Unbekannte Gesichter. Europäische Spitzenkandidaten stärken die Wählerbindung nicht
Die Nominierung von Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteifamilien bei den letzten zwei Europawahlen wurde von vielen als demokratische Innovation des EU-Systems angesehen. Mithilfe einer Nachwahl-Erhebung in fünf nordwesteuropäischen Ländern (Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweden, Vereinigtes Königreich) wurde in einem Projekt untersucht, wie Wähler*innen bei den Europawahlen 2019 die jeweiligen Spitzenkandidat*innen beurteilten. Es zeigt sich, dass die Benennung von Spitzenkandidat*innen nicht dazu geführt hat, die europäischen Parteifamilien besser mit deren Wähler*innen zu vernetzen.
Das Medienecho in den Tagen nach den Wahlen zum Europäischen Parlament vom Mai 2019 war einhellig: Die Abstimmungsergebnisse galten als starkes Zeichen für das europäische Projekt im Allgemeinen und das Modell der sogenannten Spitzenkandidat*innen im Besonderen. Umso größer war die Kritik, als sich wenig später der Europäische Rat weigerte, ein*en der Spitzenkandidat*innen der Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten zu nominieren. Es handle sich um einen herben Rückschlag für die Etablierung eines erfolgreichen demokratischen Systems in der EU. Doch treffen diese Einschätzungen zu? Waren die Wahlen tatsächlich ein Votum für das Modell der Spitzenkandidat*innen?
Um diese Frage zu beantworten, haben wir im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Konfliktstrukturierung in Europawahlen“ eine Online-Befragung von Wähler*innen in mehreren Ländern durchgeführt. Dazu gehören Österreich, Frankreich, Deutschland, Schweden und das Vereinigte Königreich. Frühere vergleichende Studien haben gezeigt, dass diese Länder repräsentativ für die „Makroregion“ Nord-West-Europas stehen. Da zudem große EU-Mitgliedsländer wie Frankreich und Deutschland im Sample enthalten sind, dürften die Ergebnisse unserer Analyse auch für den weiteren europapolitischen Diskurs von Interesse sein.
Spitzenkandidat*innen wurden durch die Parteien auf europäischer Ebene bereits für die Europawahlen 2014 nominiert. Expert*innen stuften dieses Modell damals als wichtige „demokratische Innovation“ ein. Durch die Hervorhebung von Einzelpersönlichkeiten im Wahlkampf versprach man sich eine Reihe von positiven Effekten: eine größere Mobilisierung der europäischen Wählerschaft und damit eine höhere Wahlbeteiligung, eine engere Verbindung zwischen den europäischen Parteien und den Bürger*innen und schließlich eine Stärkung der demokratischen Legimitierung der Europäischen Union als ein supranationales Gefüge durch die Ernennung eines erfolgreichen Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten. Studien zu den Wahlen 2014 zeigten jedoch, dass diese Erwartungen größtenteils nicht erfüllt wurden. Zwar wurde mit Jean-Claude Juncker der siegreiche Spitzenkandidat tatsächlich zum Kommissionspräsidenten ernannt, doch führte das Kandidatenmodell nicht zu einer signifikant höheren Wählermobilisierung. Unter den Bürgerinnen und Bürgern der EU-Länder waren Gesichter und Namen der einzelnen Spitzenkandidat*innen wenig bekannt. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erhielt das Kandidatenmodell in Deutschland, die niedrigste in Großbritannien. In der Regel waren der Bevölkerung nur die Spitzenkandidat*innen, die aus dem eigenen Land kamen, ein Begriff. Die Parteien auf nationaler Ebene verwendeten wenige Ressourcen darauf, die Spitzenkandidat*innen über ihre Wahlprogramme oder Pressearbeit bekannt zu machen. Insgesamt hatten die Parteien 2014 also die Chance nicht genutzt, die neue Möglichkeit zur stärkeren Wählerbindung zu nutzen. Wie sah es nun beim Wahlkampf für das Europäische Parlament im Jahr 2019 aus? Konnte die zweite Runde des Spitzenkandidatenwettbewerbs überzeugen?
Die Daten unseres Surveys erlauben uns, diese Frage zu beantworten, indem sie die Perspektive der Wähler*innen in den Mittelpunkt rücken und nicht jene der Parteien. So wurden die Befragten gebeten, die sechs Spitzenkandidat*innen den europäischen Parteigruppierungen zuzuordnen, die sie nominiert hatten. Sollten die Befragten dazu nicht in der Lage sein, so unsere Hypothese, waren die Parteien in ihrem Bestreben, durch das Kandidatenmodell die Bindung zur Wählerschaft zu stärken, gescheitert.
Die Ergebnisse unserer Umfrage belegen, dass das Spitzenkandidatenmodell – wie auch schon 2014 – nicht zu einer höheren Bindung zwischen Parteien und Wähler*innen führte. Im Durchschnitt konnten nur circa 16 Prozent der Befragten den „siegreichen“ Kandidaten, Manfred Weber, seiner europäischen Parteigruppierung, der Europäischen Volkspartei (EVP), zuordnen. Die Zahlen für die weiteren Spitzenkandidat*innen sind noch niedriger. Unsere Daten zeigen auch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern: So war der durchschnittliche Anteil der Befragten, die eine*n oder mehrere Kandidat*innen richtig zuordnete, mit etwa 20 Prozent in Deutschland am höchsten. Das lag nicht nur am „heimischen“ Spitzenkandidaten Manfred Weber, den etwa ein Drittel der Befragten als EVP-Kandidaten identifizierten. Auch die anderen zur Wahl stehenden Personen hatten eine höhere Trefferquote.
In drei der fünf untersuchten Länder hatten die Parteien allerdings erhebliche Schwierigkeiten, eine Wählerbindung durch das Kandidatenmodell herzustellen. Dort lag die durchschnittliche Trefferquote bei deutlich unter 10 Prozent. Die niedrigen Werte für Großbritannien überraschen nicht, da dort die Spitzenkandidat*innen im Wahlkampf keine Rolle spielten. Bemerkenswert sind vor allem die sehr niedrigen Werte für Frankreich, wo Manfred Weber nur auf eine Trefferquote von 5 Prozent kam.
Selbst innerhalb der jeweiligen Parteianhängerschaft waren die Zuordnungen der Spitzenkandidat*innen größtenteils nicht korrekt. Unter den Wähler*innen von CDU und CSU beispielsweise konnten nur 42 Prozent Manfred Weber der EPP zuordnen. In Frankreich und Schweden waren es sogar weniger als 10 Prozent der moderaten rechten Wählerschaft (Wähler*innen der französischen Les Républicains und der schwedischen Moderaten oder Christdemokraten). Ähnliche oder noch schlechtere Ergebnisse liegen für die Kandidat*innen der anderen Parteien vor.
Unsere Studie macht damit deutlich, dass die Bedeutung der Spitzenkandidat*innen für die Wähler*innen bei den Europawahlen 2019 erneut gering war. Den Parteien ist es nicht gelungen, mithilfe der Spitzenkandidat*innen ein wiedererkennbares Gesicht zu bekommen und eine enge Bindung an die Wähler*innen herzustellen. Das Modell der Spitzenkandidat*innen war damit erneut nicht geeignet, die europäischen Parteien mit einem stärkeren demokratischen Mandat für die nach den Wahlen folgenden Auseinandersetzungen um die Spitzenpositionen im europäischen Institutionengefüge auszustatten. Zugespitzt formuliert: Die Spitzenkandidat*innen scheiterten bereits im Wahlkampf – und nicht erst in den Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs nach der Wahl.
Literatur
Braun, Daniela / Schwarzbözl, Tobias:
„Put in the Spotlight or Largely Ignored? Emphasis on the Spitzenkandidaten by Political Parties in Their Online Campaigns for European Elections".
In: Journal of European Public Policy, 2019, Jg. 26, H. 3, S. 428-445.
Christiansen, Thomas:
„After the Spitzenkandidaten: Fundamental Change in the EU’s Political System?".
In: West European Politics, 2016, Jg. 39, H. 5, S. 992-1010.
Hobolt, Sara B.:
„A vote for the President? The Role of Spitzenkandidaten in the 2014 European Parliament Elections“.
In: Journal of European Public Policy, 2014, Jg. 21, H. 10, S. 1528-1540.
Shackleton, Michael:
„Transforming Representative Democracy in the EU? The Role of the European Parliament“.
In: Journal of European Integration, 2017, Jg. 39, H. 2, S. 191-205.
Der Beitrag ist in ähnlicher Form erstmals in den WZB-Mitteilungen (März 2020) erschienen: https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2020/f-22766.pdf
Demokratie und Frieden
Analyse
Das Europäische Parlament nach den Wahlen. In der Legitimation gestärkt, aber weniger handlungsfähig?
Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen sei deutlich höher gewesen als fünf Jahre zuvor, so Otto Schmuck. Damit gehe das Parlament politisch gestärkt aus dieser Wahl hervor. Die großen Parteien seien geschwächt und die kleineren gestärkt worden. Die Entscheidungsfindung im EP werde schwieriger, denn es sei mit acht Fraktionen erheblich fragmentiert. Die beiden großen Fraktionen hätten keine Mehrheit mehr, weshalb neue Koalitionsbildungen zu Sach/index.php?option=com_content&view=article&id=41317 notwendig werden. Bei der Besetzung der europäischen Spitzenämter zeichne sich ein Machtkampf zwischen EP und Europäischem Rat ab.
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Lektüre
Charles Goerens
Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten
Blog, Der (europäische) Föderalist, 23. März 2020
Yvonne Nasshoven
„To be or not to be?“ Das Spitzenkandidatenprinzip in der Europawahl 2019 und zukünftige Szenarien
In: integration, 42. Jg., Heft 4-2019, S. 280-296.
zum Thema
Die Krise der Europäischen Union