Jocelyn Evans / Gilles Ivaldi: The 2017 French Presidential Elections. A Political Reformation?
21.11.2018Die französischen Präsidentschaftswahlen. Eine politische Erneuerung?
Am 7. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron in einer Stichwahl gegen Marine Le Pen zum französischen Staatspräsidenten gewählt. In dem Land, das seit Langem unter einer hohen Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen leidet, bedeutete seine Wahl – da er den gewünschten Wandel in geradezu charismatischer Weise verkörperte – ein Votum der französischen Bevölkerung gegen die Stagnation und für den Aufbruch. Aber so eindeutig, wie diese Wahl im Nachhinein scheint, war sie nicht: Der Kandidat Macron lag im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft nur unwesentlich besser als die drei weiteren Kandidaten der Linken und der Rechten. Warum die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfiel, untersuchen Jocelyn Evans (University of Leeds) und Gilles Ivaldi (University of Nice, Antinopolis) und fragen, ob dahinter eine Reformierung des politischen Systems in Frankreich zu erkennen sein könnte.
Das politische System der Fünften Republik (seit 1958) ist durch eine bipolare Struktur gekennzeichnet, in der die politische Verantwortung relativ regelmäßig zwischen linkem und rechtem politischen Spektrum wechselt (17). Im Allgemeinen erkennen die Autorin und der Autor daher im Laufe der vergangenen sechzig Jahren eine Reihe von Trends, die eine Kontinuität innerhalb des politischen Systems nahelegen.1 Dazu gehört zum Beispiel eine öffentliche Meinung, die die Zustimmungswerte nach der Wahl eines Präsidenten stark sinken lässt, um sie dann gegen Ende seiner Präsidentschaft wieder etwas anzuheben. Ebenso dazu gehört das Verhalten der Bürger*innen, die Wahlen auf Ebene der Regionen und Departements „naturgemäß“ zur Kritik an der herrschenden Regierungspartei zu benutzen (24). Neu sind bei den Wahlen von 2012 bis 2017 hingegen ein besonders starkes Sinken der Zustimmung zu Präsident und Regierung sowie das Verharren der Zustimmung auf einem sehr niedrigen Niveau. Zusammen mit einer sich vergrößernden Fragmentierung der Parteienlandschaft und durch das Entstehen einer starken zentristischen Wahlalternative, der Bewegung La République en Marche von Emmanuel Macron, sei so die Stabilität des politischen Systems in Frankreich herausgefordert worden (41).
Einer der wesentlichen Kritikpunkte, die Evans und Ivaldi aus den vorhandenen Daten lesen, ist die Abgehobenheit der Parteien und ihrer Funktionsträger von der Wahlbevölkerung. Diese Kritik war bereits von etablierten Parteien 2017 erkannt worden und sie versuchten, ihr durch eine basisdemokratische Komponente der Kandidatennominierung zu begegnen. Während der Nominierungskampagnen der Grünen (EELV), der konservativen Republikaner (LR) und der Sozialistischen Partei (PS) war jedoch schon eine Tendenz der Wähler*innen für einen Anti-Establishment-Kandidaten zu erkennen (66). Auf dem Weg der Radikalisierung von inhaltlichen Positionen wurde auch die Blockbildung innerhalb der Parteien verstärkt, die den Zusammenhalt der Parteien (party cohesion) ihrerseits schrumpfen ließ. Die Radikalisierung der Standpunkte und die Auflösung traditioneller Bindungsmuster der französischen Parteien führte letzten Endes zu vier Kandidaten für die Vorwahlen der Präsidentschaft, von denen lediglich zwei (Jean-Luc Mélenchon und François Fillon) dem traditionellen Parteienspektrum zugerechnet werden (94).
Die Zeit von den parteiinternen Vorwahlen bis hin zu der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen wurde von verschiedenen Ereignissen begleitet. Evans und Ivaldi zählen dazu unter anderem die sich verstärkende internationale Perspektive innerhalb des Themenspektrums, zum Beispiel durch die Rolle der Europäischen Union oder das Brexit-Referendum. Ebenfalls zu diesen Ereignissen gehören die Nicht-Kandidatur des amtierenden Präsidenten François Hollande und Penelopegate – der republikanische Kandidat François Fillon zahlte seiner Frau für Assistenztätigkeiten mehr als 600.000 Euro – sowie die verschiedenen Terrorangriffe, so auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Nicht zuletzt wird die Fernsehdebatte zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen („entre deux tours“) angeführt.2
Evans und Ivaldi sehen die Möglichkeit, den Wahlausgang auch durch hergebrachte Strukturvariablen wie Kandidatenpräferenz und Themensetzung zu erklären. Zu Ersterer gehört die Rhetorik des Wandels, mit der Macron seine Wähler adressiert hat (151). Zu Letzterer gehören die Position hinsichtlich ökonomischer (zum Beispiel Besteuerung, Arbeitslosigkeit, Wohlfahrt) und kultureller Probleme (nationale Sicherheit, Migration) sowie auch die Thematisierungen der Europäischen Union und der Globalisierung (160). Bei all diesen Themen meinen die Autoren nach einer Betrachtung der Präferenzen zu erkennen, dass die ideologische Langzeitausrichtung der Wähler*innen (links vs. rechts) bei der Entscheidung in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl weiterhin eine große Rolle spielte (173). Was die zweite Runde betrifft, führen die Autorin und der Autor hingegen die Position der Kandidaten zur Europäischen Union als schlussendlich wahlentscheidende Variable an (201).
Die Anfangsfrage, ob sich an der Wahl des achten Präsidenten der Fünften Republik eine Reformierung des politischen Systems festmachen lässt, beantworten Evans und Ivaldi ergebnisoffen. Die ideologische Links-rechts-Positionierung der Wähler*innen bleibt ihrer Ansicht nach weiter ein wesentlicher bestimmender Faktor der Wahlentscheidung. Macron habe insbesondere durch die politische Unterstützung der Demokratischen Bewegung unter der Führung von François Bayrou im Rennen um den ersten Wahlgang die Nase vorne gehabt. Die links-zentristische Position der Bewegung La République en Marche habe sich nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl jedoch weiterhin dem Wettbewerb mit der PS und der LR zu stellen (232). Ob sie sich als eigenständige Partei etablieren kann und somit die Ansätze einer Reformierung des politischen System Frankreichs bestätigt werden, wird sich erst mit den Europawahlen 2019 beantworten lassen.
Das Buch bietet insgesamt durch die detailreiche, zahlengestützte Betrachtung einen vertieften Einblick in die gegenwärtige Landschaft französischer Politik.
1Die Autoren greifen dabei auf zwei internetbasierte Umfragen aus dem Jahr 2017 mit mehr als 20.000 Teilnehmern zurück, nach Alter, Geschlecht, Ausbildungsgrad, Region und Größte der Stadt gemittelt.
2Dabei bleibt leider offen, ob die Autoren diesen Ereignissen die Qualität eines Schocks zuweisen, der einen signifikanten Einfluss auf die Wahlentscheidung ausüben konnte. Es lassen sich widersprechende Aussagen dazu finden (vgl. Seite 119 und 149).