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Robert Skidelsky: Automatisierung der Arbeit: Segen oder Fluch?

26.05.2020
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Autorenprofil
Dr. Max Lüggert
Wien, Passagen Verlag 2020

Unter dem Überbegriff der „Industrie 4.0“ wird eine umfassende Neuerung von Produktionsweisen zusammengefasst, in dessen Zentrum der Einsatz automatisierter Technologie und künstlicher Intelligenz steht. Aus dieser Entwicklung ergeben sich verschiedene Folgen, die gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich wirken können und in ihren tatsächlichen Konsequenzen noch nicht voll absehbar sind. Entsprechend ist die dazugehörige Debatte von unterschiedlichen Beiträgen geprägt, die mal utopisch, mal dystopisch ausgestaltet sind. Der bekannte britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky hat sich zu diesem Thema in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Texten geäußert, von denen vier aus den Jahren 2017 bis 2019 in diesem Band versammelt sind. Im ersten Essay geht es um die Frage, wie eine vermeintliche Zukunft ohne Arbeit erdacht wurde, was diese Zukunft mit sich bringen würde und warum sie doch nicht eingetreten ist. Skidelsky verweist hierbei exemplarisch auf John Maynard Keynes, der in einem 1930 veröffentlichten Aufsatz prognostizierte, dass seine Enkelkinder nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten – eine Vorhersage, die augenscheinlich nicht eingetreten ist. Skidelsky bedient sich dabei einer kulturellen, aber auch einer volkswirtschaftlichen Erklärung dafür, weshalb Menschen in Industriestaaten weiterhin deutlich mehr als 15 Stunden in der Woche arbeiten. So sieht Skidelsky Arbeit einerseits als identitätsstiftend für den modernen Menschen, in starker Abgrenzung zur Antike, in der Arbeit (verstanden als Instrument zur Sicherung des Lebensunterhalts) Sklaven vorbehalten war. Weiterhin führt Skidelsky an, dass vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern es nicht ohne weiteres möglich ist, ihre Arbeitszeit freiwillig festzulegen und womöglich zu verringern – entweder weil ihre Arbeitgeber es nicht zulassen oder weil sie sich den Verzicht auf Einkommen aufgrund ihrer wirtschaftlich prekären Lage buchstäblich nicht leisten können.

Der zweite Essay bildet einen Anschluss an den Aspekt der sozioökonomischen Unsicherheit und befasst sich mit möglichen Beschäftigungsverlusten, die sich aus der Automatisierung ergeben. Auch hier schlägt Skidelsky einen Bogen in die Geschichte. Eindrücklich ist dabei seine Schilderung der Entwicklung im 19. Jahrhundert, als es in Europa durch die Einführung von Maschinen zu einem ähnlichen Disruptionsschub wie heute gekommen ist. Die Folge war jedoch kein Verlust an Arbeitsplätzen, was sich vor allem durch zwei Kompensationsmechanismen erklärt: eine erhebliche Senkung der Arbeitszeit und nicht zuletzt auch die massive Emigration, die in dieser Zeit von Europa nach Nord- und Südamerika erfolgte. Für die aktuelle Situation ergibt sich allerdings daraus die Schlussfolgerung, dass Kompensationsmechanismen überhaupt bestehen müssen. Es muss gesellschaftlich möglich sein, die Wirkung von Disruptionen darauf abzustimmen, wie die Gesellschaft diese auch verarbeiten kann. An dieser Stelle äußert sich Skidelsky auch mit klaren Schlussfolgerungen, darunter eine Verlangsamung der Automatisierung und die Abfederung möglicher prekärer Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel durch Einkommensgarantien.

Im dritten Essay setzt sich der Autor detailliert mit den anthropologischen Vorstellungen einiger Verfechter von künstlicher Intelligenz auseinander. Bei diesen Verfechtern sieht er vor allem den grundlegenden Gedanken ausgeprägt, menschliche Unwägbarkeiten auf technischem Wege überwinden zu wollen, insbesondere hinsichtlich der Bereitstellung und Verarbeitung von Informationen. So soll der Mensch als „begrenztes, intertemporales, stochastisches Optimierungsproblem“ (54) darin unterstützt werden, jede Aufgabe die er sich gerade setzt – sei es den Weg zu Arbeit zu finden oder ein für ihn spannendes Buch zu entdecken – besser zu erledigen. Dieser Ansicht widerspricht Skidelsky entschiedenen. Er stellt nicht nur heraus, dass er diese mögliche menschliche Zukunft als nicht besonders wünschenswert erachtet, sondern er hinterfragt auch einige ihrer grundlegenden Prämissen.. So sieht er Kultur als eine der Quellen menschlicher Intelligenz – ein Punkt, den Maschinen zwangsläufig nicht erreichen können. Und auch eine vermeintlich „starke“ künstliche Intelligenz ist in letzter Konsequenz weiterhin nicht mehr als eine fortlaufende Reihe von Prozessen, die nach bestimmten Regeln optimiert werden, wobei diese Regeln nicht mehr durch ein Programm vorgegeben, sondern durch die künstliche Intelligenz selbst erzeugt werden.

Der letzte Beitrag des Bandes unterscheidet sich grundsätzlich von den vorherigen. Handelt es sich bei den ersten drei Texten um Vorträge, die in die schriftliche Form überführt wurden, steht am Ende des Buches ein Bericht zum Thema Arbeitszeitverkürzung, der durch die Labour Party in ihrer Rolle als britische Oppositionspartei in Auftrag gegeben wurde. In diesem Bericht schildert Skidelsky einige konkrete Beispiele der Arbeitszeitverkürzung aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu mehreren Schlussfolgerungen: Die Verkürzung der Arbeitszeit erscheint Skidelsky als von den meisten Menschen gewünscht und ethisch geboten. Unter der derzeitig bestehenden Struktur eines vergleichsweise stark ausgeprägten Dienstleistungssektors könne die zunehmende Automatisierung nur schwer in Arbeitszeitverkürzung überführt werden. Zudem müsse die starke Fokussierung auf Finanzlogiken und die Erzielung wirtschaftlichen Wachstums überdacht werden.

Der zusammengestellte Band erfasst das Thema Automatisierung nur in Facetten, was angesichts des Umfangs auch nicht verwundern sollte. Weitergehende Gedanken zu Themen wie globalen Produktionsketten, der Rolle der Geschlechter im Wirtschaftsleben und der Gefahr einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung entlang der beruflichen Stellung werden zwar angeschnitten, aber nicht weiter ausgeführt. Auch ist das Buch keine in sich geschlossene Studie, die einen klaren Argumentationsstrang verfolgt. Dennoch finden sich in den Beiträgen viele wertvolle gedankliche Anstöße, um sich mit der Zukunft einer weiter automatisierten Gesellschaft auseinanderzusetzen.

 

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