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Zeitenwende unter autoritären Vorzeichen. Russlands Entdemokratisierung und seine äußere Konfliktbereitschaft

03.07.2021
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Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin

Roter PlatzKreml und Roter Platz in Moskau. Foto: Pixabay

 

Erschienen am 3. Juli 2017, zuletzt aktualisiert im April 2021.

Die Zeitenwende in den internationalen Beziehungen ist mit der hybriden Intervention Russlands in der Ost-Ukraine und der Annexion der Krim sowie mit dem offenen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg aufseiten des Assad-Regimes nicht mehr zu übersehen: Die Sicherheitsordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden war und auf partnerschaftliche Kooperation aufgebaut sein sollte, löst sich auf. Die Gewinne, die Russland auf den ersten Blick aus seiner Außenpolitik ziehen kann, deuten eher ein Minusgeschäft an, hat doch der Westen auf den Konflikt mit der Ukraine mit Sanktionen reagiert. In den politikwissenschaftlichen Erklärungsversuchen richtet sich der Blick bei der Suche nach den Motiven direkt auf die Innenpolitik des Landes – in der Fachliteratur wie in den Papieren der Think-Tanks dominiert die These, dass die konfrontative Außenpolitik vor allem der innenpolitischen Stabilisierung des Regimes unter Präsident Putin dienen soll. Verifiziert wird sie in der Analyse Altes Denken statt Neues Russland: Hannes Adomeit rekapituliert entlang von fünf Büchern die innere Entwicklung Russlands und verknüpft diese mit dessen Außenpolitik. Die Autoren der besprochenen Werke sind sich einig, dass Putin einem autokratischen und autoritären Staat ausgeformt hat, der mit der Russisch-Orthodoxen Kirche zusammenarbeitet und im postsowjetischen Raum „eurasisch“, imperialistisch orientiert ist. Dem Moskauer Patriarchat widmen sich Andreas Umland und Christine Borovka. Die Außenpolitik zeigt sich entsprechend als eine anti-westliche, militärisch unterfütterte Großmachtpolitik. In einem SIRIUS-Beitrag analysiert Hannes Adomeit die Innenpolitischen Determinanten der Putin‘schen Außenpolitik ausführlich.

Wolodymyr Iwanov, Pawlo Klimkin und Andreas Umland analysieren die von Präsident Putin im Januar 2020 initiierte Verfassungsreform in ihren weitreichenden Auswirkungen für die russische Bevölkerung sowie für Moskaus Außenpolitik im postsowjetischen Raum.

Die innere Verfasstheit des Landes wird daher in mehreren Beiträgen thematisiert. In der Sammelrezension „Wer steht für Russlands Zukunft?“ stellt Wilhelm Johann Siemers zwei Perspektiven gegenüber: Während der Soziologe Igor Eidman in seinem Buch „System Putin“ das Regime kritisch analysiert, wirbt der Journalist Benjamin Bidder in „Generation Putin“ um Verständnis für die Menschen. Er plädiert auf „kluge Annäherung“ – aber Eidman warnt, dass gerade so die Gefahr besteht, unfreiwillig nur die PR-Strategien des Kremls umzusetzen. Wie real diese Gefahr ist, geht aus dem Beitrag „Transformation mit ungewissem Ausgang“ hervor: In dieser Zusammenschau verschiedener Analyse zeigt sich, dass längst eine neue Elite, die kein Interesse an der Demokratie hat, die Macht übernommen hat. Wie Margareta Mommsen in ihrem Buch zeigt, lässt ein Putin-Syndikat, das die Interresen dieser Elite vertritt, die Institutionen der Scheindemokratie nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Ergänzt wird dieser Blick auf das Land durch die Auswahlbibliografie „Einblicke in ein defektes System. Staat und Regierung in Russland“ sowie die Literaturschau „Russland aus oppositioneller Sicht“. Aus der Zusammenschau dieser Erkenntnisse ist allerdings keineswegs das Fazit zu ziehen, der unter Putin erreichte Status quo werde ewig halten: Trotz Wahlsieg ist die Zukunft offen, wie einige Prognosen anlässlich der russischen Präsidentschaftswahl aufzeigen. Mit dem Phänomen Nawalny beschäftigt sich Andreas Umland. Sein Aufstieg untergrabe das System Putin und berge die Chance auf eine Wiederherstellung von politischem Pluralismus in Russland.

Ein innenpolitisches Spezifikum, das deutlich über die russischen Landesgrenzen ausstrahlt, steht im Mittelpunkt der Analyse „Wahlverwandtschaften der russischen extremen Rechten. Der Neo-Eurasismus, das Putin-System und die Verbindungen nach Westeuropa“. Andreas Umland identifiziert den Einfluss des Neo-Eurasismus als Grund dafür, dass die russische Gesellschaft ungeachtet ihres akklamierten Antifaschismus die wachsende wechselseitige Durchdringung zwischen der extremen Rechten und der russischen Führung akzeptiert. Entstanden sind damit auch Anknüpfungspunkte für die extreme und populistische Rechte in Westeuropa. Umso dringlicher stellt sich die Frage, welche Haltung vor diesem Hintergrund angeraten ist. Als eine schillernde Figur beschreibt Andreas Umland den rechtsextremen Theoretiker Aleksandr Dugin. Dieser habe zwar internationale Medienaufmerksamkeit, jedoch nur geringe akademische Anerkennung außerhalb der antiliberalen Szene erlangt. Dugin bezeichne sich selbst als Begründer des russischen „Neoeurasismus“, dem es um die Schaffung einer noch nie dagewesenen Weltordnung gehe. Der Theoretiker sei zu einer festen Größe sowohl seiner nationalen patriotischen als auch der internationalen rechtsextremen Szene geworden. Er pflege Kontakte nach Österreich und Deutschland, vor allem zur AfD.

Die deutsche Russlandpolitik steht nach wie vor im Zentrum einer Kontroverse zwischen „Russlandverstehern“ und „Russlandkritern“, wie Martin Munke anhand zweier Bücher von Klaus von Beyme und Ilja Kalinin aufzeigt.

Der russischen Außenpolitik sind weitere Beiträge gewidmet: Die bisherige Entwicklung lässt sich anhand der beiden Auswahlbibliografien „Die russische Außenpolitik“ sowie „Eskalierende Sicherheitspolitik. Ausgewählte Kurzrezensionen zur russischen Ukraine-Politik“ nachvollziehen. Unter dem Titel „Kooperieren oder abgrenzen?“ sind ausgewählte Aufsätze und Kommentare zusammengestellt, die überwiegend 2016 frei zugänglich online veröffentlicht worden sind. In diesen Beiträgen wird neben den Grundlagen der russischen Außenpolitik auch das Verhältnis des Landes zum Westen sowie das Engagement im Syrien-Krieg unter Berücksichtigung der Beziehungen zum Iran analysiert. In einem SIRIUS-Beitrag ziehen Tomisha Bino und Joachim Krause zudem eine Bilanz der russischen Militärintervention in Syrien: „Russia changes the game“. Die akutellen russisch-amerikanischen Beziehungen stellt Hannes Adomeit in der Analyse „Erst Euphorie, jetzt Katzenjammer im Kreml“ auf den Prüfstand. In der Sammelrezension „Konkurrenten um eine jeweils andere Integration“ zeigt Wilhelm Johann Siemers auf der Basis der Analysen in den Bänden „Die Beziehungen zwischen der EU und Russland“ und „The European Union and Russia“, warum sich die Beziehungen zwischen der EU und Russland vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise innerhalb kürzester Zeit gravierend verschlechtert haben. Andreas Umland erläutert, wie dennoch „realistische Annexionsnarrative“ in den europäischen Diskurs eingesickert sind und den Anschein erwecken, als wäre die Frage „Inwieweit war Russlands Anschluss der Krim historisch gerechtfertigt?“ nicht völkerrechtlich eindeutig zu klären, sondern tatsächlich offen zu diskutierten.

Andreas Umland vertritt die These, dass die Krim nicht in der russischen Nationalgeschichte tief verwurzelt sei. Seiner Prognose zufolge werde Russland daher immer weniger bereit sein, in einer Zeit, in der das Land zunehmend unter den Auswirkungen der Coronakrise leidet, knappe finanzielle Ressourcen zur Subventionierung der entlegenen Halbinsel aufzuwenden. Die einst populäre Eroberung der Schwarzmeerperle durch den Kreml sei nur ein vorübergehendes Phänomen. Größere Veränderungen der Geopolitik Osteuropas seien erst nach Putin zu erwarten.

Wenig vertrauenserweckend war zudem aus westlicher Perspektive 2017 die Militärübung Zapad, die Russland gemeinsam mit Belrus veranstaltete. Mathieu Boulègue macht in einer SIRIUS-Analyse dazu fünf Anmerkungen mit Blick auf die Botschaften, die damit an die NATO gesendet wurden. Eine ähnliche politische Intention, die vom Westen nicht als Partner, sondern als Gegner ausgeht, erkennt Hannes Adomeit auch in der neuen Marinedoktrin. Wie zerrüttet die Beziehungen tatsächlich sind, wird anhand Moskauer Analysen zur Politik gegenüber dem Westen gespiegelt. Der versuchte Mord an Sergei und Yulia Skripal in Salisbury im März 2018 stellt einen der bisherigen Tiefpunkte dar. In dem SIRIUS-Beitrag „Novičok, die Skripal-Affäre und das Chemiewaffenübereinkommen“ wird der Kontext ausgeleuchtet, der weit über den eigentlichen Anschlag hinausgeht.

Russlands Versuch, die Folgen der Entfremdung vom Westen durch eine strategische Partnerschaft mit China zu kompensieren, wird allerdings voraussichtlich nicht so wie erhofft gelingen, wie in einem Literaturbericht gezeigt wird.

Die kommentierte Übersicht „Im Fokus: Russland und Eurasien“ erlaubt außerdem einen schnellen Zugriff auf Forschungsprogramme, Essays und Berichte der Think-Tanks, die auf Russland kontinuierlich ein besonderes Augenmerk legen.

Schließlich geht der Blick zurück, um die Geschehnisse in der Gegenwart im Kontext der russischen Geschichte verstehen zu können und dabei Brüche wie Kontinuitäten aufzuzeigen. Mit Blick auf das Selbstverständnis, das sich weniger aus der Gesellschaft heraus weiterentwickelt, sondern geschichtspolitisch von der Führung des Landes zu formen versucht wird, ist die Auswahlbibliografie „Stalinismus – Systemumbruch – Geschichtspolitik“ zusammengestellt. Geht die Analyse über die Staatsgrenze hinaus, wird deutlich, dass die einstige Größe als Supermacht teuer erkauft war. Beispielhaft werden hier der Bücher „Polen im Sowjetimperium“ und „Imperial Overstretch“ vorgestellt. In Letzterem zeigt Hannes Adomeit als Quintessenz seiner langen Forschungen den Zerfall des sowjetischen Imperiums, befördert durch die zu hohen politischen wie wirtschaftlichen Kosten, in diesem Fallbeispeil durch die Teilung Deutschlands und die Etablierung der DDR. Im Kontext des politischen Prozesses, der nach dem Mauerfall zur deutschen Einheit führte, räumt er mit dem Mythos auf, der Westen habe einst zugesagt, die NATO nicht nach Osten auszudehnen.

Über das Online-Projekt dekoder.org berichtet Frank Kaltofen. Es ging mit dem Anspruch „Russland entschlüsseln“ daran, das Land dem deutschen Publikum auf neue Weise zugänglich zu machen. „Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung“, so die Selbstbeschreibung von dekoder – vielfältige Texte werden aus dem Russischen ins Deutsche übertragen und eingeordnet. Diese stammen aus staatsfernen russischen Medien. dekoder erschließt seinem Publikum so Informationen über den zivilgesellschaftlichen Diskurs des riesigen Landes.


Anmerkung: Dieser Text wurde urpsrünglich von Natalie Wohlleben verfasst und wird seit Februar 2019 weiter von der Redaktion bearbeitet.

 

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