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Ursula Münch / Heinrich Oberreuter / Jörg Siegmund (Hrsg.): Komplexe Farbenlehre. Perspektiven des deutschen Parteiensystems im Kontext der Bundestagswahl 2017

25.04.2022
1 Ergebnis(se)
Autorenprofil
Prof. em. Dr. Oscar W. Gabriel
Frankfurt a. M./New York,
Campus Verlag 2021

Dieser Tagungsband liefere Anstöße für eine Diskussion über die Zukunftsperspektiven des deutschen Parteiensystems nach den Bundestagswahlen 2017, schreibt Rezensent Oscar Gabriel. So werde unter anderem das Wahlergebnis analysiert, etwa die Tatsache, dass die Parteien der Mitte geschwächt, die Flügelparteien hingegen und der Ost-West-Gegensatz im Wählerverhalten gestärkt worden seien. Gefragt werde nach den Gründen des langwierigen Regierungsbildungsprozesses. Gabriel moniert die Heterogenität der Beiträge, es fehle eine schlüssige Konzeption, die alle Autor*innen hätten umsetzen können. (ste)

Eine Rezension von Oscar Gabriel

Publikationen aus Anlass von Bundestagswahlen haben in Deutschland eine lange Tradition. Der Vorläufer zu den „Blauen Bänden“ erschien unter der Herausgeberschaft von Max Kaase als PVS-Sonderheft 2/3 1977, beginnend mit der Bundestagswahl 1980 werden die Blauen Bände alle vier Jahre publiziert. Seit der Gründung der German Longitudinal Election Study (GLES) bilden die vielfältigen in diesem Projekt erhobenen Daten die Basis für zwei von den GLES-Primärforschern und ihren Mitarbeitern verfasste Sammelbände, hinzu kommen regelmäßig weitere Einzelstudien und Herausgeberbände verschiedener Autoren und Autorengruppen. Wahlen zum Deutschen Bundestag erfreuen sich somit als Forschungsgegenstand einer großen Beliebtheit und einer breiten Rezeption in der politikwissenschaftlichen Profession.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, Studien über Bundestagswahlen auf den Markt zu bringen, die durch ihre Fragestellungen, Forschungsansätze, Methoden und Datengrundlagen einen wissenschaftlichen Mehrwert bringen. Dies gilt insbesondere für Tagungsbände, die in der Regel nicht auf einem klaren Publikationskonzept basieren, sondern das zusammentragen, was Referent*innen auf Tagungen ausgeführt und nachträglich mehr oder minder stark überarbeitet haben. Dies charakterisiert auch die von Ursula Münch, Heinrich Oberreuter und Jörg Siegmund herausgegebene Bestandsaufnahme des deutschen Parteiensystems im Umfeld der Bundestagswahl 2017. Wie die Auswahl der Themen und Autor*innen erkennen lässt, darf man erwarten, dass der bunte Mix an Themen und die Rekrutierung von Autor*innen mit sehr unterschiedlichem professionellem Hintergrund Anstöße für eine Diskussion über die Zukunftsperspektiven des deutschen Parteiensystems liefert, jedoch weniger dazu geeignet ist, die Wahl- und Parteienforschung durch neue Erkenntnisse zu bereichern.

Der Band gliedert sich in drei Teile, deren Einzelbeiträge sich sehr heterogen darstellen. Statt einer Einführung, die die Leser*innen über die Intentionen der Herausgeber informiert und eine Verbindung zwischen den einzelnen Kapiteln herstellt, finden sich unter der Überschrift „Einführung“ drei Artikel, bei denen nicht so recht erkennbar ist, was sie thematisch miteinander verbindet und worin ihr einführender Charakter besteht. Teil zwei enthält wahlsoziologische Analysen, Teil 3 Beiträge aus dem Bereich der Wahlkampfkommunikation und Teil 4 überwiegend Analysen des Wahlkampfes und des Wahlergebnisses einzelner Parteien und der Regierungsbildung.


Am ehesten erfüllt das von Heinrich Oberreuter verfasste Kapitel „Umbruch? Eine Wahl und ihre Konsequenzen“ die Funktion der Einleitung. Es beginnt mit einer kritischen Darstellung des ungewöhnlich langwierigen Prozesses der Regierungsbildung und führt diese einerseits auf das schwierige Wahlergebnis, andererseits auf Konflikte innerhalb der Unionsparteien und der SPD zurück. Erst nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition und einer Intervention des Bundespräsidenten konnten sich die bisherigen Koalitionsparteien doch noch zu einer Fortsetzung der Großen Koalition durchringen. Kritisch zu hinterfragen ist die Feststellung Oberreuters, eine Minderheitsregierung sei als Alternative nicht verfolgt worden, weil sie dem Selbstverständnis einer parlamentarischen Demokratie und der politischen Kultur Deutschlands (noch) nicht entspreche. Das mag so sein, kann aber nicht für alle Ewigkeit gelten. Wie das Beispiel der nordeuropäischen Staaten zeigt, funktionieren Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien und leisten keine schlechtere Arbeit als übergroße Koalitionen. Es fördert dagegen nicht unbedingt die Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreudigkeit von Regierungen, wenn sie, wie Oberreuter zu Recht feststellt, unwillig und mit infrage gestelltem Führungspersonal geschlossen wurden.

Der zweite Teil des Kapitels beschäftigt sich mit einer Erklärung des Wahlausganges. Trotz einer guten Wirtschaftslage wurden die Parteien der politischen Mitte, insbesondere die Regierungsparteien, geschwächt und die Flügelparteien gestärkt. Der bereits zuvor vorhandene Ost-West-Gegensatz im Wählerverhalten vertiefte sich. Angesichts der neueren politischen Entwicklungen in Westeuropa halte ich Oberreuters Folgerungen aus dem Wahlergebnis keineswegs für einen riskanten Ausblick, sondern für plausible Annahmen. Wie im Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts erreichen die Traditionsparteien der Nachkriegszeit in nahezu allen westeuropäischen Demokratien nur noch in Ausnahmefällen Resultate jenseits der Vierzigprozentmarke. Die negativen Folgen der politischen Kommunikation in sozialen Netzwerken für Aufrechterhaltung einer toleranten und von wechselseitigem Respekt geprägten politischen Gemeinschaft können auch von Digitalisierungsbegeisterten nicht in Abrede gestellt werden. Repräsentativ-demokratische Institutionen und Prozesse verlieren zugunsten plebiszitärer Verfahren an Bedeutung. Alle diese Faktoren beeinträchtigen die Fähigkeit der Parteien, geeignetes Führungspersonal hervorzubringen.

Das zweite Kapitel (Jörg Siegmund „Scheitern mit Ansage“) ist im Einführungsteil zwar falsch platziert, es gibt aber dennoch einen lesenswerten Überblick über die wiederholt gescheiterten Versuche, das Bundestagswahlrecht zu reformieren. Das Kapitel enthält eine Darstellung der Regelungen des derzeit geltenden personalisierten Verhältniswahlrechts und der durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführten Erhöhung der Zahl der Abgeordneten. Der Autor beschreibt die vom Verfassungsgericht formulierten Monita an vermeintlichen Verstößen gegen den Grundsatz gleicher Stimmengewichte und die von den Machtinteressen der Parteien getragenen Reformvorschläge. Als Nutznießer der Überhangmandate leisten die CDU und CSU den stärksten Widerstand gegen eine Reform, die auf eine Reduzierung der Zahl der Direktmandate hinausläuft. Natürlich sind die von Grünen, FDP und Linken vorgelegten Reformvorschläge ebenfalls von Eigeninteressen geleitet, denn vor allem die kleineren Parteien, die keine oder nur wenige Direktmandate gewinnen, profitieren von einer Umverteilung der Gewichte von Direkt- und Listenmandaten. Im Schlussteil seines Beitrages diskutiert Siegmund die bei einer Bewertung einer Wahlrechtsreform anzuwendenden Kriterien, nämlich die Repräsentation und Partizipation, die Einfachheit und die Legitimität. Er kommt insgesamt zu einem positiven Urteil über die demokratische Qualität des Wahlrechts, sieht aber zugleich den aus dem politischen Wandel resultierenden Änderungsbedarf. In der ausgewogenen Diskussion fehlt allerdings eine grundlegende Überlegung. Die in Deutschland geführte Wahlrechtdiskussion ist eine sehr deutsche Erscheinung. In anderen Ländern kommen Wahlsysteme zur Anwendung, die – wie das relative Mehrheitswahlrecht, die disproportionale Größe von Wahlkreisen oder die Prämierung der stimmenstärksten Partei – auf den ersten Blick demokratietheoretisch bedenklicher erscheinen als das in Deutschland praktizierte System. Ist es wirklich ein so großes Problem, wenn das Bemühen um eine möglichst faire Regelung des Verhältnisses zwischen Stimmen und Mandaten zu einer Vergrößerung des Bundestages führt und aus welchen Gründen ist das so?

Im letzten der Einführung zugeordneten Essay diskutiert der ehemalige Ministerpräsident Bernhard Vogel das Spannungsverhältnis zwischen Führung und Verantwortung. Er illustriert seine Überlegungen zum Regieren in Koalitionen, zur Rolle von Fraktionen in der Parlamentsarbeit, zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern und zur Beziehung zwischen Macht und Gestaltung durch Beispiele aus seiner langjährigen politischen Arbeit, in der nach den Aussagen des Autors allerdings Erfahrungen aus einer Tätigkeit als Oppositionspolitiker fehlen. Der Beitrag zeichnet sich durch seine Anschaulichkeit und Klarheit aus. Um die Schwierigkeit einer erfolgreichen Koalitionsregierung zu beschreiben, greift Vogel auf ein Zitat von Guy Mollet zurück: „Eine Koalition ist das Kunststück, den rechten Schuh auf dem linken Fuß zu tragen, ohne Hühneraugen zu bekommen.“

Der zweite Teil des Bandes trägt die Überschrift „Wahlergebnis und Wahlverhalten“. Eine umgekehrte Reihenfolge wäre sinnvoller, da das Wahlergebnis aus dem Verhalten der Wähler hervorgeht. Die drei diesem Teil zugeordneten Beiträge sind von Mitarbeitern kommerzieller Umfrageinstitute verfasst. Nico Siegel, Roberto Heinrich und Stefan Merz von Infratest-dimap stellen in ihrer Analyse des Wahlergebnisses und seiner Hintergründe zunächst die für die Bundestagswahl 2017 typische Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse von den Groß- zu den Kleinparteien fest. Sie interpretieren dies unter anderem als Hinweis auf das Scheitern der von der CDU zuvor scheinbar erfolgreich betriebenen Strategie der asymmetrischen Demobilisierung hin. Die erst im Verlauf des Wahljahres erneut auf die politische Agenda gelangte Streitfrage der Zuwanderungspolitik kostete die CDU/CSU eine erhebliche Zahl an Wählerstimmen. Wie die Wählerbilanz zeigte, verlor die Union im Kontext der Migrationsdebatte nicht nur Stimmen an die AfD, noch stärker fiel die Abwanderung früherer Unionswähler zur FDP aus. Die Verluste der SPD flossen fast zu gleichen Teilen den Grünen, den Linken, der FDP und der AfD zu.

Ihre eingehendere Analyse der Ursachen des Wahlergebnisses präsentieren die Autoren jeweils getrennt für die im 19. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Die Union litt vor allem an der fehlenden gesellschaftlichen Mehrheit für eine liberale Migrationspolitik. Dieses Manko konnten die unverändert große Popularität der Kanzlerin und die klaren Vorteile bei der Zuschreibung von Problemlösungskompetenz nicht auffangen. Die SPD hatte in den Augen der Wählerschaft einen ungeeigneten Kandidaten nominiert, sie wies gegenüber der Union ein klares Kompetenzdefizit auf, und auch ihre Regierungsarbeit bewerteten die Wähler kritisch. Das Zusammenspiel dieser Faktoren mit einem schwachen Wahlkampf führte zum schlechtesten Ergebnis der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Linkspartei profitierte insbesondere in sozialpolitischen Streitfragen von dem schwachen Kompetenzprofil der SPD. Während sie in den alten Bundesländern Stimmengewinne erzielte, verlor sie in den neuen Ländern. Hierfür war neben ihrer Haltung in der Migrationspolitik die Etablierung der AfD als ostdeutsche Protestpartei maßgeblich. Die GRÜNEN blieben trotz einer positiven Einschätzung ihres Spitzenkandidaten Cem Özdemir und ihrer Kompetenz in der Umweltpolitik hinter den Erwartungen zurück. Maßgeblich hierfür war nach Siegel unter anderem der Umstand, dass in der breiteren Anhängerschaft der Partei die Zustimmung zur Migrationspolitik der Bundeskanzlerin besonders stark ausgeprägt war und noch größere Abwanderungen von der Union verhinderte. Das Comeback der FDP war einer allgemeinen Verbesserung ihres personellen und programmatischen Erscheinungsbildes geschuldet. Die AfD erwies sich als Nutznießerin des Streits über die Migrationspolitik und erzielte mit ihrer Strategie, diffuse Unzufriedenheit mit der politischen Lage in Proteststimmen umzumünzen, einen großen Wahlerfolg, der ihr im Bundestag die Position der drittstärksten Partei einbrachte.

Thomas Petersen (IfD Allensbach) nimmt die Dynamik des Wahlkampfes und der Regierungsbildung in den Blick. Er stellt dar, dass der Wahlkampf zunächst scheinbar ruhig verlief und von der Erwartung eines klaren Wahlerfolges der Union geprägt war. Erst im August 2017 vollzog sich ein Stimmungsumschwung, der sich unter anderem in einer wachsenden Bedeutung des Themas Politik in den Alltagsgesprächen der Bevölkerung äußerte. Zudem gab ein ungewöhnlich hoher Anteil der Befragten noch kurz vor der Wahl an, sich seiner Wahlentscheidung noch nicht sicher zu sein. Der Rückgang des Unionsanteils in der Sonntagsfrage und die Zugewinne der AfD resultierten vornehmlich aus dem Wiederaufleben des Streits über die Migrationspolitik, den nicht zuletzt der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer durch das Schüren der Debatte über eine Obergrenze für Zuwanderungen befeuerte. Der wachsende Populismus und die negativistische Berichterstattung der Massenmedien trugen ein Übriges dazu bei, die Volatilität der Wählerschaft sowie die Fragmentierung und Polarisierung des deutschen Parteiensystems zu verstärken. Aus heutiger Perspektive erscheint die Erwartung des Autors, aufgrund des in den letzten Jahren gestiegenen Vertrauens zu den politischen Institutionen sei das Klima für Populisten in Deutschland wieder rauer geworden, zu optimistisch. Tatsächlich wuchs das Vertrauen zu den politischen Institutionen und Akteuren seit 2010, ohne die Flügelparteien nachhaltig zu schwächen. Dieser Trend geht nämlich an den Teilen der Bevölkerung für populistische Parolen anfälligen Bevölkerungsgruppen vorbei. Wie die Entwicklung in der Coronakrise zeigt, ist es der AfD bei der Bundestagswahl 2021 erneut gelungen, ihr parlamentarisches Überleben durch die Mobilisierung Unzufriedener zu sichern und die Linke als ostdeutsche Protestpartei abzulösen. Ein Ende dieser Entwicklung ist derzeit nicht in Sicht.

In einem weiteren Beitrag beleuchtet Helmut Jung (GMS) die Besonderheiten des Bundestagswahlergebnisses in Bayern. Mit überdurchschnittlich starken Stimmenverlusten von über zehn Prozent erzielte die CSU das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundestagswahlen und fiel bei den Zweitstimmen deutlich unter die Marke von 40 Prozent. Wie auf der Bundesebene befanden sich die kleinen Parteien, an erster Stelle die AfD, auf der Gewinnerseite. Ursächlich für diese starken Verschiebungen in den parteipolitischen Kräfteverhältnissen waren nach Jung eine negative Einschätzung der aktuellen politischen Situation und ebenso negative Zukunftserwartungen, die vor allem aus dem Streit über die Innere Sicherheit und die Migrationspolitik resultierten. Auch die Bundeskanzlerin übte in Bayern offenbar nicht mehr die aus früheren Wahlgängen bekannte Anziehungskraft aus. Erstaunlicherweise greift der Autor die naheliegende Frage nach dem Beitrag des CSU-Vorsitzenden Seehofer zur Wahlniederlage seiner Partei allenfalls am Rande auf. Welche Rolle die angeblichen Konzessionen der CSU an die CDU in der Migrationspolitik für die Stimmenverluste der CSU im Vergleich mit dem von Seehofer geschürten Konflikt im Unionslager spielte, bleibt eine offene Frage. Allerdings ist bekannt, dass innerparteiliche Konflikte einem guten Wahlergebnis einer Partei nicht zuträglich sind.

Einer der interessantesten Beiträge leitet den vierten Teil des Bandes ein. Marcus Maurer und Pablo Jost vergleichen die Berichterstattung ost- und westdeutscher Tageszeitungen über den Bundestagswahlkampf 2017. Der Beitrag hebt sich schon durch die Vielzahl der untersuchten Tageszeitungen von den meisten einschlägigen Studien ab. Noch wichtiger erscheint aber die von den Autoren gewählte doppelte Vergleichsperspektive. Sie vergleichen einerseits Regionalzeitungen mit den ansonsten überwiegend untersuchten überregionalen Qualitätszeitungen und andererseits die Berichterstattung ost- und westdeutscher Regionalzeitungen. BILD als auflagenstärkste Tageszeitung findet in der Untersuchung allerdings keine Berücksichtigung. Die Erweiterung der Forschungsperspektive um Regionalzeitungen erscheint deshalb sinnvoll, weil sie – insgesamt betrachtet – höhere Leserzahlen vorweisen als die überregionale Qualitätspresse. Diese sehr intelligente Untersuchungsstrategie fördert interessante Ergebnisse zutage. Regionalzeitungen veröffentlichten demnach weniger Berichte über den Wahlkampf als überregionale Qualitätszeitungen, ostdeutsche Zeitungen widmeten diesem Thema weniger Beiträge als westdeutsche. Im Vergleich mit den westdeutschen Regionalzeitungen gaben die überregionalen Qualitätszeitungen und die ostdeutschen Regionalzeitungen der AfD so viel Raum wie der SPD, nur über die CDU/CSU wurde in allen drei Genres mehr berichtet. Ungleichgewichtig war auch die Berichterstattung über die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD. Was die Tendenz der Berichterstattung angeht, stachen die ostdeutschen Tageszeitungen – bei einer insgesamt ausgeprägt negativistischen Berichterstattung über Parteien und Kanzlerkandidaten – durch eine besonders negative Ausrichtung hervor. Die Kritik galt vor allem der CDU und der Kanzlerin. Das Urteil der ostdeutschen Regionalpresse fiel über die AfD zwar auch tendenziell negativ aus, aber deutlich weniger kritisch als in der Qualitätspresse und in der westdeutschen Regionalpresse. Sachthemen waren weniger präsent in den Publikationen als Personen oder Parteien.

Mit dem neuen, durch die wachsende Bedeutung digitaler Wahlkampfkommunikation bedingten Problem der Manipulation von Wählern und Journalisten durch Social Bots und Fake News beschäftigt sich der Beitrag von Thorsten Quandt und Mitarbeitern. Wie die Autoren berichten, gab es im Vorfeld der Bundestagswahl und im Verlaufe des Wahlkampfs Versuche, die politische Willensbildung durch gezielte Falschmeldungen zu manipulieren. Journalisten nahmen diese häufiger wahr als Rezipienten. Allerdings blieben die Manipulationsversuche auf Einzelfälle verschiedener Akteure, auch von Kandidaten, begrenzt und erzielten weder bei Journalisten noch im Publikum durchschlagende Wirkungen.

Zwei weitere (sehr kurze) Beiträge kommen von Wahlkampfpraktikern und bringen unterschiedlich interessante Erkenntnisse. Matthias Storath, ein Mitarbeiter der Werbeagentur der FDP, formuliert vier Thesen zum „erfolgreichen Fehlschlag“ der FDP-Wahlkampfkommunikation. Auch wenn die FDP mit der Gestaltung ihrer Werbemittel gegen alle Gesetze erfolgreicher Wahlkampfführung verstieß, gelang ihr nach Auffassung des Autors – gerade aus diesem Grunde – der Wiedereinzug in den Bundestag. Das überraschende Fazit von Storath lautet: „[W]irkungsvolle Kommunikation […] macht Dinge falsch. Und erfolgreiches ‚falsch machen‘ nennt man danach meist ‚kreativ‘, davor aber immer ‚wahnsinnig‘“ (193). Ebenso interessant wie diese überraschende Feststellung wäre eine auf Erkenntnisse der Werbepsychologie gestützte Aussage darüber gewesen, warum das so ist.

Aus der Sicht des SPD-Wahlkampfmanagers Markus Engels gibt es weniger positive Resultate zu berichten. Korrekt beschreibt er den Übergang vom Schulz-Hype zur Ernüchterung und zum desaströsen Wahlergebnis. Seine Verwunderung über das schlechte Abschneiden der SPD basiert jedoch auf Prämissen, die den Erkenntnissen der empirischen Wahlforschung – auch ihrer in diesem Band enthaltenen Beiträge – widersprechen. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit trat die SPD mit einem nicht geeigneten Kandidaten an, setzte auf die falschen Themen und redete durch eine quasi-oppositionelle Kampagne ihre Erfolge in der Regierungsarbeit klein. Erst in den Schlussbemerkungen kommt Engels kurz auf einige dieser Wahlkampffehler zu sprechen.

Die fünf Beiträge über den Wahlkampf und das Abschneiden einzelner Parteien bei der Wahl folgen keiner einheitlichen Systematik und bringen keine Erkenntnisse, die über das zuvor Gelesene hinausgingen. Der von Tim Geiger verfasste Aufsatz über die CDU in der Parteien- und Koalitionsgeschichte mag für historisch interessierte Leser von Belang sein, zur Spezifik der Bundestagswahl 2017 trägt er wenig Erhellendes bei. Gerade von einem historisch ausgerichteten Beitrag hätte ich mir eine vergleichende, systematische Analyse der CDU/CSU-Wahlergebnisse in der Regierungszeit Angela Merkels erhofft. Es trifft natürlich zu, dass die Union 2017 gegenüber der vorangegangenen Wahl Einbußen von fast zehn Prozentpunkten zu verzeichnen hatte. Das erklärungsbedürftige Phänomen ist aber eher das außergewöhnlich gute Abschneiden bei der Bundestagswahl 2013, während das des Jahres 2017 für die Ära Merkel sich mehr oder weniger normal darstellte. Nicht nur in Anbetracht der scharfen Kritik prominenter Vertreter des konservativen Parteiflügels an Merkel wäre eine tiefergehende Analyse des Niedergangs einer großen Volkspartei am Platze gewesen. Bei den ersten beiden Wahlen, in denen Helmut Kohl als Spitzenkandidat antrat, erzielte die Union nahezu 49 Prozent, bei seiner letzten Kandidatur waren es, bei verändertem Wahlgebiet, noch 35 Prozent. Die Vergleichsdaten für Merkel lauten 35 gegenüber 33 Prozent.

Eine historische Perspektive auf die für die Bundestagswahl 2017 typischen Probleme nimmt auch Daniela Münkel in ihrem knappen Beitrag über die SPD ein. Sie skizziert den Weg der SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei und ihr damit verbundenes Hineinwachsen in die Rolle einer Kanzlerpartei. Im Mittelpunkt der Analyse der Situation der SPD im Jahr 2017 stehen die bereits in früheren Beiträgen beschriebenen Probleme der Partei, der Wählerschaft überzeugende programmatische und personelle Angebote zu unterbreiten.

Der Essay von Ulrich Berls über die CSU widmet sich vor allem den Konflikten zwischen den beiden Unionsparteien, den er als Geschichte der Entfremdung zwischen der Kanzlerin und der CSU thematisiert. In diesem Kontext stellt der Autor die Konflikte zwischen Merkel und Seehofer ausführlich dar, klammert aber die Frage nach dem Beitrag von Seehofers Verhalten zum schlechten Wahlergebnis beider Unionsparteien aus.

Einen gut gelungenen, klar strukturierten und theoretisch fundierten Beitrag über den Wahlkampf und das Wahlergebnis der Grünen steuern Sebastian Bukow und Elias Koch bei. Zunächst skizzieren sie die Ausgangslage der Grünen bei der Bundestagswahl 2017 und ordnen das Wahlergebnis in die langfristige Entwicklung der politischen Stimmungslage ein. Sie arbeiten den schwer zu erklärenden Widerspruch zwischen dem in der ersten Jahreshälfte 2017 einsetzenden Aufwärtstrend der Partei in Umfragen und den schlechten Wahlergebnissen bei den meisten Landtagswahlen im Vorfeld der Bundestagswahl heraus. Anschließend behandeln sie die Entscheidungen der Partei über die Spitzenkandidaten und die Themenschwerpunkte des Wahlkampfes. Erwähnung verdient es, dass die Grünen erstmals mit zwei dem Realo-Flügel zuzurechnenden Spitzenkandidaten den Wahlkampf bestritten. Wie die Autoren richtig feststellen, blieb das Ergebnis der Grünen hinter den Erwartungen zurück und konnte nur das erste und bescheidenste von drei Wahlzielen (Sicherung des Wiedereinzugs in den Bundestag, Eigenständigkeit, zentrale Rolle für die Regierungsbildung) erreichen. Gleichwohl ebnete die Teilnahme an den Sondierungsgesprächen über die Bildung einer Jamaika-Koalition aus heutiger Sicht den Weg in eine Regierung, die nicht auf das linke Lager beschränkt ist.

Ein kurzer Beitrag von Gero Neugebauer behandelt das Dauerdilemma der Linken, ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen dem Agieren als Opposition gegen das politische System der Bundesrepublik und der Position einer linken Reformpartei mit potenzieller Regierungsbeteiligung. Der Autor schließt die auf der Landesebene gesammelten Erfahrungen mit den Modellen der Tolerierung einer linken Minderheitsregierung und die aktive Beteiligung an einer Regierungskoalition in seine Darstellung und Diskussion der bundespolitischen Perspektiven der Partei ein. Er zeigt, dass trotz des Auslotens der Modalitäten einer Regierungsbeteiligung der eingangs beschriebene Schwebezustand bis heute fortbesteht.

Im abschließenden Kapitel erörtert Frank Decker den mühsamen Weg zur Neuauflage der Großen Koalition. Er beschreibt die Bedingungen, die der Union zur Bundestagswahl 2017 erneut einen Vorsprung vor der SPD verschaffte. Aufgrund ihrer klaren Wahlniederlage gab es für die SPD wenig Anreize für eine erneute Übernahme der Position eines Juniorpartners in der Regierung. Der Einzug der AfD in den Bundestag brachte eine zusätzliche Komplizierung der Situation, weil in einem Sechs-Parteien-Parlament nur zwei realistische Optionen für eine Regierungsbildung verblieben, eine Jamaika-Koalition und eine Wiederauflage der Großen Koalition. So entstand auf Druck des Bundespräsidenten nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen ein ursprünglich weder von der Union noch von der SPD gewünschtes Regierungsbündnis der beiden geschrumpften Großparteien.

Es ist generell nicht leicht, ein Gesamturteil über die Qualität von Tagungsbänden zu fällen. Anders als Herausgeberbände über ein klar umrissenes Forschungsthema liegt ihnen nur selten eine schlüssige Konzeption zugrunde, die von allen Autor*innen gleichermaßen umgesetzt wird. Dieses Problem zeigt sich auch in dem hier besprochenen Band, dessen Aufbau nur bedingt überzeugt und dessen Einzelbeiträge von unterschiedlicher Qualität sind. Das Fehlen einer Einleitung, die die Zielsetzung des Bandes verdeutlicht und ihn in den Kontext der Wahl und Parteienforschung eingeordnet hätte, verschärft dieses Manko. Die Intention, den Wahlkampf aus der Sicht von Wissenschaftlern und Praktikern beleuchten zu lassen, halte ich für grundsätzlich sinnvoll, allerdings sind die betreffenden Beiträge von unterschiedlicher Relevanz und Qualität.

Enttäuschend fällt der Teil über den Wahlkampf und die Wahlergebnisse der Parteien aus. Einer der größten Mängel besteht im Fehlen von Beiträgen über die beiden bei der Wahl erfolgreichen Parteien, die AfD und die FDP. Nicht weniger irritiert die enorme Heterogenität der Beiträge. Entweder wurden den Autoren keine Wünsche für die Strukturierung und Schwerpunktsetzung übermittelt oder die betreffenden Vorgaben wurden nicht umgesetzt. Der Beitrag Geigers über die CDU beschränkt sich auf die Beschreibung historischer Abläufe, statt auszuleuchten, wie sich der Wahlkampf und das Wahlergebnis des Jahres 2017 historisch einordnen und erklären lässt. Münkel und Neugebauer versuchen dies in ihren Beträgen zu leisten, wegen der Kürze und Oberflächlichkeit der Beiträge gelingt dies nur ansatzweise. Berls Ausführungen bleiben essayistisch. Nur Bukow und Koch legen eine schöne parteiensoziologische Studie der Rolle der Grünen bei der Bundestagswahl 2017 vor. Für das Verständnis des Ergebnisses der Bundestagswahl 2017 fördert nur der Beitrag von Maurer und Jost neue wissenschaftliche Erkenntnisse zutage. Stoff für Diskussionen liefert der Essay von Storath. Gut gelungen ist auch die Arbeitsteilung zwischen den Beiträgen von Siegel, Heinrich, Merz und Petersen. Die Autoren behandeln einander gut ergänzende Fragestellungen und vermeiden Doppelungen. Der wissenschaftliche Ertrag des Bandes bleibt hinter dem zurück, was ein guter Tagungsband leisten kann. Möglichweise hat dies auch mit dem überraschenden Umstand zu tun, dass sich unter den Autoren nicht ein einziger Vertreter der akademischen Wahlforschung befindet.

 

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