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Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration

24.07.2017
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Autorenprofil
Prof. Dr. Volker Stümke
Hamburg, edition Körber-Stiftung 2017

Es ist höchst erfreulich, dass die aktuelle Flüchtlingskrise neben politischen Maßnahmen und medienwirksamen Statements endlich auch moralphilosophisch analysiert wird. Eine Ethik der Migration, so der weiterführende Ansatz von Julian Nida-Rümelin, darf sich nicht nur auf die Flüchtenden fokussieren, sondern muss auch die Zurückgebliebenen in den Heimatländern und die aufnehmenden Länder mit ihrer Bevölkerung in ihre normativen Erwägungen einbeziehen. „Um dies zu leisten, müssen wir uns von politischen Stereotypen lösen, die rechts und links im politischen Spektrum, aber auch in der Philosophie und den Sozialwissenschaften verbreitet sind. Ein wohlbegründetes Urteil liegt häufig quer zu den üblichen Fronten der öffentlichen Debatte. Es sich zu erarbeiten, erfordert geistige und politische Unabhängigkeit, es zu vertreten gelegentlich Zivilcourage“ (13). Dieser Anspruch ist (wie manche Formulierungen in diesem Essay) etwas zu dick aufgetragen, ändert aber nichts an dem lobenswerten Ansatz.

Zunächst legt ein guter Philosoph seine Prämissen, also sein Verständnis von Ethik und Politik offen. Nida-Rümelin positioniert sich als normativer Realist, der ein kohärentistisches Konzept vertritt, damit steht er in einer Reihe mit Thomas Nagel und Ronald Dworkin, die ebenfalls davon ausgehen, dass es gute Gründe für eine Position geben muss, die nicht aus der Natur hergeleitet werden, sondern diskursiv zu erarbeiten sind. Jedoch sei der Diskurs nicht lediglich eine subjektive oder intersubjektive Verständigung, sondern ziele auf ein in sich schlüssiges und so auf universale Geltung zielendes Gesamtkonzept. Die Migration sei ein komplexes Thema und eine ethische Aufarbeitung sollte diese Vielschichtigkeit nicht unterlaufen, sondern die unterschiedlichen, teilweise divergierenden Pflichten, Tugenden, Werte und Folgen ethisch beurteilen, was für Nida-Rümelin heißt, die tatsächlich guten Gründe herauszufiltern. So gelange man zu einer „kosmopolitischen, weltbürgerlichen Einstellung“ (69), die sowohl die konkreten Menschen als auch die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Implikationen ethisch mitbedenke.

Inhaltlich zeichnet Nida-Rümelin ein differenziertes Bild der Ursachen von Migration und der Gruppierungen, die davon betroffen sind. Migration könne durch Armut, durch Bürgerkriege sowie durch wirtschaftliche Interessen evoziert werden. Tangiert seien die Flüchtlinge, ihre Familien und ihre Landsleute ebenso wie in den Aufnahmeländern die unteren Schichten, die Mittelschicht, die wirtschaftliche Elite und die politischen Institutionen. Das ergibt natürlich einen bunten Mix aus Interessen, Folgen und Pflichten – eben eine komplexe Situation, die mit einem kohärenten Konzept und nicht durch Einzelmaßnahmen, die nur auf manche Gruppen fokussieren, beantwortet werden sollte. Dieser bunte Mix wird von Nida-Rümelin nicht nur vielschichtig beschrieben, sondern auch umsichtig analysiert – daraus resultieren zwar manche Redundanzen, aber es ergibt auch ein umfassendes Bild der Problematik, das hier nur durch einige zentrale Stichworte skizziert werden kann: Mit Blick auf die Migranten dürfe nicht nur die persönliche Not der Fliehenden, sondern müssten auch die Erwartungen der Familien und der Braindrain in der Heimat einbezogen werden. Insbesondere die Armutsmigration sei politisch fatal, weil sie die Region noch weiter ausbeute. Hinzu kommen negative Effekte in den Gastländern, in denen zwar die oberen Schichten von den preiswerten Arbeitskräften profitierten, die niedrigeren Schichten hingegen weiter belastet würden, weil es neue Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnraum gebe. Eine Verbesserung der Lage der „Bottom Billion“ werde so jedenfalls nicht erreicht.

Nun gebe es aber schlicht einen wirtschaftlichen Sog: Die Flüchtlinge werden vor allem nach Europa kommen, weil und solange dort bessere Löhne und Lebensbedingungen gegeben seien. Um diese Dominanz wirtschaftlichen Denkens und Handelns zu brechen, müsse der Primat der Politik wieder hergestellt werden, um dann die Regeln für den Markt aufstellen zu können, auf die letztlich auch die Marktwirtschaft selbst angewiesen sei, um die globalen Güter bereitzuhalten und um auch das Sozialkapital einzubeziehen. Nur politisch könne und müsse dafür gesorgt werden, dass die Migration so geregelt werde, „dass sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt“ (144). Dazu zähle mit Blick auf die Herkunftsländer die finanzielle Kompensation der Ausbildungskosten und des Braindrain – was nebenbei bemerkt beim Profifußball schon lange praktiziert wird. Und für die Gastländer gelte, dass ein Gastrecht nicht identisch sei mit der Pflicht zur Aufnahme. Vielmehr sei es auch ethisch legitim, Grenzen zu setzen und damit anderes auszugrenzen – dies sei schlicht die Rückseite des individuellen wie kollektiven Selbstbestimmungsrechtes, das eben nur in der unmittelbaren Not übersteuert werden dürfe.

Nun gesteht Nida-Rümelin, dass dieser Prospekt nicht einen Idealzustand herbeiführen werde, wohl aber „manche Migrationsgründe beseitigen“ (184) könne. Und diese Politik der kleinen Schritte sei sogar (mit Amartya Sen) lobenswert, weil sie nicht in der Gefahr des Fundamentalismus oder des Utopismus stehe. Problematisch ist hingegen, dass er dazu auf einen Konsens zweiter Stufe rekurrieren muss, also auf eine „Einigkeit über das Unabstimmbare“ und ein „demokratisches Ethos“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Nur auf dieser Basis würden die konkreten politischen Maßnahmen, die immer auch Gegenstimmen aufrufen werden, Akzeptanz selbst der Gegner finden. Für diesen Primat der Politik muss man derzeit werben – und genau das leistet Nida-Rümelin auf dem Feld der Migrationspolitik, denn Migration würde besser laufen, wenn sie nicht primär durch wirtschaftliche und personale Interessen, sondern politisch gesteuert würde.

 

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