise Kraft-Wärme-Kopplung nicht doppelt nutzen? Nach vielen verstrichenen Jahren wird mit solchen Projekten nun begonnen, doch auch hier kann von flächendeckender Nutzung noch lange keine Rede sein. Wird die gewonnene Energie aber gewinnbringend verstanden und/oder aber auf stärkere CO2-Bepreisung gesetzt, so entstehen Anreize, Technologien werden weiterentwickelt und Verbindungen zwischen Sektoren geschaffen, die schließlich auch weitere Formen der Zusammenarbeit erzeugen können – neue Geschäftsfelder entstehen und Synergieeffekte können genutzt werden.

 

Kleinräumliche Quartierslösungen

Für kleinere Einheiten wie Stadtquartiere und kleine Gemeinden sind in Zukunft integrierte Lösungen denkbar, die im Sinne der Sektorkopplung verschiedene Energieerzeugungsarten, Speichersysteme und Verbrauchspunkte per Smart-Grid miteinander verknüpfen. Lokal erzeugter Strom kann in Speicher überführt oder auch direkt umgewandelt werden – in Wärme oder Kraftstoffe (Power-to-Heat, Power-to-Gas, Power-to-Liquids) oder direkt für Elektromobilität verwendet werden (Power-to-Mobility). Die sektorale Lösung bedeutet kurze Wege (und damit tendenziell weniger Netzausbau bei lokaler Energieerzeugung), die Möglichkeit einer lokalen Betreibung und schließlich können Quartiersbewohner*innen selbst bestimmen, welche Lösung für sie optimal ist. Nicht nur die besser gestellten Stadtteile sollten aber zu solchen Pionieren werden, sondern auch strukturschwache Kommunen in ländlichen Räumen. Hier besteht die charmante Idee darin, dass die als Nachteil wahrgenommene Beeinträchtigung durch Windparks, Freiflächen-Photovoltaik und Biogasanlagen in einen Vorteil umgemünzt werden könnte: Denn dann würden die lokalen Bewohner unmittelbar von der Energie aus den Anlagen profitieren und nicht auf die Städter schielen, die sich über riesige Windmühlen und hohe Strommasten nicht ärgern müssen. Daher sind gerade in den kommenden Jahren alle Kommunen, Landkreise, Stadtwerke und Bürgerenergieprojekte aufgefordert, die lokale Energieversorgung gemeinschaftlich in die Hand zu nehmen. Auch hier gilt: Wenn sie es nicht machen, dann werden andere Anbieter dies übernehmen und die Chance ist vertan.

 

Wie kann mehr Klimaschutz ohne soziale und räumliche Benachteiligung gelingen?

Ein erhebliches Problem bei der Wahrnehmung der Energiewende durch die Bevölkerung besteht darin, dass diese als zu teuer, unfair und durch die Regierung schlecht gesteuert empfunden wird. In den Regionen, in denen der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze stark voranschreitet, steigt der Widerstand und es mehren sich kritische Auffassungen. Bürgerinitiativen machen mobil. Tatsächlich liegt ein Problem der Energiewende darin, dass ein betroffener Bewohner vor seiner Haustür den Wandel seines unmittelbaren Lebensumfeldes erlebt, seine Stromrechnung steigt und Bürgerbeteiligungsverfahren an diesen Realitäten offenbar nichts zu ändern vermögen. Vielleicht nimmt er auch noch wahr, dass einige Flächeneigentümer enorm davon profitieren, dass auf ihren Grundstücken Windparks entstehen und einige Bürger*innen seiner Gemeinde eine gute Rendite von Photovoltaikanlagen abgreifen. Die Energiegerechtigkeit ist daher ein zentrales Kriterium bei der Erreichung von Akzeptanz und einer effektiven Verhinderung der Ausbreitung populistischer Rhetoriken und Politiken. Einfache Lösungsansätze gibt es hierbei freilich nicht: Schlichte Kompensationszahlungen beheben den Konflikt nicht wirklich, sie werden auch häufig als Bestechung verstanden.

Bürgerenergiegenossenschaften beteiligen immer nur Teile der Bevölkerung und nie eine gesamte Gemeinde – Personen ohne für eine Finanzanlage verfügbare Geldsummen werden zudem tendenziell benachteiligt. Daher sind lokale Betreibungsansätze wie Stadtwerke ein vergleichsweise guter Ansatz. Doch auch bei den erwähnten anderen Teilbereichen der Energiewende, bei der effizienten Heizung, der eigenen Solaranlage oder einem Stromspeicher, einem Elektrofahrrad und Elektroauto – also bei fast jeder neuen nachhaltigeren Lösung entstehen bei der Anschaffung hohe Kosten, was Personen mit niedrigem Einkommen grundsätzlich benachteiligt. Man muss sich die Energiewende also auch leisten können? Das ist einerseits richtig, andererseits gibt es auch Optionen, die weniger kapitalbasiert sind, zum Beispiel über Sharing- oder Mietdienste. Das minimiert schließlich auch Risiken, bei erworbenem Eigentum schnell Verluste zu erzielen. Die jüngere Generation ist schon wesentlich weniger daran interessiert, unbedingt ein Auto besitzen zu müssen – wenn man mal ein Auto benötigt, kann dies gemietet oder geteilt werden. Das ist nicht in jeder abgelegenen Region eine Option, aber auch hier ergeben sich gerade durch E-Bikes, E-Autos und E-Busse zahlreiche Alternativen zum konventionellen Modell. Die Energiewende in der bestehenden Form ist nicht sozial gerecht – sie bietet aber zahlreiche Ansatzpunkte, mehr Gerechtigkeit und weniger Benachteiligung herzustellen und sogar alte Strukturkonservatismen zu überwinden.

 

Das Erfordernis von kollaborativer Governance

An vielen Stellen ist deutlich geworden, dass es bei einer erfolgreichen Energiewende auf das Zusammenwirken vieler Gesellschaftsakteure ankommt: Stadträte, Bürgermeister, Landräte, Landesregierungen, Parlamente und die Bundesregierung, Unternehmen des Mittelstands, Großkonzerne und Industrien, Handwerksbetriebe, lokale Vereine und große Verbände sowie Bürgerinnen und Bürger – wir müssen zusammenarbeiten, wenn die Energiewende vorankommen soll und vor allen Dingen so verläuft, wie wir sie uns auch wünschen. Die Energiewende will gestaltet werden und hierfür braucht es die Aktiven, die auch bereit sind, Initiativen zu starten und etwas zu wagen. Die Hürden hierfür sind deutlich höher als es zunächst den Anschein hat: Kommunen und Regierungen arbeiten gegeneinander, Unternehmen versuchen, sich gegenseitig auszustechen und die Zivilgesellschaft beklagt die Zustände. Ein erster Schritt wäre mehr Abstimmung und Koordination. Gemeinsam müssen die Fakten auf den Tisch gelegt und Lösungen austariert werden, die möglichst gemeinwohlorientiert geprägt sind. Nicht immer wird es dabei möglich sein, jede Beeinträchtigung zu verhindern. Doch mit Unternehmen kann man reden, die Politik kann von Alternativen überzeugt werden. Eine Vermeidungsstrategie von Bürgerdiskussionen, zähen Verhandlungen und langwieriger Konsenssuche wäre ebenso fatal wie das Gegenteil in Form schleppender Diskurse und endloser Rede-Gegenrede, bis sich alle Beteiligten frustriert abwenden und genervt aufgeben. Denn davon profitieren letztlich vor allem hartnäckige Investoren. Daher besteht ein zweiter Schritt darin, auch konkrete Strategien und Handlungsoptionen für die lokale Energiewende zu entwickeln. In dieser Hinsicht kann die deutsche Energiewende auch als vergleichsweise vorbildlich gelten: Ohne engagierte Personen und konkrete Konzepte würde es sie gar nicht geben. Tatsächlich kann die Energiewende nicht einfach beschlossen und dann wie durch Zauberhand Wirklichkeit werden: Konsensuale Beschlüsse (also sich darauf einigen, wohin die Reise gehen soll) sind wichtig, doch viel wichtiger werden dann die konkreten Fragen: Wie wollen wir das Ziel erreichen?

Die Zeiten der großen Planungsansätze sind zu Recht vorbei, doch eine Von-Tag-zu-Tag-Governance ist ebenso fragwürdig: Es braucht Zielmarken und gemeinschaftlich geteilte Strategien. Was soll wo ausgebaut werden, welche Infrastrukturen werden benötigt, wie kann gefördert und entlastet werden? Wer ist mehr zu berücksichtigen und wer weniger? Hinter vielen kryptischen Formulierungen in Gesetzen, Parteiprogrammen und Regierungsmaßnahmen verbergen sich klare Positionen und durch die von Parlamenten beschlossenen und von Regierungen und Verwaltungen umgesetzten Energiepolitiken in Kommunen, Regionen, Ländern und dem Bund werden deutlich wahrnehmbare Effekte erzeugt. Man kann diesen schwergewichtigen Aspekten aber nicht aus dem Weg gehen und man kann sie auch nicht immer anderen überlassen. Daher besteht ein dritter Schritt darin: Klare Benennungen und eindeutige Kommunikation verfolgen. Immer wieder fordern Bürgerinnen und Bürger dies in Umfragen vehement ein. Man kann Pläne für einen Windpark nicht aus Sorge um Widerstand gewissermaßen verstecken, klein machen und geheim halten, denn am Ende setzt der Bulldozer- beziehungsweise Stuttgart21-Effekt ein: Bürger*innen wehren sich gegen die heranrollenden Bagger. Man kann auch mit der Bürgerschaft über Standorte verhandeln, man kann Fachsprache herunterbrechen und sich bemühen, mit vielen Akteuren und Betroffenen zu sprechen – und vielleicht findet sich eine Lösung, mit der viele gut leben können und von der die Gemeinde sogar profitiert – ob über finanzielle Gewinne, die Erreichung eines Klimaschutzziels oder Aussichten von der Turmspitze eines Windrades.

 

7. Fazit: Krisen ohne Ende und das Ende aller Krisen

Wir werden weitere Finanzkrisen, Konflikte und Kriege in der Welt erleben, wir werden erschüttert sein und unsere Timelines und Tagesordnungen werden darum kreisen. Wir werden so lange davon vereinnahmt sein, bis die Krise überstanden und der Krieg zu Ende ist. Die Energiekrise und der Klimawandel hingegen werden kein Ende finden, sie werden uns immer beschäftigen. Die Frage ist, in welchem Ausmaß sie unser aller Lebensumgebung beeinflussen werden und wie groß die Ströme an Klimaflüchtlingen sein werden, die uns erreichen, weil ihr Lebensraum durch die globale Erwärmung unwiederbringlich zerstört ist.

Daher bleibt es an uns, mit gutem Beispiel voranzugehen: die Energiewende und den nachhaltigen Umbau der Gesellschaft weiter voranzutreiben und ein Modell zu erschaffen, das auch im Rest der Welt anschlussfähig ist. Alle Technologien, Werte, Politik- und Wirtschaftssysteme sowie Lebensweisen haben alte Kulturen, die stärker im Einklang mit der Natur lebten, verdrängt und bedeuteten Zerstörung von Natur, Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften sowie Abhängigkeiten von diesen Systemen. Dieser Art des Fortschritts wurde rhetorisch abgeschworen, aber noch sind wir den Beweis schuldig geblieben, dass es auch gelingen kann, positive und umweltgerechte Ansätze hier zu etablieren und zu globalisieren, die Lebensverhältnisse langfristig zu verbessern und Umweltschutz tatsächlich zu erzielen.

Man könnte nun einwenden: Wenn uns nicht einmal der Klimaschutz vor der eigenen Haustür gelingt und wir uns mit der Energiewende so abmühen: Wie sollen wir dann dieses Modell anpreisen können? Doch auch für andere Staaten der Erde gilt: Ein Weg in die Vergangenheit ist nicht möglich, die Fortschrittsbemühungen können aber in einer Weise begleitet werden, die fortschrittlichere, also nachhaltigere Modelle vermittelt. Noch immer sind Fortschritt und Moderne mit Quantitäten verbunden: große Autos, große Häuser, große Jachten. Aber einige Staaten in Äquatornähe erkennen auch, dass Digitalisierung und erneuerbare Energien enorme Chancen bieten: nicht nur für die Eliten, sondern für Kleinbauern und die gesamte Bevölkerung. Dabei muss man nicht zusehen, das kann aktiv unterstützt werden und wiederum können davon viele profitieren – die Energiewende ist keine Einbahnstraße und auch keine Sackgasse.

Es sind überall große Schritte in Richtung Nachhaltigkeit erforderlich. Die Industriestaaten müssen die Investitionen in Klimaschutz forcieren und kanalisieren. Erneuerbare Energien bringen Wertschöpfung und Wohlstand und vermeiden Ressourcen- und Klima-Kriege. Erneuerbare Energien schaffen somit ebenso Partizipationschancen und können die Demokratien stärken. In die Energiewende zu investieren heißt auch, in globale Gerechtigkeit investieren. Klimaschutz ist das beste Friedensprojekt, das wir derzeit haben – für alle Länder in der Welt.

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Analyse

Vorreiter oder Nachzügler? Die deutsche Energiewende im globalen Kontext

Die Welt befinde sich im Umbruch: Das Pariser Klimaabkommen habe den Beginn des fossilen Zeitalters eingeleitet, so die Energieökonomin Claudia Kemfert. Sie zeigt in ihrer Analyse, dass die skandinavischen Länder, die G7-, die BRICS- und andere Staaten der Welt allerdings noch in verschiedener Weise und mit unterschiedlichem Erfolg nach wirtschaftlichen Lösungen für den Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien suchen. Für diese globale Transformation stelle aber die deutsche Energiewende ein wichtiges Vorbild dar.
zur Analyse


Rezension

Jörg Radtke / Norbert Kersting (Hrsg.)

Energiewende. Politikwissenschaftliche Perspektiven

Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

Der Sammelband bietet politikwissenschaftliche Perspektiven zur Energie- und Mobilitätswende, die Rezensent Martin Repohl als eine demokratische und gesellschaftliche Herausforderung versteht. Die Stärke des Bandes liege vor allem in seiner thematischen Heterogenität bei einer gleichzeitig thematisch anschlussfähigen Selbstverortung im Bereich der Policy- und Governanceforschung. Durch die Herausarbeitung von Bezügen zur Partizipations- und Legitimationsforschung eigne sich der Band hervorragend als Einführung in die politikwissenschaftliche Energiewendeforschung.
zur Rezension


Information

Martin Schmidt:
Nicht alle geplanten Stromtrassen in Deutschland sind notwendig!
Forscher haben den deutschen Stromhandel analysiert: Regionale Preise und
weniger Stromtrassen können zu einem großen volkswirtschaftlichen
Gesamtnutzen führen.
Mitteilung der Universität Trier vom 21. Februar 2019

 

Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen legt Bericht zum Energieverbrauch 2018 vor
DIW-Bericht, 28. März 2019


Lektüre

acatech/Leopoldina/Akademienunion
Governance für die Europäische Energieunion
Stellungnahme des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“.
Gestaltungsoptionen für die Steuerung der EU-Klima- und Energiepolitik bis 2030
Stellungnahme Dezember 2018

 


Best Practice

Bernd Bornemann
Emden: Auf dem Weg zur intelligenten Energiestadt
Städtetag aktuell 4/2019, Forum, S. 6

 

Deutscher Städtetag
Stadt Essen erhält europäischen Preis für Energiespar-Contracting
Städtetag aktuell 4/2019, S. 11


zum Thema
Deutschland im Energiewandel

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