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Spielregeln, Sprache und Verhalten in Parlamenten. Oder: was Demokratie mit Umgangsformen zu tun hat

23.06.2017
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Prof. em. Dr. Wolfgang Zeh, Bundestagsdirektor a. D.

high school football keithjj pixabayKlare Regeln erleichtern ein faires Miteinander. Foto: keithjj / pixabay

 

„Abg. Ritter von L. ergreift ein Fauteuil und schleudert es gegen den Abg. P. [...] Rhythmischer Lärm von rechts mittels Pultdeckeln und Kochtöpfen. [...] Die Ausführungen des Abg. L. sind nicht zu verstehen. [...] Abg. von B. bemächtigt sich der Glocke des Präsidenten...“

Über solches und dergleichen mehr – Faust- und Ringkämpfe, auch ein gezogenes Terzerol, das dem Abgeordneten jedoch von Kollegen entwunden wurde, berichtet das Stenographische Protokoll der Sitzungen des österreichischen Herrenhauses – daher der Name – wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Der Vielvölkerstaat der k. u. k-Monarchie, hysterisiert und fasziniert von nationalistischer, ethnischer und antisemitischer Aggressivität, war parlamentarisch am Ende, noch vor seinem staatsrechtlichen Exitus im Krieg. Auf der Besuchergalerie des Parlaments fanden sich abends nach Oper und Souper Damen und Herren in Frack und Abendkleid ein, um sich an den Tumulten zu delektieren. Mark Twain, der von September 1897 bis Mai 1899 in Wien lebte, hat seine Eindrücke in Artikeln wie „A Memorable Sitting“ und „Curious Parliamentary Etiquette“ in Harpers New Monthly Magazin (Vol. 96 , März 1898) publiziert. Vielleicht ist ihm damals seine auf den ersten Blick nur sarkastische Sentenz eingefallen: „Demokratie beruht auf drei Prinzipien: Erstens der Freiheit des Gewissens, zweitens der Freiheit der Rede, und drittens der Klugheit, von beiden keinen Gebrauch zu machen.“

Nur auf den ersten Blick sarkastisch – warum? Weil Demokratie tatsächlich nur überlebt, wenn die Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht pausenlos, rücksichtslos und hemmungslos eingesetzt werden. Auch in Wien waren den Raufereien im Parlament verbale Anwürfe vorausgegangen, immer krasser werdende Beleidigungen und Verleumdungen, immer heftigere Obstruktionen gegen die hilflosen Versuche des sitzungsleitenden Präsidenten, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Unaufhörlich beriefen sich alle auf ihr Rederecht und ihre Gewissensfreiheit. Alle waren zutiefst überzeugt von ihren berechtigten Anliegen, man fühlte sich immer nur vom Gegner provoziert und war ständig zutiefst empört.

Gibt es also ein Mäßigungsgebot „nur“ für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie? So wäre die Frage falsch gestellt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus (keiner, mit dem man auf das Pult trommelt): Das gewählte Parlament ist erst das Instrument, mit dem politische Leidenschaften und Interessen gezähmt und gemäßigt werden sollen in einem Verfahren, welches Verhandlung, Vergleich und Verständigung ermöglicht. Das ist die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Willensbildung, die ihre Ergebnisse durch ein erträgliches Verfahren hinnehmbar macht, besonders für die, welche für andere Ergebnisse gekämpft haben. Sicherste Überzeugungen, tiefste Gewissheiten, unbedingte Notwendigkeiten – sie sind nur in autokratischen und totalitären Systemen unbestreitbar. Demokratie verlangt und organisiert das Gegenteil: Freiheit des Meinens, Wollens und Sprechens für eine pluralistische, das heißt in Werten, Erwartungen und Interessen uneinige Gesellschaft, die dennoch immer wieder mit sich selbst einig werden muss, um nicht an ihren Gegensätzen zugrunde zu gehen.

Freie Wahlen und durch sie hervorgebrachte Parlamente sind nicht ein ideales, aber das bisher nirgendwo übertroffene Mittel dafür. Regiert wird schließlich in allen politischen Systemen, solchen und solchen. Worauf es ankommt, ist die Legitimationskraft des Verfahrens, mit dem gestritten und entschieden wird. Auch mit Plebisziten mögen einzelne Entscheidungen getroffen werden können – solange eine ihrerseits demokratisch legitimierte Regierung vorhanden ist. Anderswo in der Welt rufen die Menschen, die gegen unerträgliche Regime auf Straßen und Plätzen Freiheit und Gesundheit aufs Spiel setzen, nicht nach Regierungen, sondern nach Parlamenten. Von denen sollen, sofern sie frei gewählt werden, demokratisch legitime Regierungen geschaffen und kontrolliert werden. Das ist die große Zivilisationsleistung des Parlamentarismus: dass er, wie Karl Popper es unübertrefflich kurz ausgedrückt hat, nicht nur eine legitime Regierung schafft, sondern auch ermöglicht, dass man sie wieder loswerden kann – „ohne dass ein Schuss fällt“.

Demokratische Verhältnisse sind auf das „Parlare“ angewiesen, auf das gewaltfreie Verhandeln in sogenannten Debatten. Das kommt von „debattre“, ursprünglich aufeinander einschlagen, freilich verstanden als verbaler „Schlagabtausch“. Damit das nicht in Sprechchöre und gegenseitiges Niederbrüllen übergeht und in Gewalt endet, muss es geordnet und geregelt und müssen die Regeln verbindlich bleiben, besonders auch für Minderheiten. Demokratie geht im Mehrheitsprinzip alleine nicht auf, sondern beginnt erst mit dem Schutz oppositioneller Betätigung. Mit Mehrheit kann man überall entscheiden, im Wapnatak der Germanen, im Konklave für die Papstwahl oder auch in der Wandergruppe, ob man linksherum oder rechtsherum abbiegen soll. Wir pflegen zu sagen, so sei es demokratisch, aber das ist eine rudimentäre Vorstellung. Die Tyrannei von Mehrheiten kennen wir aus der Endphase der Französischen Revolution. Alexander Hamilton hat das übrigens schon vorher gewusst, als er im „Federalist“ 1788 warnte, 173 Despoten könnten sicherlich ebenso unerträglich sein wie ein einziger.

Parlamentarismus muss also, wenn er demokratisch sein soll, den politischen Gegner gelten lassen, mehr noch: ihn wollen mitsamt seinen abweichenden Vorstellungen. Nur dann bleibt das gesamte System lernfähig. Das setzt die Erkenntnis der jeweiligen Mehrheit voraus, dass sie nicht im Besitz der Wahrheit ist, sondern nur eine begrenzte Befugnis zur Entscheidung hat. Und es setzt noch etwas voraus: Die Spielregeln, denen man sich im politischen und parlamentarischen Diskurs unterwirft, dürfen schon als solche nicht rigoros eingesetzt und bis zum letzten ausgereizt werden. Das provoziert nur die Gegenseite, ebenfalls unerbittlich auf jede Rechtsposition zu pochen, mit der die gerade handlungsbefugte Mehrheit behindert werden kann. Die so erzeugte Eskalation zerstört den für Verhandlungen erforderlichen Grundkonsens. Notwendig ist eine Art ungeschriebene „70-Prozent-Regel“ bei der Nutzung von Rechten (das gilt übrigens auch für das allgemeine Rechtsleben, wenn man nicht zum Prozesshansel werden will).

Das alles muss auch die jeweilige Minderheit für sich gelten lassen. Gegen eine regierende Mehrheit zu opponieren, bedeutet nicht von vornherein besseres Wissen und gerechteres Wollen. Auch eine NGO ist nicht schon deshalb von edleren Motiven durchdrungen, weil sie eben „non government“ ist. Und wenn zum Beispiel Bildungsbürger gegen „Stuttgart 21“ auftreten, dürfen sie das ganz ohne Zweifel, weil das parlamentarisch geschaffene Grundgesetz es ihnen ermöglicht. Wenn sie aber erzählen, ihrem Anliegen nicht zu entsprechen sei undemokratisch, unterliegen sie einem Missverständnis.

Dieses Missverständnis ist seit einiger Zeit ziemlich populär. Was mir nicht passt, ist undemokratisch, verfassungswidrig sowieso, und verstößt selbstverständlich gegen die Menschenrechte. Wenn Politiker, Publizisten, Verbandsvertreter usw. das im politisch-öffentlichen Sprachspiel von sich geben, mag das angehen. Anders können sie sich medial kaum noch bemerkbar machen. Also muss, was der politische Gegner vorbringt, dauernd unerhört sein, unsäglich, von dumpfen Vorurteilen bestimmt, verlogen, zynisch usf. – am besten im Doppelpack, „zynisch und menschenverachtend“.

Schlecht ist nur, dass das Publikum anscheinend dazu neigt, das ernst zu nehmen. Das ist erst durch die elektronischen Kommunikationsmedien richtig erkennbar geworden. Der rüde Ton, in dem dort mit abgelehnten Meinungen, Verhaltensweisen oder Gruppen umgegangen wird, ist seit einiger Zeit Gegenstand von Befremden, Befürchtungen und Diskussionen über Gegenmaßnahmen. Woher das kommt, ist noch nicht umfassend beantwortet. Das wäre freilich nützlich für die Frage, ob man etwas dagegen tun müsste und das dann auch könnte.

Das werden wir hier nicht klären können, aber wir können der Frage nachgehen, was das im Rahmen parlamentarisch-repräsentativer Willensbildung bedeutet. Die Unterschiede zwischen der Meinungsbildung im Internet und der im parlamentarischen Verfahren liegen auf der Hand. Aber ein Aspekt dieser Unterschiedlichkeit erscheint besonders interessant. Denn woher stammt die Überraschung über die Sprache in den elektronischen Medien? Offenbar doch aus der Abwesenheit von Regeln für diese Art der Kommunikation. Wir sind daran gewöhnt, dass die politisch-öffentliche Meinungsbildung – übrigens auch der private zwischenmenschliche Umgang – in bestimmten Bahnen abläuft, die durch Regeln vorgezeichnet sind. Man kann gelegentlich aus der Bahn ausscheren, die Regeln einmal verletzen, aber sie bleiben bestehen, gewinnen sogar Bestätigung in der Beobachtung von Abweichungen.

Diese scheinbare Selbstverständlichkeit spiegelt sich, historisch und aktuell, im Verfahren der Parlamente. Zu einem guten Teil hat sie dort sogar ihre Wurzeln. Der Gewerkschaftstag, der Ärztekongress, die Diskussionsveranstaltung der Vereinigung für Parlamentsfragen, das Seminar jeder Akademie und manchmal sogar die Talkshow: Alle zeigen das Muster des Diskurses. Dazu gehören Elemente wie Rede und Gegenrede, Eingehen auf den Vorredner, Begrenzung der Redezeit, ein für die jeweilige Debatte zuvor festgelegtes Thema, und eine gewisse Bandbreite zulässiger Redeweisen. Das findet so im Parlament statt. Es heißt dort Aufteilung der Redezeit auf die Fraktionen, abwechselnde Worterteilung an Regierung und Opposition, vereinbarte Tagesordnung, limitierte Redezeit für jedes Thema und für jeden Redner, und wenn nötig Eingriff des Sitzungsleiters durch Hinweis und Ordnungsruf. In der parlamentarischen Geschäftsordnung ist das weiter ausdifferenziert, um möglichst für jeden Streitfall eine Regel zu haben, mit der er beigelegt, jedenfalls aber der Fortgang der Debatte sichergestellt werden kann. Wo keine geschriebenen Regeln vorliegen, wird auf ungeschriebene zurückgegriffen, auf Üblichkeiten, Bräuche und „case law“, also Beispiele aus früheren Handhabungen.

Das funktioniert nur deshalb, weil es sich um formale Verfahren handelt, nicht um sogenannte Werte. Solche stehen zwar hinter dem Regelkanon als ganzen, aber sie geben nicht die Direktiven für Entscheidungen im konkreten Fall. Wie lange einer reden kann, wann er an der Reihe ist oder wie leidenschaftlich er verbal um sich schlagen darf, bestimmt sich nicht nach der Hochwertigkeit, Unbedingtheit oder Unbezweifelbarkeit seines Anliegens. Sobald das zugelassen wird, kommt die freie, faire und ergebnisoffene Verhandlung an ihr Ende – vielleicht nicht sofort, aber absehbar. Der „Wertediskurs“ ist geeignet, politische Feindschaften zu begründen und zu vertiefen, persönliche Aversionen anzuheizen und zu rechtfertigen. Nichts kann er beitragen, wo es darauf ankommt, weiter miteinander reden, getroffene Entscheidungen revidieren und auch morgen noch auf Veränderungen und Machtwechsel hinarbeiten zu können.

Dafür kommt es entscheidend darauf an, eine gemeinsame Sprache zur Verfügung zu haben, deren Formen und Begriffe eine relative Konstanz besitzen, um dauerhaft verstanden zu werden. Die im politisch-öffentlichen Diskurs gebrauchte Sprache ist nicht nur ein Element unter mehreren, sondern das wichtigste, genau genommen das einzige. Wir denken wie wir sprechen, mehr noch, wir denken nur in sprachlicher Form. Versuchen Sie einmal, einen beliebigen Gedanken zu fassen – er verwandelt sich im selben Augenblick in Worte, und die Worte führen Bedeutung herauf. Was Wilhelm von Humboldt dazu generell gesagt hat, gilt für das Sprechen über Politik umso mehr: „Die Sprache der Völker ist ihr Geist, und ihr Geist ist die Sprache – man kann sich beide nie identisch genug denken.“

Wie es gegenwärtig bei uns aussieht mit dem „Geist“, müssen wir nicht lange untersuchen. In der Sprache öffentlicher Auseinandersetzungen hat sich eine Attitüde von Gereiztheit und Unduldsamkeit breitgemacht, aus der heraus die Akteure sich offenbar berechtigt fühlen, zu immer rigoroseren Verurteilungen und Verunglimpfungen des Gegners zu greifen. Es genügt nicht mehr, gegnerische Standpunkte zu widerlegen oder, wie es vor längerer Zeit noch hieß, sie zu „hinterfragen“. Neuerdings muss, wer anders denkt, mindestens der völligen Ahnungslosigkeit bezichtigt werden, besser noch systematischer Lüge, übelster Gesinnung und verwerflicher Absichten. Es ist nicht so, dass es das früher nicht gegeben hätte. Im „Luther-Jahr“ darf man an die Sprache erinnern, mit der der Reformator über seine Gegner hergezogen ist („Dreck“ für den Dr. Eck und dergleichen). Was heute auffällt, ist aber die verweigerte Bereitschaft zur Relativierung in den weniger schicksalhaften Auseinandersetzungen des Alltags, so als fühle sich jeder aus jedem Anlass wie ein zum Äußersten getriebener Martin Luther, als gehe es dauernd um alles, um Gut oder Böse, Himmel oder Hölle.

Was noch auffällt ist der Umstand, dass viele von denjenigen keine Bedenken mehr zu kennen scheinen, die über den Verlust von Maß und Anstand in der öffentlichen Sprache klagen. Von der „Verrohung der Gesellschaft“ und vom „Angriff der digitalen Barbarei auf die Zivilisation“ (Spiegel vom 3. Juni 2017, S. 51) liest man in eben dem Nachrichtenmagazin, das auf dem Titel den US-Präsidenten Trump zeigte, wie er den blutenden Kopf der Freiheitsstatue emporhält, den er ihr abgeschlagen hat, nach dem Vorbild der Henker in den Propagandavideos des IS. Auf einem Blatt in Großbritannien ist das Profil von Trump mit einer Zielscheibe verziert, die Zehn auf der Schläfe. In der Weimarer Republik wurden bereits in den Zwanzigerjahren Plakate geklebt mit Aufschriften wie „Tötet Liebknecht!“ und „Knallt ab den Walther Rathenau“. Wie interessant, dass derlei heute mit der sonntagsrednerischen Warnung zusammengeht, Worte könnten nur allzu leicht zu Taten führen. Ähnlich erstaunlich wirkt es, wenn ein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender eine ordinäre Anpöbelung des türkischen Präsidenten Erdoğan als Ziegenficker zum Kunstwerk hochjubelt und das damit begründet, der Verfasser habe ja zuvor angekündigt, dass er so etwas nicht sagen dürfe – also sei es Satire und von der Kunstfreiheit nach Artikel 5 GG gedeckt. Das ist Schlauheit auf einem Niveau, für das sich die zehnjährige Lisa Simpson schämen würde. Wenn ich jetzt Herrn Böhmermann als verlogenen Geschäftemacher und übelsten Anpasser an die mediale Verrohung bezeichne und vorausschicke, dass ich das nicht tun darf, wäre das demnach von der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 GG gedeckt.

Mit solchem Verhalten wird die Hemmungslosigkeit weiter angetrieben, über die man angeblich besorgt ist. Die Normen für den öffentlichen Umgang werden von oben gesetzt. Wieso sollen die Bürger sich mäßigen, wenn ihnen von maßgeblichen Akteuren vorgeführt wird, was geht? Wenn man Journalisten fragt, warum sie so etwas machen, behaupten sie, die Leute wollten das so. Es ist ja wahr: Die Menschen sind wie die Leute. Aber die Berufung auf die Faszination des Publikums durch skandalträchtige Aktionen ist erstens unwahrhaftig und rechtfertigt zweitens nicht alles. Die Massenmedien und vollends die öffentlich-rechtlichen haben vielmehr einen Auftrag bezüglich der Sprache, die den Geist der Zeit, den Zeitgeist prägt. In dem Maße, in dem sie diesen Auftrag zurückweisen, geben sie die Rechtfertigung ihrer Sonderrolle im politisch-gesellschaftlichen Diskurs preis. Über das „demokratische Wächteramt“ muss man dann nicht mehr lange reden. Der tägliche Trump-Exorzismus ist ein gutes Beispiel dafür, wie man den Erscheinungen insgeheim in die Hände arbeiten kann, gegen die man sich mit großer demokratischer Geste aufbäumt. Weil die Leute es so wollen.

Die Parlamente und die parlamentarisch gewählten Politiker lassen gelegentlich Distanz zur öffentlichen Erregtheit erkennen. Das zeigt, dass sie die Verantwortung aus ihrem Mandat und auf ihren Fachgebieten im Prinzip ernst nehmen. Wer Außenpolitik macht, wird sich vernünftigerweise nicht an der fernpsychologischen Begutachtung anderer Politiker beteiligen. Aber die Distanz wird nicht immer deutlich genug ausgesprochen. In der aktuellen geistigen Verfassung wäre eine Sprache angebracht, die ein bewusst anderes Angebot an die gesellschaftliche Meinungsbildung richtet. Es ist nicht hilfreich, in die Scheinanalyse eines „postfaktischen Zeitalters“ einzustimmen und sich darüber aufzuregen, dass jemand von „alternativen Fakten“ redet. Es gibt keine alternativlosen Fakten, mindestens nicht in der Politik, andernfalls kommen die doch als „die Wahrheit“ daher. Was jemand als eine Tatsache behauptet, kann und darf ein anderer bezweifeln, und wäre sein Zweifel noch so abwegig. Über Abwegigkeit lässt sich reden, nicht aber über das Äußerungsrecht aller Diskussionsteilnehmer. Wenn das nicht mehr gilt, ist der Weg in die Dogmatik offen.

Dogmen haben die Aufgabe, abweichende Meinungen zuerst „unsäglich“, also eigentlich nicht sagbar erscheinen zu lassen, ihre öffentliche Äußerung sozial und kulturell zu sanktionieren, und sie dann riskant und gefährlich zu machen. Dafür ist, wie wir aus der Geschichte wissen, am Anfang keine Gewalt nötig, sondern für längere Zeit nur sprachliche Dominanz, „herrschende“ Meinungen, der Konformismus aufgrund des menschlichen Bedürfnisses, nicht alleine zu stehen. Dass uns seit Jahrzehnten Individualismus gepredigt wird, Unangepasstheit, Tabulosigkeit, Provokation, Aufmüpfigkeit, der aufrechte Gang und der eigene Weg und dass man um Gottes Willen nicht „brav“ sein darf, und dass zugleich in dieser Gesellschaft junge Leute in Verzweiflung geraten wegen ihrer falschen Turnschuhe, ist soziologisch höchst aufschlussreich. Nach aller Erfahrung wird immer dasjenige besonders betont, was gerade verlorengeht, derzeit also wohl die gefeierte Individualität im Reden und Denken.

Parlamente sind in diesem Punkt gefordert wie selten. Wenn sich öffentliche Meinungen und Stimmungen gleichförmig zu bewegen scheinen wie Fahnen im Wind, darf die parlamentarische Willensbildung nicht mitflattern. Die allgemeine Unruhe über den Stil, in dem Gegensätze ausgetragen werden, verweist auf einen veränderten Bedarf nach Seriosität in der Politik. Es wäre gut, wenn dieser Bedarf in den Debatten der Parlamente aufgenommen, bestätigt und gefördert würde. Wahrscheinlich würde es sich sogar politisch auszahlen.

Die parlamentarischen Spielregeln sind nicht nur Gepflogenheiten, die man ebenso gut anders arrangieren könnte. Die Demokratie ist angewiesen auf einen Ort, an dem nicht nur dem tagesaktuellen Trend nachgejagt wird. Das ist natürlich nicht leicht, schließlich ist es für Parlamentarier nicht wie für unsereinen nur angenehm, die allgemeine Stimmung zu treffen, sondern nahezu lebenswichtig. Politiker wollen gewählt werden, und das müssen sie auch wollen. Demokratische Handlungsbefugnis wird nicht durch edle Absichten legitimiert, sondern durch die Zustimmung von Mehrheiten. Es ist deshalb mehr als albern, gewählten Politikern vorzuwerfen, sie „schielten“ nach Wählerstimmen, oder schwierigere Probleme müssten „aus dem Wahlkampf herausgehalten“ werden. Das ist erstens eine Denunziation des Wählers, als sei er nicht befugt oder einfach zu doof, seine Wahlentscheidung auf Aussagen zu komplexen Themen zu stützen, und zweitens eine Selbst-Denunziation der Politiker, als müssten ihre Wahlaussagen so unseriös sein, dass damit zu schwierigeren Themen nicht geredet werden könne.

Entscheidend wird sein, dass die vom Parlament entwickelte und erläuterte staatliche Willensbildung der Versuchung widersteht, den medial-öffentlichen Stil nachzuahmen. Die Bürger sehnen sich nicht danach, von Politikern und Parteien pausenlos über Twitter und E-Mail belehrt zu werden. Sie sehnen sich nicht danach, dauernd irgendwo „abgeholt“ und irgendwohin „mitgenommen“ zu werden. „Familiarity breeds contempt“ (Anbiederung erzeugt Verachtung). Sie sehnen sich auch nicht nach der Wahrheit, „Lügenpresse“ hin oder her, sondern nach Vernunft, Fairness, Anstand und vielleicht auch danach, nicht dauernd mit Aussagen der Politik darüber behelligt zu werden, wie und mit welcher „Strategie“ man sie auf die jeweils eigene Seite ziehen will. Die repräsentative Demokratie hat schon auch die Aufgabe, die Menschen zu repräsentieren, wie sie sein können und sein wollen, nicht nur, wie sie sind. Es wäre nicht nur schön, sondern ganz außerordentlich nützlich für die Haltbarkeit der parlamentarischen Demokratie, wenn im politischen Diskurs die hergebrachte Norm des zwischenmenschlichen Umgangs ihren Platz behielte, die da lautet: Sowas tut man einfach nicht.

 

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